Fast scheint es so, als wäre der Begriff „Oscar bait“ für die Dramen des Briten Stephen Daldry und deren Rezeption durch Publikum und vor allem Kritik extra erfunden worden. So regte sich vor drei Jahren großer Unmut, als Daldrys Verfilmung von Bernhard Schlinks klassischer Deutschunterricht-Lektüre „Der Vorleser“ in allen wichtigen Kategorien für den Oscar nominiert wurde, während hingegen kommerziell und künstlerisch begeisternde Mainstreamerfolge wie „The Dark Knight“ oder „Wall-E“ bei der Preisverleihung lediglich die zweite Geige spielten. Aus vermeintlichen Ungerechtigkeiten wie dieser resultierte schließlich die mäßig sinnvolle Erweiterung von fünf auf (bis zu) zehn Nominierungen in der Königsdisziplin „Bester Film“.
Nun, drei Jahre später, versammelte Daldry erneut ein „Who is Who“ der gegenwärtigen Filmlandschaft vor und hinter der Kamera, um sich ein weiteres Mal der Umsetzung eines erfolgreichen Romans (von Jonathan Safran Foer, „Alles ist erleuchtet“) zu widmen, der ein bedeutendes zeitgeschichtliches Ereignis thematisiert, jedoch nicht in den Mittelgrund stellt. So handelte „Der Vorleser“ zwar auch vom Zweiten Weltkrieg und den folgenden Kriegsverbrecherprozessen, doch ging es primär um eine ungewöhnliche Liebesbeziehung sowie die Furcht einer Frau vor der Wahrheit bezüglich einer persönlichen Schwäche. „Extrem laut und unglaublich nah“ nimmt sich gut zehn Jahre nach 9/11 den Anschlag auf das World Trade Center als Ausgangspunkt für seine Geschichte, um im Kern jedoch von einer emotionalen und fast lebenswichtigen Schnitzeljagd durch New York City sowie der Trauerarbeit eines ungewöhnlichen elfjährigen Jungen zu erzählen.
Dieser heißt Oskar (Thomas Horn) und hat am 11. September 2001 seinen Vater, gespielt von Tom Hanks, in den Türmen des World Trade Centers verloren. Alles, was ihm blieb, sind die Erinnerungen an einen väterlichen Freund, der sich liebevoll um ihn kümmerte und als einziger Mensch auf diesem Planeten seine Abenteuerlust befriedigen konnte. Ein Jahr nach seinem Tod traut sich Oskar erstmals in die Rumpelkammer des Vaters, zerschlägt dabei versehentlich eine blaue Vase und entdeckt darin einen Briefumschlag, der einen Schlüssel beinhaltet und lediglich mit dem Wort „Black“ beschriftet ist. Da es für jeden Schlüssel auch ein Schloss geben muss und Oskar hinter „Black“ einen Nachnamen vermutet, schnappt er sich die Telefonbücher der Stadt, erstellt Karten und Karteien, und besucht die Blacks von New York, um das Rätsel des geheimnisvollen Schlüssels zu lösen.
Acht Minuten benötigt das Licht von der Sonne bis zur Erde. Wenn die Sonne stirbt, bräuchte es demzufolge ebenfalls acht Minuten, ehe die Erde in ewiger Dunkelheit erstarrt. Das ist es auch, was Oskar antreibt, täglich von früh bis spät durch die Straßen New Yorks zu hetzen, seinem späteren Begleiter dabei nur äußerst ungern Verschnaufpausen zu gönnen, Menschen aller Couleur zu befragen und zu fotografieren, ihnen sein eigenes Schicksal zu offenbaren und an dem ihrigen teilzuhaben. Natürlich fürchtet Oskar nicht das Ende allen menschlichen Lebens, doch umtreibt ihn die Sorge, dass die schönen Erinnerungen an seinen Vater verblassen. Jenes eine Jahr nach dessen Tod könnte ein solcher Zeitpunkt sein. Von der Suche nach dem passenden Schloss erhofft sich Oskar etwas, das diese Erinnerungen für immer am Leben hält.
