Machen wir's kurz: Seit ihrem Debüt "Toy Story" 1995 haben die Pixar Studios quasi im Alleingang für jeden neuen Meilenstein im Animationsgenre verantwortlich gezeichnet, mit bombastisch erfolgreichen Geniestreichen wie "Findet Nemo" und "Die Unglaublichen" die Konkurrenz immer wieder vor Neid erblassen lassen, und sich schließlich mit "Ratatouille", dem vielleicht besten Film des letzten Jahres, zu einem in allen Belangen derart brillanten Höhepunkt aufgeschwungen, dass man sich in der Tat fragen konnte: Wie soll das noch zu toppen sein? Die Antwort heißt "WALL-E", mit dem Pixar die gängigen Pfade des Animationsgenres weit hinter sich lässt, einen wagemutigen Schritt zur Science Fiction macht und ein atemberaubendes Meisterwerk vorlegt, das - um das alte "Star Trek"-Motto zu zitieren - in Galaxien vordringt, die nie ein Animationsfilm zuvor gesehen hat.
Mooooment, mag da manch ein Filmkenner sagen. Science Fiction als Animationsfilm, das haben die Japaner schon in rauen Mengen gemacht, und auch die Amis haben es schon ein paar Mal versucht, siehe zum Beispiel "Der Schatzplanet", "Titan A.E." oder "Final Fantasy". Aber: Mit "WALL-E" gelingt es zum ersten Mal, sowohl eine anspruchsvolle und tiefsinnige Science Fiction-Geschichte zu erzählen (die den Film nebenbei bemerkt auch zu einem herausragenden Vertreter dieses Genres macht), als auch den klassischen Tugenden des Animationsfilms treu zu bleiben - nämlich mit einer "für die ganze Familie" zugänglichen Handlung aufzuwarten und das Ganze mit einer ordentlichen Portion Komik zu versehen. Dazu erzählt "WALL-E" auch noch eine rührende Liebesgeschichte zwischen zwei Charakteren, die weder ein richtiges Gesicht haben, noch sprechen können. Und das alles in einem einzigen Film. Geht nicht? Oh doch.
Schon allein die Grundprämisse von "WALL-E" ist so faszinierend wie schon lange keine Filmidee mehr: Was wäre, wenn die Menschheit die Erde verlassen musste und irgendwer vergessen hat, den letzten Roboter abzuschalten? Und der tut dann einfach stur weiter, worauf er programmiert wurde. Im Falle des Titelhelden ist das, Müll zu sammeln und zu stapelbaren Würfeln zusammen zu pressen, entsprechend seines Namens: "Waste Allocation Load Lifter Earth-class" - kurz WALL-E. Denn die Menschheit hat, als Folge einer völlig aus der Bahn geratenen Konsumgesellschaft, den ganzen Planeten (plus Stratosphäre) so sehr vollgemüllt, dass man schließlich aufgegeben und ihn verlassen hat. So stapelt WALL-E nun seit hunderten von Jahren die Müllwürfel -gedanklich kaum vorstellbar, aber bereits in der ersten Filmminute auf so atemberaubende Weise visuell verdeutlicht, dass einem zum ersten Mal der Mund offen stehen bleibt. Was in den folgenden 100 Minuten noch sehr häufig passieren kann. WALL-E würde wohl noch weiterstapeln bis er auseinander fällt, mit seiner Faszination für die interessanten Kleinigkeiten im Müll der Menschheit als einzige Abwechslung. Wenn nicht eines Tages ein anderer Roboter auf der Erde auftauchen würde: EVE (Extra-terrestrial Vegetation Evaluator).
