
Es ist ein fast märchenhafter Erfolg und die größte Comeback-Geschichte des vergangenen amerikanischen Kino-Winters: Sandra Bullock, seit ihrem letzten großen Erfolg "Miss Undercover" aus dem Jahre 2000 auf dem stetigen Karriereabstieg begriffen, der jede Hollywood-Darstellerin rund um das 40. Lebensjahr ergreift, fuhr mit "The Blind Side" ein US-Kasseneinspiel von über 220 Millionen Dollar ein (was ihn angeblich zum erfolgreichsten Film aller Zeiten mit einer Hauptdarstellerin über 40 macht) und bekam auch noch eine Golden Globe-Nominierung spendiert - die für den Oscar dürfte folgen. Und das alles für einen Film, der die märchenhafte Aufstiegsgeschichte des bärig-bulligen Footballspielers Michael Oher erzählt. Wie geht das zusammen, Sandra Bullock und Football?
So geht das: Michael Oher war eines von zwölf Kindern einer Crack-süchtigen Mutter, pendelte während seiner Kindheit zwischen Waisenhäusern, Pflegefamilien und Obdachlosigkeit hin und her und blieb aufgrund mangelnder Umsorgung bis ins Teenageralter auf dem geistigen Entwicklungsniveau eines Kindes hängen. Ein scheinbar hoffnungsloser Fall, aber gesegnet mit einem einmaligen Talent: Obwohl von sehr großer und sehr breiter Statur, verfügte Oher über eine erstaunliche Agilität und Schnelligkeit, eine seltene Kombination, die ihn prädestinierte für die im Football extrem wichtige Position des "Left Tackle". Das ist der Bursche in der Offensivlinie eines Football-Teams, der die titelgebende "blinde Seite" des Quarterbacks beschützt, nachdem der den Ball aufgenommen hat und sich passbereit halb nach rechts dreht - und so nicht mehr sieht, was sich zu seiner linken, in seinem Rücken tut. Ein sowohl flinker als auch bärenstarker "Left Tackle" ist in der Lage, den Quarterback vor allen heranstürmenden Verteidigern zu schützen, die ihm ans Leder wollen.
Dieses besondere Talent von Michael Oher hatte zufällig auch der Football-Coach einer christlichen, fast komplett "weißen" High School in Memphis, Tennessee, entdeckt und dafür gesorgt, dass der Junge auf der Schule aufgenommen wurde. Aufgrund seiner quasi nicht existenten akademischen Leistungen war Oher jedoch nicht spielberechtigt und schien aus der Sackgasse seiner Lebensumstände nicht herauszukommen. Bis zum Auftritt von Leigh Anne Tuohy.Diese Dame ist ein Paradebeispiel für die ikonenhafte Gestalt der Südstaaten-Schönheit: Als ehemalige Cheerleaderin heiratet sie ihre große Jugend-Liebe, den ehemaligen College-Basketball-Star Sean Tuohy. Der erweist sich als großartiger Geschäftsmann, macht als Eigentümer von Dutzenden von Fast-Food-Restaurants ein Vermögen, und lebt mit seiner Angetrauten und zwei Kindern aus dem Bilderbuch ein absolutes Vorbildleben in der von guten christlichen Werten durchsetzten, besseren Gesellschaft von Memphis. Leigh Anne Tuohy war es nun, die eines Tages auf Michael Oher aufmerksam wurde, den Jungen unter ihre Fittiche nahm und ihm den Weg bahnte zu besseren Schulnoten, den Grundlagen seiner Football-Karriere und einem intakten Familienleben, da die Tuohys Michael schließlich adoptierten.