Anders als etwa Hugo Cabret im gleichnamigen Film von Martin Scorsese zeichnet Daldry seinen Protagonisten als jemanden, mit dem es sich nicht immer leicht aushalten lässt. Oskar scheint unter einer Form von Autismus und zwanghaftem Verhalten zu leiden. Konkret äußert sich dies in seiner Unfähigkeit, soziale Kontakte mit gleichaltrigen Kindern zu knüpfen sowie Kummer und Leid anderer Menschen erkennen zu können, diese andererseits aber auch ständig küssen und umarmen zu wollen. Zudem fürchtet sich Oskar vor großer Lautstärke, Menschenansammlungen und öffentlichen Transportmitteln. Widerwillig muss er später die U-Bahn nutzen, allerdings nur in Begleitung einer Atemschutzmaske. Szenen wie diese legen den Schluss nahe, dass einige seiner Neurosen und Phobien nicht angeboren sind, sondern auf dem persönlichen Trauma durch 9/11 sowie der kollektiven Paranoia im Anschluss an den „schlimmsten Tag“, wie Oskar ihn nennt, beruhen. Die Ängste vor Lautstärke und (körperlicher, emotionaler) Nähe – der Filmtitel scheint diese widerzuspiegeln.
Gleichzeitig ist Oskar intelligent und hochbegabt. Und wie das so ist mit Intelligenz, artet diese ganz fix in Klugscheißerei und überhebliche Arroganz aus, wovon man im Fall von Oskar nicht nur ein Lied singen, sondern gleich ein ganzes Album aufnehmen könnte. Selbst seine Mutter, gespielt von Sandra Bullock, lässt er ihre vermeintliche geistige Unterlegenheit und Einfältigkeit spüren. Ein autistischer, hochbegabter, andere Menschen quälender kleiner Junge, der beim Versuch, seine persönliche Trauer zu überwinden, das Abenteuer seines Lebens bestreitet, ist über mehr als zwei Stunden manchmal nur schwer zu ertragen. Wenn er schreiend neben einem Zug herrennt oder einem Taxi hinterher blickt, in dem eine bestimmte Person davonfährt, und dann auf offener Straße in die menschenleere Nacht hineinredet, dann sind das Szenen von hoher symbolischer Kraft, die jedoch in erster Linie dem Baukasten für plumpe Charakterzeichnung in der Standardausfertigung entspringen.
Überflüssige Szenen wie diese finden sich im Prinzip viele. In der Regel ist es jedoch die meisterhafte, kraftvolle Handschrift von Stephen Daldry, welche die Schwächen im Drehbuch ausmerzt. So gut wie in vielleicht keinem seiner drei vorherigen Filme versteht es der Regisseur, das Schmerzhafte und das Hoffnungsvolle, die kleinen Gesten und die großen Worte, das Banale und das Weltbewegende zusammen in ein Bild zu rücken. Als Oskar einem Fremden mehrere Minuten lang seine Lebensgeschichte offenbart und dabei immer ekstatischer wird, droht auch dieser wichtige Moment unter der Last seiner Bedeutung zu ersticken, würde nicht Daldry mit sicherer Hand etwas schaffen, was in seiner Intensität fast an Edward Nortons berühmte „Fuck you“-Szene erinnert – nicht zuletzt, weil NYC auch hier Schauplatz des Geschehens ist. Und genau wie in Spike Lees „25 Stunden“ wirken diese Stadt und ihre unzähligen namenlosen Menschen ein Jahr nach den Attentaten, aufgeladen mit Schmerz und Zuversicht, Schönheit und Abgründen, wie ein weiterer Charakter.
