Als vor einem Monat die Nominierungen für den Oscar bekannt gegeben wurden, und Stephen Daldrys "Der Vorleser" als "Bester Film"-Kandidat auftauchte, da war die Verwunderung durchaus groß. "The Dark Knight", "WALL-E", "Glaubensfrage", "The Wrestler", "Zeiten des Aufruhrs" oder auch die beiden diesjährigen Beiträge von Clint Eastwood - sie alle mussten den Kürzeren ziehen. Was zunächst wie eine mittelgroße Überraschung anmutet, zumindest wenn man mal ganz naiv einzig die Qualität eines Werkes als Nominierungs-Kriterium betrachtet, ist im Endeffekt jedoch vor allem eins: der verdiente Lohn.
"Der Vorleser", basierend auf dem 1995 von Bernhard Schlink veröffentlichten Roman, der Weltbestseller und Standard-Schullektüre wurde, ist einer dieser Filme, die von schicksalhaften Begegnungen erzählen. Davon, wie sehr diese Begegnungen das Leben von Menschen verändern und fortwährend prägen können, mit guten wie auch schlechten Einflüssen.
Kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges nimmt das Schicksal seinen Lauf. Michael (David Kross, "Knallhart", "Krabat") geht noch zur Schule. Eines Tages wird ihm während einer Bahnfahrt übel. Er verlässt den Zug, rennt in einen Hauseingang und übergibt sich. Eine Frau, Hanna (Kate Winslet), die etwa 20 Jahre älter ist als er, wird auf ihn aufmerksam und kümmert sich um ihn. Als Michael wieder gesund ist, besucht er Hanna mit einem Strauß Blumen, um sich bei ihr zu bedanken. Es wird nicht sein letzter Besuch bleiben. Zwischen Hanna und dem Jungen, wie sie ihn immer nennt, entwickelt sich eine leidenschaftliche Affäre.
Zu diesem Zeitpunkt erzählt "Der Vorleser" von einer Liebe, die es - auch zu heutiger Zeit - nach moralischem und juristischem Verständnis eigentlich nicht geben dürfte. Jeden Tag nach der Schule besucht Michael Hanna. Sie werfen ihre Kleidung ab und haben Sex. Dann liest er ihr vor, zum Beispiel Homers "Odyssee". Sie unterhalten sich nicht viel. Vor allem die Vergangenheit von Hanna bleibt komplett im Dunkeln. Sie wirkt vom Leben gezeichnet, ist distanziert und jede Freude scheint aus ihr entwichen zu sein. Doch eines Tages ist sie weg. Ohne irgendeine Form des Abschieds hat sie ihre Wohnung verlassen; kein Mensch kann Michael sagen, wo sie ist. Erst Jahre später, er studiert mittlerweile Jura, wird er sie wieder treffen.
Das Besondere an Bernhard Schlinks Roman, beziehungsweise Stephen Daldrys ("Billy Elliot" , "The Hours") Verfilmung, ist nicht nur die hervorragende Figurenzeichnung und Darstellung der Beziehung, die zwischen Michael und Hanna entsteht, sondern auch die enorme Vielschichtigkeit. Zunächst mutet es wie eine gewagte Geschichte über eine verbotene Liebe an, die diverse Hindernisse zu überwinden hat, und tief greifende Erkenntnisse zu Tage fördert. Ohne Vorwarnung endet dieser Handlungsstrang jedoch abrupt, nur um etwas später wieder aufgenommen zu werden, dann jedoch eingebettet in einen viel größeren Kontext.
Plötzlich tritt eine Thematik in den Vordergrund, die einem Film, der ohnehin schon genügend Ballast mich sich herum trägt, nochmals zusätzliche Brisanz verleiht. In einer Zeit der Verdrängung der Ereignisse im Nationalsozialismus müssen Verbrechen aufgearbeitet und bestraft werden. Hanna ist in eben diese Verbrechen verstrickt. Ein Wiederaufleben der Beziehung mit Michael scheint diese Tatsache unmöglich zu machen. Aber darum geht es eigentlich auch nicht mehr. Es geht um Fragen wie die, wie viel Schuld man bereit ist auf sich zu nehmen, nur um menschliche Fehler, derer man sich schämt, nicht offen legen zu müssen. Es geht auch um ambivalente Gefühle, denn Michael trifft nun auf eine Frau, die so anders ist als die Frau, die er geliebt hat. Für die er Verachtung empfindet, aber auch Mitleid. Die er dafür hasst, dass sie ihn zurückgelassen hat, die er aber auch nie aufgehört hat zu lieben. Wegen der er nie eine gesunde Beziehung zu einer anderen Frau aufbauen konnte.
