Intimität. Davon ist am Anfang nicht viel zu
spüren: Ein heruntergekommenes Reihenhaus in London. Ein Mann
räumt in einem dreckigen Raum voller Gerümpel schnell Geschirr
und Klamotten weg, als es an der Tür klingelt. "War das vereinbart",
fragt er sie. Die Situation ist angespannt, beide sind nervös.
Er bietet ihr einen Kaffee an,
Hier geht es schnell,
direkt und gefühllos zur Sache: Mark Rylance und
Kerry Fox nach dem Koitus in "Intimacy"
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aber der wird unberührt stehenbleiben. Die beiden reißen sich
die Sachen vom Leib, es wird nicht geredet, gibt kein Vorspiel,
es wird gleich wild drauflos gevögelt. Ohne Abblenden. Ohne
Weichzeichner. Ohne Bettdecke, die prüde das Geschehen verhängt.
So beginnt der große Gewinner der Berlinale, Patrice Chereaus
Verfilmung von Motiven des englischen Kultautors Hanif Kureishi.
Ein Film, der bereits im Vorfeld für Furore sorgte, dank der
so effektheischerischen wie obligatorischen Diskussion über
das hier Gezeigte. Darf man das? Ist das noch Kunst oder eher
doch schon Pornographie? Immerhin gibt es hier die vielzitierte
full frontal nudity, für Hollywood Tabuwort Nr. 1, es gibt sein
eregiertes Geschlechtsteil zu sehen und, von den meisten über
Pornographie klagenden Kritikern meistgehasst, ihre Behandlung
desselbigen. Wenn Kerry Fox Mark Rylances bestes Stück in den
Mund nimmt, wendet sich so mancher Besucher vielleicht doch
peinlich berührt oder angeekelt ab. Weshalb sich dann die Frage
stellt, warum ein völlig normaler sexueller Akt derartig heftige
Reaktionen nach sich zieht. Vielleicht, weil er so ernsthaft
dargestellt ist, so realistisch, bar jeder Schutz bietenden
Klischees. Inmitten der Welt des keimfreien Barbiesex, der Stolze-Jungfrau-Britneys
und der bereits besprochenen Hollywooddecke, die dem Mann merkwürdigerweise
immer knapp über die Hüfte reicht, der Frau jedoch immer knapp
über die Brüste, verstört dies. Zu wenig ist der Zuschauer derartige
Explizität, derartigen Realismus gewöhnt. Leinwandsex ist de
facto immer etwas Abstraktes, ein Kunstprodukt, das gerade ob
der Hollywood-üblichen Darstellungsmethoden gemocht wird. Durchbricht
ein Film diese falsche Darstellung, das Trugbild des Sex, so
wird empört aufgeschrien.
Und das natürlich völlig zu Unrecht. Denn auch wenn die schonungslosen
Sexszenen, die hier doch nur einen Bruchteil des Films einnehmen,
das Sehverhalten provozieren, so ist das nie Selbstzweck und
damit von Pornographie so weit entfernt wie diese von einer
Folge der Sesamstrasse. Jeder T&A-Shot in "Baywatch" ist
Seine Neugier bringt
das Kartenhaus zum Einstürzen:
Mark Rylance als doch nicht eiskalter Leidenschafter
Jay.
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insofern pornographischer als das hier gezeigte. "Intimacy"
kann und darf das Ganze so darstellen, muss es sogar, denn der
Film hat etwas zu sagen: Über Sex, über Liebe und über die Dinge
dazwischen. Darum geht es hier, in der Geschichte über zwei
Fremde, die sich jeden Mittwoch zum hemmungslosen anonymen Sex
treffen. Am Anfang sind sie wie Maschinen, nicht perfekt funktionierend,
aber mit der simplen Zielvorgabe des schnellen Ficks versehen.
Chereaus Abhandlung ist auch eine Geschichte der Menschwerdung.
Von der Anonymität der körperlichen Nähe in die Intimität der
seelischen.
Das angestrebte Ideal des anonymen Sex ohne Verpflichtungen
fängt an zu bröckeln, als Claire eines Mittwochs nicht auftaucht
und Jay anfängt, nachzuforschen. Wer ist diese Frau, was macht
sie? Jays stalking ist stümperhaft und befremdlich anzusehen,
aber es setzt Ereignisse in Gang, die das nicht ausgesprochene
Mittwochsmodell zusammenstürzen lassen wie ein Kartenhaus, ein
menschliches Modell eben, gerade daher zum Scheitern verurteilt.