Diese Leigh Anne Tuohy ist es nun, die von Sandra Bullock in "The Blind Side" gespielt wird, und sie ist die klare, die alleinige Heldin dieses Films. Es mag hier an sich um Michael Oher und seinen märchenhaften Aufstieg aus der Gosse zum Football-Helden gehen, aber die Geschichte, die "The Blind Side" erzählt, ist die seiner Schutzheiligen Leigh Anne. Diese aufrichtige, moralische, von christlichen Grundwerten der Nächstenliebe gelenkte Grande Dame von Memphis, die mit ihrem Einsatz und dem unerschütterlichen Zusammenhalt ihrer Familie diesem armen Jungen ein Leben und eine Karriere ermöglichte, die ihm sonst verwehrt geblieben wären. Es ist eine Geschichte fast zu schön um wahr zu sein, und genau so erzählt sie "The Blind Side" auch. Dies ist ein sehr amerikanischer Film, und die absolut unironische Art und Weise, mit der hier Familienwerte und christliche Moral propagiert werden, lässt erahnen, warum der Film in den USA zu solch einem gigantischen Erfolg wurde. Dies ist der absolute "feel good movie" für die idealistischen Grundwerte der Südstaaten-Aristokratie, von einem komfortabel hohen Ross herunter gepredigt, ein Manifest für unerschütterliche Moral und Nächstenliebe, wo eine gute Tat allein durch das erhabene Gefühl belohnt wird, etwas Gutes getan zu haben. Da meint eine von Leigh Annes High Society-Freundinnen ganz ehrfürchtig zu ihr: "You changed this boy's life!". Und sie antwortet weise lächelnd: "No, he changed mine."
Da ist es dann auch nur konsequent, dass es in diesem Film eigentlich keine echten Probleme gibt. Jeder Konflikt, der sich andeutet, ist schneller wieder aufgelöst als er überhaupt richtig eröffnet ist, und es gibt absolut kein Dilemma, das sich nicht mit einem klärenden Gespräch, einer kurzen, starken Rede oder einer verständnisvollen Geste ganz schnell aus der Welt schaffen lässt.
Man muss "The Blind Side" definitiv zugute halten, dass er in all seiner Betulichkeit und enormen politischen Korrektheit durchaus charmant erzählt ist, pfiffige Dialoge und einige starke Bilder findet für seine Fabel von Aufrichtigkeit und Familienwerten. In dieser Hinsicht ist er ein durchaus gut gemachter Film; Harmlosigkeit, Konfliktfreiheit und das wohlige Gefühl von "Alles wird gut"-Geborgenheit sind hier eben Programm und werden konsequent ausgeführt. Das ist wie gesagt sehr amerikanisch, und das kann man mögen, muss man aber nicht.
Was aber doch ein wenig negativ aufstößt, sind die Untertöne der Erzählung, denen man schon einen latenten Rassismus unterstellen kann. Natürlich ist Michael Oher ein herzensguter und liebenswürdiger Junge, er wird jedoch den ganzen Film hindurch mehr oder weniger wie ein kleines Kind behandelt, das ohne die schützende Hand seiner gutmütigen, weißen Retterin komplett aufgeschmissen wäre. Jeder andere schwarze Charakter in diesem Film wird mindestens unsympathisch wenn nicht gleich als schlichtweg gefährlich dargestellt, so dass dem Ganzen schon eine gewisse "Was würden die armen Schwarzen denn machen, wenn wir guten weißen Christen nicht auf sie aufpassen würden?"-Einstellung unterliegt, wie man sie aus den längst vergangenen Tagen der Südstaaten-Sklaverei-Romantik kennt.
Und Sandra Bullock? Die macht ihre Sache hier in der Tat ziemlich gut, wobei man allerdings einschränkend sagen muss, dass dies zum einen natürlich eine der so rar gesäten, absoluten Traumrollen für Hollywood-Damen jenseits der 40 ist, frau hier also kaum etwas falsch machen kann, und man zum anderen gerade in den großen Szenen, die prädestiniert für die Oscar-Clip-Show sind, sich kaum des Eindrucks erwehren kann, dass hier auch noch mehr drin gewesen wäre. Wenn man sich vorstellt, was eine Julia Roberts oder eine Teri Hatcher aus dieser Rolle hätten machen können - da wirkt Frau Bullock doch nicht so richtig beeindruckend.
Zum Golden Globe hat es trotzdem schon gereicht, ob auch noch der Oscar folgen wird, das kann ihr nach dem fabulösen Einspiel von "The Blind Side" ziemlich egal sein. Sandra Bullock hat wieder einen Marktwert. Und die anständigen, christlichen Südstaatler einen neuen Kultfilm. God bless America.
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