"Der Vorleser" lässt sich nicht nur aufgrund der Schwerpunkte, die er setzt, recht gut in zwei Teile gliedern. Zunächst haben wir es vor allem mit wirklich großem Schauspieler-Kino zu tun. David Kross knüpft nicht nur an seine überzeugende Leistung in Detlev Bucks "Knallhart" an (und macht seinen etwas enttäuschenden Auftritt in "Krabat" damit vergessen), sondern verdient zudem eine Menge Respekt, eine solche Rolle überhaupt zu spielen. Doch obwohl Kross hier gewisse Ansprüche untermauert, als größtes deutsches Nachwuchs-Talent gelten zu dürfen, steht seine Darbietung ganz klar im Schatten dessen, was Kate Winslet hier auf die Leinwand zaubert.
Ohne Wenn und Aber: den Oscar hat sie sich mit der vielleicht besten Leistung ihrer bisherigen Karriere definitiv verdient. Vollkommen zurecht wurde sie auch für diese Rolle ausgezeichnet und nicht für ihre April Wheeler in "Zeiten des Aufruhrs". So - ja, nennen wir es ruhig so - hässlich hat man Kate Winslet noch nicht gesehen. Natürlich auch rein äußerlich gesehen, aber damit ist auch ihr Inneres gemeint, welches sie auf beeindruckende Art und Weise mit ihren Blicken nach außen trägt. Schaut man sich den Weg an, den Kate Winslet seit "Titanic" gegangen ist, so kann man nur den Hut ziehen. Zugetraut hätten ihr das sicher nicht allzu viele. Doch sechs Oscar-Nominierungen und - man muss es einfach noch einmal wiederholen - der mehr als verdiente Gewinn sprechen nun eine eindeutige Sprache. Es ist der Triumph der vielleicht besten englischsprachigen Schauspielerin ihrer Generation.
Ist es in der ersten Hälfte vor allem die famos aufspielende Kate Winslet, die die Qualität des "Vorlesers" hebt, so sind es später einige denkwürdige, grandios konstruierte Momente, die die Nominierung für den Besten Film ebenso vollkommen rechtfertigen wie die für das Drehbuch und die Regie. Michaels Wiedersehen mit Hanna, seine enormen und nachvollziehbaren Schwierigkeiten mit der Situation umzugehen, die Entscheidungen, die er treffen, und die Erkenntnisse und bitteren Wahrheiten, die er verdauen muss - all das zieht den Zuschauer unweigerlich in seinen Bann.
Es ist aber auch ein gutes Stück weit die Bitterkeit gegenüber diesem Film. Denn "Der Vorleser" ist kein schöner Film, in dem Sinne, dass er Freude verbreitet. Den Kinosaal wird man nicht mit einem Lächeln verlassen. Wer ganz besonders für Stimmungen empfänglich ist, der kann unter Umständen gleich den kompletten Tag abschreiben. Nein, es gibt nur wenig Positives zu entdecken. Ein kaputtes Leben ruiniert ein anderes, und das gar nicht mal beabsichtigt. Die letzte Begegnung zwischen Michael (als Erwachsener großartig dargestellt von Ralph Fiennes) und Hanna tut richtig weh. Sie hat etwas unglaublich Desillusionierendes und bekräftigt, wie leicht die Gefühle eines Menschen zu verletzen sind, wie schwer der Umgang miteinander sein kann und wie entsetzlich die Erkenntnis ist, dass ein glückliches Leben verschenkt wurde und am Ende die Frage steht: Wofür eigentlich? Es ist eine dieser kurzen Szenen, in denen kaum gesprochen wird, in denen aber mehr passiert als in vielen anderen Filmen über die komplette Dauer.
Ist "Der Vorleser" ein Film zum Heulen? Oh ja. Wo "Der seltsame Fall des Benjamin Button" oder "Milk" noch Kraft schenken, schlägt dieser Film eher in die Kerbe von "Zeiten des Aufruhrs" und hinterlässt Trostlosigkeit und Depression. Es ist extrem gut gespielt, es ist mit verdammt viel Gespür für den richtigen Ton inszeniert, und es muss wohl einfach als ein Stück Kino genommen werden, das nur eine minimale frohe Botschaft bereit hält: Manchmal muss es ausreichend sein, am Ende eines verkorksten Lebens mit sich selbst ins Reine zu kommen. Das ist nicht gerade viel. Aber diesen Film macht es tatsächlich zu einem der Besten seines Jahrgangs.
Neuen Kommentar hinzufügen