Wer bisher daran zweifelte, dass der Österreicher Michael Haneke („Das weiße Band“, „Caché“) zu den größten derzeitig tätigen europäischen Regisseuren gehört, wird durch „Liebe“ eines Besseren belehrt. Der mittlerweile 70-jährige Haneke, der mit 46 Jahren erst mit Langfilmen fürs Kino begann, liefert mit seinem Gewinner der Goldenen Palme in Cannes dieses Jahr sein Meisterwerk ab. „Liebe“ ist ein Film über eine erwachsene Liebe, in der nach den guten nun die schlechten Zeiten kommen, in denen sich zeigt, ob man zueinander hält, so widrig auch die Umstände sein mögen.
Schon vor drei Jahren fuhr der österreichische Regisseur in Cannes mit einer Goldenen Palme für das düstere, preußisch-protestantische Drama „Das weiße Band“ heim und so ist Haneke 2012 der Regisseur mit dem geringsten zeitlichen Abstand zwischen zwei Goldenen Palmen. „Das weiße Band“ wurde nach seiner Auszeichnung in Cannes im Vorjahr 2010 als deutscher Beitrag für den fremdsprachigen Oscar nominiert, verlor aber das Rennen gegen den argentinischen Film „In ihren Augen“. 2012 war „Liebe“, im Wettbewerb des Filmfestivals von Cannes das einzige Werk, bei dem sich die internationale Presse vor Ort einig war, dass es den Hauptpreis verdiente. So ist zu hoffen, dass Haneke dafür 2013 auch endlich seinen Oscar bekommt. Ins Rennen darum wurde „Liebe“ bereits von Österreich geschickt.
„Liebe“ beginnt mit Sanitätern, die eine Wohnungstür aufbrechen müssen, nachdem sich die Nachbarn im Haus über Gestank beschwert haben. Eine tote Frau liegt umkränzt mit Blumen aufgebahrt auf dem Bett im Schlafzimmer. Direkt im Anschluss wird die Zeit davor gezeigt. Das Filmpublikum schaut auf ein Konzertpublikum, das die Ansage „Bitte nun ihre Mobiltelefone ausschalten“ hört und für das ein Pianist zu spielen beginnt, den das Filmpublikum jedoch nicht sieht. Stattdessen blickt es weiterhin ins Publikum, in dem auch die Protagonisten sitzen, die beiden ehemaligen Musikprofessoren Georges (Jean-Louis Trintignant) und Anne (Emmanuelle Riva). Sie sind beide über 80, als Anne eines Morgens mitten im Gespräch katatonisch wird und sich kurz darauf nicht daran erinnern kann und Georges Schilderung nicht glaubt. Es stellt sich heraus, dass sie einen Schlaganfall hatte. Bald darauf geht es ihr schlechter, doch sie nimmt ihrem Mann nach einem Krankenhausaufenthalt mit einer schlecht verlaufenen Operation das Versprechen ab, dass er sie nie wieder dorthin zurückbringen wird. Dieses Versprechen stellt sich als schwer heraus, geht es ihr doch im Verlauf des Films schlechter und schlechter, bis sie nicht nur an den Rollstuhl, sondern bald ans Bett gefesselt ist und immer weniger sprechen und am Leben teilhaben kann.
„Liebe“ spielt außer der Anfangssequenz im Konzerthaus nur in der Wohnung der beiden zwischen Bücherregalen, Flügel und Parkett unter Einbeziehung weniger anderer Figuren, wie zum Beispiel der Tochter, die von Isabelle Huppert wunderbar distanziert und überfordert dargestellt wird.
„Liebe“ war der leiseste Film des Festivals von Cannes, in dem die eloquenten und oftmals humorvollen Dialoge langsamer werden und schließlich ganz verstummen, so wie auch die klassische Musik langsam aus beider Leben weicht, bis nur noch Stille herrscht. Wenig ist im Kino schwieriger, als Menschen beim Sterben zuzuschauen, und so ist auch „Liebe“ schmerzhaft. Im Gegensatz zu den absurd-komischen Szenen, die Dresens Krebstod-Dokudrama „Halt auf freier Strecke“ letztes Jahr immer wieder für kurze Momente aufbrachen, entlässt Haneke sein Publikum nie wieder aus der Furcht vor dem eigenen Tod. Keine Hochkultur, keine Schönheit von Musik und Kunst können Altern und Sterben verhindern.
Georges und Anne sind beide nicht religiös und finden bislang Halt in der geliebten Musik. Doch mit der Zeit wird ihnen auch diese zu viel. So ist der Besuch des ehemaligen Klavierschülers von Anne, der vom bekannten französischen Pianisten Alexandre Tharaud gespielt wird, Anne unangenehm, denn sie kann nun nicht mehr selbst spielen und die Welt dort draußen hat immer weniger mit der ihren zu tun.
Die Dialoge des Films sind meist wenig dramatisch, sondern klingen authentisch und alltäglich-beiläufig. Riva und Trintignant gehen so vertraut miteinander um, als seien sie wirklich ein seit Dekaden zusammenlebendes Paar. Diese Intimität wird sichtbar gebrochen von Huppert in der Rolle ihrer Tochter, deren Besuche die beiden als Eindringen in ihre private Welt empfinden.