Viel mehr mag man an dieser Stelle eigentlich gar nicht verraten, nur so viel: WALL-E verliebt sich in EVE (was Liebe ist und wie sie aussieht, hat er dank einer Videocassette eines alten Filmmusicals gelernt), und sie ist auch der Grund warum er die Erde verlässt und auf die Reste der Menschheit trifft. Wie die inzwischen lebt und wie es dazu gekommen ist, das ist in seiner Konzeption ebenso genial wie in seiner Präsentation unfassbar komisch. Und weil es solch eine große Freude ist, das unvorbereitet und mit blankem Staunen zu entdecken, soll dazu auch gar nicht mehr gesagt werden. "WALL-E" leistet hier jedenfalls das, was jede wirklich großartige Science Fiction-Geschichte auszeichnet: Dass sie eben nicht in einer weit, weit entfernten Galaxis ohne jeden Bezug zur Realität spielt, sondern in ihren Vorstellungen der Zukunft immer und vor allem unser Hier und Jetzt reflektiert. Große Science Fiction sagt nicht etwas über die Zukunft aus, sondern über die Gegenwart. Und genau das tut "WALL-E".
Nicht weniger bewunderns- und bestaunenswert ist die Meisterung der erzählerischen Herausforderungen, die sich die Pixar-Crew (hier vor allem Regisseur und Co-Autor Andrew Stanton, der bereits für "Findet Nemo" hauptverantwortlich war) für ihren Film selbst gesetzt hat. Fast schon unglaublich der Mut, WALL-E nahezu ohne Gesichtszüge zu entwerfen - selbst seine Augen fallen als Ausdrucksmittel größtenteils weg. Alles, was er hat, ist seine Körpersprache und eine knarzige "Stimme", die kaum mehr als ein paar einfache Laute sowie den eigenen Namen (und natürlich den der geliebten EVE) hervorbringen kann. Diese zwei Worte bilden dann auch fast den gesamten Dialog der beiden zentralen Figuren dieses Films, der ergo über weite Strecken komplett sprachlos bleibt. Und trotzdem haben Andrew Stanton und Co. es geschafft, dass man WALL-E sofort ins Herz schließt, mit ihm leidet und ihn in jeder Situation verstehen kann - das Ergebnis einer 103-minütigen Lehrbuch-Lektion in filmischem Erzählen. Man merkt es fast nicht, weil man sofort in den Film hinein gezogen und derart mitgerissen wird, aber was hier mit den Mitteln des Kinos angestellt und ohne ein einziges Wort vermittelt wird, das allein verdient in seiner Brillanz eine Nominierung für den Drehbuch-Oscar. Mindestens.
Man könnte lange und ausführlich weiter schwärmen über die fantastische Detailarbeit, die unzähligen kleinen Ideen, die im Hintergrund lauern und oft im Sekundenbruchteil vorbei huschen, dass man sie fast verpasst (und umso mehr die DVD herbei sehnt) oder über die Animationen, die in ihrer Realitätsnähe gerade in der ersten halben Stunde jede CGI-Zauberei "echter" Science Fiction-Filme in den Schatten stellen. Kurz: über all das, womit sich Pixar schon immer in jedem Film aufs Neue selbst übertroffen hat. Oder man könnte an dieser Stelle einfach schweigen, und nur jedem raten, ins Kino zu gehen und sich selbst davon hinwegfegen zu lassen.
Und als ob das alles noch nicht genug wäre, gibt es hier nicht nur wie immer bei Pixar einen Vorfilm, sondern mit dem brüllend komischen "Presto" wiederum den besten, den das Studio je hervor gebracht hat. Der darf nächstes Jahr gerne den Kurzfilm-Oscar gewinnen, für "WALL-E" fordern wir allerdings jetzt schon eine Nominierung als bester Film des Jahres. Die Animations-Kategorie ist für diesen Film einfach zu "klein".
Dieser Rezensent kann sich jedenfalls nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal über die gesamte Länge eines Films derart gebannt auf die Leinwand gestarrt hat, immer wieder mit offenem Mund staunend, was sich da abspielte, keine Minute wissend, was ihn als nächstes erwarten würde, und völlig gefangen genommen von der unglaublichen neuen Welt, die da vor seinen Augen entstand. Ein Gefühl, wie man es als Kind im Kino hatte. So etwas passiert selten. Sehr selten. So selten, dass Pixar jetzt aber wirklich nicht mehr besser werden kann. Wir freuen uns jetzt schon auf den Gegenbeweis.
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