MOH (77): 10. Oscars 1938 - "In den Fesseln von Shangri-La"
In unserer Serie "Matthias' Oscar History" (MOH) bespricht Matthias in jeder Folge jeweils einen der zwischen den Jahren 1929 und 2000 nominierten Oscar-Beiträge aus der Kategorie "Bester Film".
Nach dem es letzte Woche hier ja ziemlich heiter zu ging weckt der Name Frank Capra (“Es geschah in einer Nacht“) auch heute wieder Hoffnungen auf eine leichte Komödie. Doch auch wenn das typische Capra-Flair zu spüren ist fällt “In den Fesseln von Shangri-La“ am Ende doch deutlich ernsthafter und philosophischer aus.
In den Fesseln von Shangri-La
Ein Leben in Frieden und Harmonie – diese Botschaft verknüpft man oft mit den Filmen des amerikanischen Regisseurs Frank Capra, in dessen bekanntesten Werken sich die Gesellschaft am Ende meist von ihrer sozialsten Seite zeigt (“Mr. Deeds geht in die Stadt“, “Lady für einen Tag“). Nirgendwo sonst hat Capra diese Botschaft aber so offensichtlich und geradezu philosophisch behandelt wie in dem für seine Verhältnisse ziemlich opulenten Werk “In den Fesseln von Shangri-La“. Die Mischung aus Abenteuer- und Fantasyfilm möchte in Zeiten der Kriegsgefahr mit seiner Vorstellung eines geheimnisvollen Paradieses auf Erden an die Vernunft der Menschheit appellieren. Dabei übernimmt man sich (vor und hinter den Kulissen) zwar ein bisschen, ein interessanter und durchaus unterhaltsamer Meilenstein in Capras großartiger Filmografie ist das Werk aber trotzdem.
Der Film basiert auf dem 1933 erschienenen utopischen Roman “Der verlorene Horizont“ des britischen Autors James Hilton. Der dort beschriebene fiktive Ort Shangri-La, in dem die Menschen glücklich und ohne Streit miteinander leben, steht auch dank dem Einfluss von Capras Verfilmung noch heute als Synonym für ein mystisches Paradies. Sowohl im Buch als auch im Film liegt dieses dabei in einem verborgenen Tal in Tibet, wohin es eine Gruppe westlicher Reisender bei ihrer Flucht vor einem blutigen Aufstand in China nach einem Flugzeugabsturz verschlägt. Die Gruppe besteht aus dem britischen Diplomaten und erklärten Pazifist Robert Conway (Ronald Colman, “Arrowsmith“, “Flucht aus Paris“), dessen eher impulsiven jüngeren Bruder George (John Howard), sowie dem Paläontologen Alexander (Edward Everett Horton, “Scheidung auf amerikanisch“, “Ich tanz' mich in dein Herz hinein“), dem unter Betrugsverdacht stehenden Amerikaner Henry (Thomas Mitchell) und der todkranken Prostituierten Gloria (Isabel Jewell). Im Tal treffen sie auf eine vom geheimnisvollen Mönch Chang (H. B. Warner, “Spätausgabe“) angeführte Gemeinschaft, die in perfekter Harmonie zu leben scheint. Robert ist von deren Lebensführung begeistert, doch gerade sein jüngerer Bruder stellt sich die Frage, ob dies hier wirklich ein Paradies oder nicht viel mehr ein Gefängnis ist.
“In den Fesseln von Shangri-La“ ist mal wieder so ein Film, bei dem man alleine mit der Produktionsgeschichte mehrere Seiten füllen könnte. Schon frühzeitig hatte Frank Capra das Studio Colombia Pictures davon überzeugt sich die Rechte an dem Bestseller-Roman zu sichern und sich dann umgehend mit seinem Lieblingsautor Robert Riskin an das Drehbuch gesetzt. Ein großes Epos sollte es werden, was den Verantwortlichen des damals eher kleinen Studios allerdings die Sorgenfalten auf die Stirn trieb. Doch da Capra das große Aushängeschild des Studios war gab es grünes Licht, auch wenn man Capras Hoffnung auf eine Farbfilmproduktion zunichte machte. Nicht nur wäre der Film mit dieser Produktionstechnik noch teurer geworden, eine Schwarz-Weiß-Produktion hatte auch den Vorteil, dass man für manche der Tibet-Passagen auf Archivmaterial aus Dokumentarfilmen zurückgreifen konnte.
Ja, man spart wo man kann, aber trotzdem lief die Produktion komplett aus dem Ruder. Vor allem viele Schneeszenen waren extrem aufwendig zu produzieren und der Perfektionist Capra filmte dann auch noch Unmengen an Material. Das Ergebnis: die bis dato teuerste Filmproduktion aller Zeiten und ein erster Schnitt, der über sechs Stunden lang war. Die Idee für einen Zweiteiler wurde schnell verworfen und es ging ab in den Schnittraum, wo man den Film immerhin auf “nur“ dreieinhalb Stunden kürzte. Diese Version entpuppte sich bei einem Testscreening allerdings als absolutes Desaster beim Publikum, das selbst bei ernsthaften Passagen in lautes Gelächter ausbrach. Nach dem Capra den Prolog rauswarf, einige Reshoots durchführte und auch Produzent Harry Cohn noch einmal Hand anlegte gelang es den Film immerhin auf 133 Minuten zu trimmen und damit auch deutlich positivere Publikumsreaktionen hervorzurufen.
Frank Capra beschreibt im Interview das traumatische erstes Test-Screening des Films.