Diese Rollen sind nicht alltäglich, sondern verlangen den Schauspielern viel ab. Riva und Trintignant sind beide über 80 und somit schon weit über ihre Lebensmitte hinaus, so dass ihre Auseinandersetzung mit Tod und Sterben hier schon persönliche Implikationen haben muss. Sich emotional in diese Rollen hineinzuversetzen, muss eine physische und psychische Tortur gewesen sein, die beide trotzdem meisterlich in schauspielerische Darbietungen umsetzen. Beide sind Ikonen der Nouvelle Vague, er für Éric Rohmers „Meine Nacht bei Maud“ (1969), sie für Alain Resnais' „Hiroshima mon Amour“ (1959). Emmanuelle Riva spielte in über 40 Filmen mit, Trintignant in über 100. Extra für Hanekes Film sind diese beiden Legenden des französischen Kinos noch einmal vor die Kamera zurückgekehrt.
Es gibt eine quälend lange Einstellung ohne Schnitte, in der eine Taube sich in den Flur der Wohnung verirrt hat und Jean-Louis Trintignant hüftsteif versucht, diese wieder einzufangen. Die Wahl, hier bewusst durchgehend zu filmen, ist es, was Haneke auszeichnet, es aber auch dem Zuschauer unmöglich macht, sich dieser unangenehmen Situation zu entziehen. Er ist gezwungen, all dies mit den Schauspielern mitzuerleben, muss die Entwürdigungen des physischen und psychischen Verfalls ertragen und wünscht im Laufe des Films irgendwann, dass ihr Leiden bald zu Ende sein möge.
Gerade im Gegensatz zu all dem Glitzer und Pomp von Cannes zeigte sich mit Riva und Trintignant, der 1969 in Cannes den Schauspielpreis gewann, was wahre Schauspielkunst vermag. Auf dem Roten Teppich dominierten zwar Bilder von Robert Pattinson und Co., doch sind die beiden über 80-jährigen aufgrund ihrer schauspielerischen Leistung die weit größeren Stars. Die größtmögliche Authentizität für eine Rolle zu schaffen, die so echt wirkt, dass man sie nicht mehr für Spiel hält, ist wahre Kunst. Doch dafür gibt es wenig Stoffe und so kann man das Kammerspiel „Liebe“ eindeutig als Schauspielerfilm bezeichnen. Auf dem Roten Teppich zeigt sich die Obsession unserer Zeit mit der Jugend und ihrem jungen Liebesglück, während die alternde Liebe in ihren Facetten meist ausgeblendet wird, so dass Haneke im präzisen und schonungslosen Zeigen einer solchen Beziehung alter Menschen und das auch noch in einem Stadium des physischen und psychischen Verfalls ein Tabu bricht.
Riva, anfänglich als Anne noch etwas eitel, gibt sich komplett ihrer Rolle hin und verfällt in ihrer Gestik und Mimik quasi vor dem Zuschauer. Ihre Gesichtszüge werden immer starrer, ihre Extremitäten langsam steif und gekrümmt und wie sie darum kämpft, Worte zu formen und herauszubringen, ist so echt und gleichzeitig so unerträglich quälend, dass es zu Tränen rührt. Es ist schade, dass in Cannes ein Hauptpreis nicht mit Nebenpreisen kombiniert wird, so dass der Gewinn der Goldenen Palme automatisch den Preis für die beste Schauspielerin ausschloss, denn keine andere Leistung in Cannes überflügelte die ihre.
Auch die Kameraarbeit des iranischen Kamerameisters Darius Khondji („Midnight in Paris“, „Evita“) ist wunderbar. Hanekes Film ist von langen Einstellungen mit nur minimaler Kamerabewegung gezeichnet, die den Zuschauer zwingen, sich direkt mit den Figuren auseinanderzusetzen und ebenfalls das Set um sie herum intensiv zu betrachten. Die Einstellungen sind wunderbar komponiert und geben der Geschichte genau den passenden Rahmen.
Es ist trotz wunderbarer Schauspieler, Sets, Musik und Kamera wahrlich nicht einfach, “Liebe” zu sehen, denn dieses stille, sensible und intensive Meisterwerk ist eine schonungslose Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit, präzise, beobachtend und verstörend, dabei auch noch in quälend lange Einstellungen gebettet. Jede Szene fordert die Mitarbeit des Zuschauers, denn Michael Haneke, der sich mit diesem Film selbst die Frage stellte „Wie gehe ich mit dem Leiden eines Menschen um, den ich liebe?“, wertet nicht selbst, sondern fordert den Zuschauer heraus, das Gesehene für sich zu verorten. Wie stirbt man in Würde? Was bedeutet Würde, wenn man sich nicht mehr selbst waschen oder seine Wünsche niemandem mehr mitteilen oder sich nicht mehr wehren kann? Wie würde ich mich in solch einer Situation verhalten? Was ist ein Versprechen wert, dass einem vom Partner abgenommen wird? Und die vielleicht grundlegendste Frage: Was ist mir die Liebe?
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