
Alle Jubeljahre hat man das Glück, im Kino zu sitzen, sich einen neuen Film anzuschauen und bereits lange vor dem Abspann zu wissen, dass man gerade einen zukünftigen Klassiker sieht. Einen dieser Filme, die wahrscheinlich nicht in der Top Ten der erfolgreichsten Produktionen des Jahres landen werden, über die man aber noch leidenschaftlich diskutieren wird, wenn all die Blockbuster längst vergessen sind. "Reservoir Dogs" war so ein Film. "The Usual Suspects" war so ein Film. "Memento" ist so ein Film.
Wenn das Publikum bei einem Thriller von Anfang an weiß, wie die Geschichte endet, kommt dies normalerweise seinem Todesurteil gleich. Bei "Memento" ist jedoch zum Glück überhaupt nichts normal, denn "Memento" erzählt seine Geschichte rückwärts. Konkret sieht das so aus, dass der Film mit einem Mord beginnt, der in der Chronologie der Story ganz am Ende steht. Die folgende Szene zeigt die Geschehnisse kurz vor diesem Mord. Daraufhin folgt eine Szene, die wiederum zeitlich vor der vorangegangenen Sequenz liegt, und auf diese Weise arbeitet sich "Memento" bis an den ‚Anfang' seiner Geschichte vor, der hier am ‚Ende' des Films steht. Klingt kompliziert? Ist es manchmal auch, doch selten wurde man im Kino für seine Aufmerksamkeit derart reich belohnt wie hier.
Die Abläufe des Films und der in ihm erzählten Geschichte, die ja sonst in den meisten Fällen vollkommen parallel angelegt sind, gegeneinander laufen zu lassen, ist nämlich keineswegs nur ein formales Gimmick, sondern liegt auch in der inhaltlichen Grundidee begründet: Der von Guy Pearce dargestellte Protagonist Leonard Shelby hat nämlich nach einem Überfall, bei dem seine Frau getötet wurde, sein Kurzzeitgedächtnis verloren. Er weiß zwar noch, wer er ist und dass er den Täter finden und für sein Verbrechen bestrafen will, aber neue Informationen kann sein Gehirn nur für wenige Minuten speichern. Shelby weiß sich jedoch zu helfen: Er fotografiert alle Orte und Personen, die ihm für seine Mörder-Suche wichtig erscheinen, und hält bedeutende Informationen als Tätowierungen auf seinem Körper fest.
Die Tatsache, dass die Hauptfigur der Geschichte sich also zunächst in jeder Szene erst mal wieder neu orientieren muss, erleichtert auch dem Zuschauer den Zugang zu diesem überaus faszinierenden Thriller, der noch so viel mehr ist als spannende Unterhaltung. "Memento" begeistert nicht nur durch seinen Umgang mit den Möglichkeiten des filmischen Erzählens, der in einer derartigen Kühnheit und Konsequenz sonst zumeist nur im Bereich des Kurz- oder Experimentalfilms anzutreffen ist, sondern überzeugt - trotz einiger humorvoller Momente - auch als ernsthafte Reflexion über den unsicheren Wahrheitsgehalt der Bilder, der Erinnerung und der eigenen Wahrnehmung.
Obwohl der Film reichlich Anlass für hochphilosophische Überlegungen bietet, wirkt "Memento" jedoch gar nicht mal so kopflastig, wie nun vielleicht zu vermuten wäre. Bevor man sich als Zuschauer nämlich nach dem Kinobesuch so langsam darüber klar wird, wie viel ‚Food for Thought' einem dieses Ausnahmewerk mit auf den Weg gegeben hat, ist man vollauf damit beschäftigt, dem kunstvoll arrangierten Crime-Puzzle, das der Film mit beinahe schon aufreizender Ruhe Stück für Stück aufdeckt, seine gesamte Aufmerksamkeit zu widmen. Und auch, wenn man im Verlauf der Geschichte des öfteren fälschlicherweise zu ahnen glaubt, wie das Gesamtbild aussehen wird: Der Schluss von "Memento", der eigentlich den Anfang der in ihm erzählten Geschichte darstellt, entwickelt in seiner ganzen coolen Schlichtheit mehr Sprengkraft im Kopf des Zuschauers als die Explosionen aller Sommer-Blockbuster zusammen und gibt gleichzeitig alle modisch-selbstzweckhaften Surprise-Endings der letzten Zeit der Lächerlichkeit preis.
Dass die drei Hauptdarsteller Guy Pearce, Carrie-Anne Moss und Joe Pantoliano ihre im höchsten Maße ambivalent angelegten Figuren meisterhaft verkörpern und dass Christopher Nolan sein fantastisches Script mit einer enorm souveränen und einfallsreichen Inszenierung filmisch angemessen umzusetzen weiß, bleibt bei diesem Film nur als Fußnote anzumerken. "Memento" ist ein so gut wie makelloses Meisterwerk, das nicht nur daran erinnert, wie stark die Realität von der eigenen Wahrnehmung abhängig ist, sondern vor allem auch daran, wie aufregend Kino sein kann.
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