Das uns diese Version heute aber überhaupt vorliegt ist nicht selbstverständlich. Im Laufe der Jahre wurde der Film nämlich immer wieder “thematisch angepasst“. Im zweiten Weltkrieg wurde er um 24 Minuten gekürzt, um viele kriegskritischen Anmerkungen zu entfernen und statt China nun Japan den blutigen Aufstand zu Beginn anzukreiden (passend zum aktuellen Weltkriegsgeschehen). Einige Jahre später flogen in der berüchtigten McCarthy-Ära dann auch noch die letzten verbliebenden pazifistischen und als zu kommunistisch angesehenen Untertöne raus – womit man bei gerade mal knapp über 80 Minuten Laufzeit landete. Beim Versuch Jahrzehnte später die Originalversion wiederherzustellen konnte man zwar die komplette 133 Minuten lange Tonspur des Originalfilms aufspüren, etwa fünf Minuten Bildmaterial blieben aber für immer verschollen. Für die restaurierte Version wurden diese Minuten nun einfach mit Standbildern von der Produktion gefüllt, was das Anschauen des Streifens zu einem etwas ungewöhnlichen Filmerlebnis macht.
Ja, und wie ist der Film jetzt? Angesichts der Tatsache, dass soviel Material der Schere zum Opfer fiel fällt die Geschichte überraschenderweise relativ kohärent aus. Allerdings ist spürbar, dass man hier ursprünglich ein deutlich komplexeres Bild zeichnen wollte. Die unterschiedlichen Charaktereigenschaften unsere Reisenden sind ein Hinweis darauf, dass man hier ein vielschichtiges Puzzle geplant hatte, doch wirklich in Erscheinung tritt eigentlich nur die Figur von Robert Conway. Gerade die Prostituierte Gloria spielt nach der Ankunft in Shangri-La komplett keine Rolle mehr, was dann doch ein klein wenig irritiert. In dem man einige der Nebenfiguren aber in dieser Schnittfassung fast komplett ignoriert und sich fast ausschließlich auf Robert und zu Teilen noch dessen Bruder George konzentriert, wirkt das was zu sehen ist aber durchaus stimmig und auch nicht gehetzt.
Dem Film kommt dabei zugute, dass Ronald Colman mal wieder unglaublich charismatisch spielt und eine wundervolle Identifikationsfigur abgibt. Auch wenn er immer eine kleine Tendenz dazu hat hier und da etwas zu cool zu wirken, seine meist ruhige und charmante Art, die in den richtigen Momenten gekonnt ins Nachdenkliche wechselt, fesselt einen schnell an den Bildschirm. Der Film widmet gerade Roberts philosophisch angehauchten Gesprächen mit Chang einiges an Zeit. Diese Diskussionen gehen zwar nicht so arg in die Tiefe wie wohl angedacht, sind aber so entspannt und gut gespielt, dass man stets neugierig lauscht. Wobei man aus heutiger Sicht bei der Figur von Chang schon ein Auge zudrücken muss, der (wie eine weitere zentrale asiatische Figur) von einem unter heftigem Make-Up versteckten Amerikaner gespielt wird.
Dieser zentrale Erzählstrang ist also ganz ordentlich gelungen und so lässt es sich halbwegs verkraften, dass die Nebenfiguren und gerade damit verbundene romantische Subplots nie wirklich Fahrt aufnehmen können. Stattdessen lebt der Film eher von einer gewissen Grundspannung, da man über weite Strecken des Filmes nicht sicher ist ob das Paradies nicht vielleicht doch mehr Schein als Sein ist. Viele Filme hätten in einem solchen Szenario die Hauptfigur zum großen Skeptiker gemacht, doch “In den Fesseln von Shangri-La“ geht interessanterweise den umgekehrten Weg. Während Robert fast komplett die ganze Zeit mit leuchtenden Augen die Philosophie der Gemeinschaft bewundert und diese auch gegen Kritik verteidigt, sind es die Nebenfiguren, welche hier die Sache skeptisch betrachten. Womit Robert dann am Ende doch wieder ein typischer Capra-Charakter ist, mit dem Herz am rechten Fleck und dem Bedürfnis nach einer besseren Welt.
Das mag hier und da natürlich auch etwas sehr naiv wirken, aber auch wenn der Film es nicht schafft die erhofft tiefe Auseinandersetzung mit der hier vorgestellten Utopie zu bewerkstelligen, ganz kalt lässt all dies einen nicht. Was sicher auch an unserem heutigen Wissen liegt, dass nur wenige Jahre später der zweite Weltkrieg ausbrechen sollte und so die von Robert angeprangerte fatale Kriegslust der Menschheit für das heutige Publikum noch einmal eine ganz andere Wirkung entfaltet. Gepaart mit einem wirklich schönen Setdesign und den durchaus packenden Schneeszenen, wofür der Film den Oscar für das beste Bühnenbild erhielt, entpuppt sich “In den Fesseln von Shangri-La“ als zwar nicht perfekter aber stets interessanter Eintrag in Frank Capras Filmografie. Und so eine Dosis Optimismus könnten wir ja heute auch ganz gut gebrauchen.
"In den Fesseln von Shangri-La" ist aktuell als Import-BluRay und Prime Video auf Amazon verfügbar.
Trailer zu "In den Fesseln von Shangri-La"
Ausblick
In unserer nächsten Folge wird es wieder abenteuerlich, wenn ein verzogenes Kind auf hoher See eine Lektion fürs Leben erteilt bekommt.
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