Von vielen Filmkritikern bekam Daldry den Vorwurf zu hören, er würde sein Publikum manipulieren. Stellt sich die Frage, worin sich dieses manipulative Element zeigt. Natürlich legt es Daldry ganz offensichtlich darauf an, seinen Zuschauern in der letzten halben Stunde die Tränen in die Augen zu treiben. Aber welcher Filmemacher würde das mit einem Stoff wie diesem nicht beabsichtigen? Was Daldry von anderen unterscheidet ist einzig die wenig subtile Vorgehensweise. So hat Oskars Vater kurz vor seinem Tod sechs Nachrichten auf dem heimischen Anrufbeantworter hinterlassen, deren Inhalt jedoch nur Oskar selbst, sonst niemand, auch nicht der Zuschauer, kennt. Dabei scheint insbesondere die letzte Mitteilung ein böses Geheimnis zu bergen, welchem man in einer Art Nebenhandlung mit zunehmender Dauer näher kommt. Dieser Dramaturgie liegt natürlich die Absicht zugrunde, das Publikum mit der gut vorbereiteten Enthüllung ins tiefe Tal der Tränen zu stürzen. Doch obwohl man das Wesen dieses letzten Lebenszeichens von Oskars Vater erahnt, hält es eben doch noch eine unangenehme Überraschung parat, die einen mit voller Wucht trifft. Das ist natürlich genau so beabsichtigt, funktioniert in der Ausführung aber eben auch ganz wunderbar. Das Manipulative daran, insbesondere inwiefern es sich von anderen Filmen dieses Sujets unterscheidet, ist nicht zu erkennen.
Vielleicht übertreibt es Daldry am Ende ein wenig. Da erhält jeder Charakter seine Katharsis und sämtliche irgendwann mal aufgenommenen Handlungsfäden gehen in großen Emotionen auf. Dadurch droht sich der Film ein Stück weit unglaubwürdig zu machen, doch andererseits entfalten all diese Szenen eben doch die beabsichtigte Wirkung. Einige namhafte Darsteller wie Viola Davis und Jeffrey Wright, die bis dahin fast verschenkt wirkten, können so noch bleibenden Eindruck hinterlassen, nachdem zuvor lediglich Max von Sydow als stummer und (wenig) geheimnisvoller Fremder brillieren und seine Oscar-Nominierung für diese Rolle rechtfertigen durfte. Auch Sandra Bullock, die nach ihrem Doppelerfolg mit „Blind Side“ und „Verrückt nach Steve“ (Oscar und Goldene Himbeere binnen 24 Stunden) für zwei Jahre von der Bildfläche verschwunden war, scheint zunächst nicht viel mehr als eine Mutter zu spielen, deren Sohn sich ihren Tod wünscht. Doch am Ende gewinnt der Film auch ihrem Charakter eine vollkommen neue, vollkommen unerwartete Facette ab. Wie so vieles in diesem Film ist auch das nicht zwingend glaubwürdig, aber zutiefst menschlich. Man muss schon ein ziemlicher Zyniker sein, um Daldry aus all seiner Zuversicht, die er mit diesem Film verströmt, einen Strick drehen zu wollen.
Handelt es sich bei „Extrem laut und unglaublich nah“ nun um klassisches „Oscar bait“? Wenn man diesen Begriff und die damit verbundenen Assoziationen verwenden möchte, dann sicherlich. Und wird die Academy Ende Februar anbeißen? Max von Sydow wäre der Goldjunge zu wünschen, dem Film selbst eher weniger. So bewegend und großartig das alles inszeniert, gespielt, bebildert (Chris Menges) und vor allem auch musikalisch untermalt (Alexandre Desplat) ist, so sind die Schwächen doch zu offensichtlich. Die Dramaturgie ist durchschaubar, einzelne Szenen sind schlicht nervtötend und die letzten 30 Minuten wurden auf den großen Tränenfluss hin konstruiert. In Anbetracht dessen, dass Daldrys viertes Werk auch unter diesen eigentlich suboptimalen Vorzeichen über weite Strecken ganz hervorragend funktioniert, mag dies ein Jammern auf hohem Niveau sein. Ein offiziell „Bester Film“ des Jahres ist „Extrem laut und unglaublich nah“ aber nicht. Nicht dieses Jahr.
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