Jay verwickelt sich in ein Spiel, in dem es keine Gewinner geben
wird. Er trifft Claires Ehemann (Mike Spall), den Gehörnten
als dicken und gutmütigen Taxifahrer, und provoziert diesen
mit
Regisseur und frisch
gebackener Bären-Gewinner Patrice Chereau
während der Dreharbeiten.
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Anspielungen über seine Frau. Derweil sich die erfolglos in
Schauspielerei versuchende Claire bei einer älteren Schauspielkollegin
(Marianne Faithful) Rat sucht und zusehen muss, wie auch auf
ihr Betreiben hin das so einfach Scheinende ihrer Kontrolle
entgleitet.
Für eben jene Bruchstellen, in den sorgsam aufgebauten menschlichen
Konzepten wie dem einer Beziehung, ob sexuelles Abenteuer oder
die Apathie einer leidenschaftslosen Ehe, interessiert sich
Chereau, so wie er sich eben auch für die Brüche in der Darstellung
von Sexualität interessiert. Wie er die Druckstellen der Matratze
auf Kerry Fox' Körper nach beendetem Koitus ins Bild rückt,
das gibt es normalerweise nirgendwo zu sehen. Überhaupt liebt
der offen schwul lebende Chereau den nicht perfekten Körper
von Kerry Fox, die für ihre mutige und vollkommen überzeugende
Darstellung den Silbernen Bären als Beste Darstellerin gewann.
Dem steht Mark Rylance als eigentlicher Protagonist in nichts
nach, sein Jay ist die nochmalige Negativablichtung eines Antihelden
Hornbyscher Prägung. Wir sehen ihm dabei zu, wie er fremde Ehen
gefährdet, wie er seine Freunde vor den Kopf stößt, aber wir
wollen, können ihn nicht verurteilen. Zuviel des Jedermanns
steckt in ihm, auf der Suche nach dem eigenen Stück vom Glück;
getrieben vom nichtgreifbaren Wunsch, das Richtige zu tun, und
sei es ganz egoistisch nur das Richtige für ihn.
Kerry Fox und Mark
Rylance beeindrucken als ein Paar, dessen
Beziehung zusammenbrechen muß, bevor sie überhaupt
beginnt.
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"Intimacy" endet so, wie er anfing: Das Paar treibt es miteinander,
aber nichts wird mehr so sein wie vorher. Gerade hat Jay in
der ergreifendsten und stärksten Szene des Films Claire gebeten,
bei ihm zu bleiben. Zum ersten Mal sehen sie sich in die Augen.
Erst war da nur Sex. Als sie anfingen zu reden, vermieden sie
die Blicke. Als das ewige Phantom, der Hauch von Liebe, oder
etwas ähnliches, ausgesprochen ist, zwischen ihnen steht ohne
die Möglichkeit des Zurücknehmens, reißen sie sich zum letzten
Mal die Klamotten vom Leib. Es ist der Abschiedsfick, mit Tränen
in den Augen. Danach scheint im verregneten London zum ersten
Mal die Sonne. Aufgang und Eklipse zum selben Moment.
Ein klassisches Sehvergnügen ist "Intimacy" nicht. Aber andererseits
sind das die Perlen jenseits des Mainstreamkinos eher selten.
Die schiere Intensität des Werkes, der Schmerz, der aus dem
Realismus des Films spricht, ist nicht einfach zu konsumieren.
"Du weißt nicht einmal, wie Du mich richtig verletzen kannst"
schreit Claire ihrem Ehemann zu. Aber wir wissen es. Die schleichend
aufgebaute Nähe - Intimität eben - zu den Figuren lässt uns
daran teilhaben. Und wir kommen nicht umhin, den Menschen als
zerdrückte Blume zu bewundern. Nicht hundertprozentig schön,
aber kostbar in jeder Blüte. "Intimacy" ist ähnlich: Brillant,
aber auf irgendwie kaputte, abgefuckte Weise. Vielleicht ist
die Quersumme aus beidem so etwas wie
fuckin' brilliant?