Tár

Land
Jahr
2022
Laufzeit
158 min
Genre
Regie
Release Date
Bewertung
7
7/10
von Matthias Kastl / 7. März 2023

Eine fantastische Hauptdarstellerin in einer Charakterstudie, die mehr Wert auf feine Nuancen und jede Menge Interpretationsspielraum als festgefahrene Klischees und künstlich generiertes Drama legt – das muss doch gefeiert werden. Wird es auch in Kritikerkreisen und so darf sich "Tár" gleich an sechs Oscar-Nominierungen erfreuen und das auch noch in solch schwergewichtigen Kategorien wie "Bester Film", "Beste Regie", "Beste Hauptdarstellerin" oder "Bestes Originaldrehbuch". Doch so ganz unbeschwert möchten wir hier nicht in den Jubelreigen einstimmen. Denn während der Kopf sich beeindruckt zeigt, verweigert das Herz angesichts sehr unterkühlter Figuren im Gleichschritt mitzugehen.  

Dabei legt die Dirigentin Lydia Tár (Cate Blanchett, "Blue Jasmine", "Nightmare Alley")  ebenfalls viel Wert darauf, dass ihr Ensemble nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen dabei ist. Mit jeder Menge Selbstbewusstsein und noch mehr Know-How leitet Lydia ein großes Orchester in Berlin und steht kurz vor der prestigereichen Aufführung von Gustav Mahlers Fünfter Sinfonie. Dazu hat Lydia, dank der Stiftung ihres Freundes Eliot Kaplan (Mark Strong, "Shazam!", "Dame, König, Ass, Spion"), auch noch ein erfolgreiches Mentoring-Programm für junge Dirigentinnen ins Leben gerufen. Im Gegensatz zu ihren musikalischen Talenten vernachlässigt Lydia allerdings ihre Tochter Petra und ihre Ehe mit Sharon (Nina Hoss, "Die weiße Massai", "Jerichow"), der Konzertmeisterin ihres Ensembles. Und das soll nicht der einzige Bereich in Lydias scheinbar perfektem Leben bleiben, der langsam beginnt Risse zu zeigen.

In seinen bisherigen Filmen hat Regisseur Todd Field ("Little Children", "In the Bedroom") ja stets ein gutes Auge für kleine Details offenbart und den scheinbar banal wirkenden Alltag seiner Protagonisten clever für tiefschürfende Charakterstudien genutzt. Den feinfühligen Blick hinter die oft fragilen Fassaden seiner Figuren packt er auch 17 Jahre nach seinem letzten Film in "Tár" wieder aus, nur dass er im Vergleich zu seinen vorherigen Werken sich diesmal für eine deutlich schillerndere Protagonistin entscheiden hat. Der Alltagsansatz bleibt aber derselbe und wer hier nun also eine Story mit den üblichen Wendungen und diversen dramatischen Entwicklungen erwartet, der dürfte zumindest bis kurz vor Schluss ziemlich enttäuscht werden. Die Figur ist hier die Story und der Film nimmt uns dabei lange Zeit auf eine sehr unaufgeregte Reise in Lydias professionellen und privaten Alltag mit.

Anhand von Lydias Umgang mit den Mitgliedern ihres Orchesters, den Gesprächen mit Freunden und Mentoren, sowie kurzen Einblicken in ihr Privatleben ergibt sich dabei schnell das Bild einer genauso intelligenten wie kühlen Frau, deren größte Gefühlsregungen eigentlich nur im Kontext ihrer Leidenschaft für die Musik erfolgen. In vielen dieser Momenten haftet Lydia dabei eine Aura der Arroganz und Überheblichkeit an, selbst wenn man zum Beispiel in einer Szene gleich zu Beginn durchaus nachvollziehen kann, warum sie einen ihrer Studenten so belehrend an den Pranger stellt. Je weiter der Film fortschreitet, desto häufiger tritt die Kühle und Selbstsucht Lydias zwar zu Tage, doch da der Film viele Sachen weiterhin lieber andeutet als ausspricht, ist die Figur viel zu schwer emotional greifbar, um in die Rolle einer klassischen Bösewichtin zu rutschen.

Dass Cate Blanchett in der Darstellung einer unterkühlten und cleveren Frau brillieren würde ist dabei wenig überraschend. Die wahre Meisterleistung von Blanchett ist allerdings, wie überzeugend sie die Leidenschaft für und das komplette Versinken der Figur in die Musik auf die Leinwand bringt. Das ist so beeindruckend gespielt, dass man lange Zeit die dunklen Seiten der Figur gut ignorieren kann. So ist das halt mit den großen Genies, denkt man sich, da ist eine unterentwickelte Sozialkompetenz doch eigentlich eingepreist. Doch so einfach möchte es der Film uns natürlich nicht machen und so gibt es eine Seite Lydias, die am Ende dann doch deutlich schwerer zu verharmlosen ist. Hierzu wirft uns der Film aber lange Zeit nur minimale Story-Brotkrumen hin, bevor erst gegen Ende ein wenig mehr Licht ins Dunkel kommt. Aber selbst dann wird noch genug Interpretationsspielraum geboten, um dem Publikums das Urteil über diese Figur auch ja nicht zu leicht zu machen.

So ist "Tár" einer dieser Filme, der das Publikum mehr fordern als oberflächlich unterhalten möchte, und davon gibt es heutzutage gefühlt ja leider immer weniger. Doch der Ansatz der vielen kleinen Story-Brotkrumen, die teilweise auch mal komplett im Sand verlaufen, hat leider auch einen Haken. Damit das Publikum am Ball bleibt und die Herausforderung des Filmes annimmt, muss dieses ja erst einmal motiviert werden überhaupt mitzumachen. Und das dürfte dann einigen im Publikum doch gehörig schwerfallen. So überzeugend Blanchett in ihrer Rolle auch aufgeht, die über weite Strecken unterkühlte und distanzierte Art ihrer Figur macht es auf Dauer einem schwierig, sich so richtig für ihr Schicksal zu erwärmen. Überhaupt wirken fast alle Figuren etwas schockgefrostet und lediglich Lydias Frau Sharon lässt vereinzelt ihre Emotionen durchbrechen. Doch auch von ihr erfährt man am Ende zu wenig, um sich von ihrem Frust und Schicksal wirklich berühren zu lassen. Die ruhige Inszenierung und der kühle Look des Filmes verstärken diese Wirkung nur noch.

So hält der Film seine Figuren auf der emotionalen Ebene stets auf einer Armlänge Abstand zum Publikum. Und so interessant es auch ist einmal einen Einblick in die Welt einer Stardirigentin zu erhaschen, auf Dauer wird der Aufenthalt in diesem gut gekühlten Elfenbeinturm dann doch auch etwas zäh. Verstärkt wird dies durch zahlreiche Gespräche rund um klassische Musik, die sich vor allem durch exzessives Namedropping berühmter Werke und Künstler auszeichnen. Für Klassik-Fans sicher ein Freudenfest, viele andere dürften hier aber irgendwann abschalten – Charakterzeichnung hin oder her. Doch ohne ein echtes Interesse an den Figuren und ihren Motiven kann die Taktik der kleinen und nur vereinzelt eingeworfenen Story- und Charakterbrocken eben auch leicht nach hinten losgehen. Denn wer hat schon Lust Brotkrumen zu folgen, wenn er keinen Hunger hat.  

So steht und fällt die Wahrnehmung des Filmes mit der Frage, wie ausgeprägt das Bedürfnis des Betrachters nach einem emotionalen Anker in dieser Geschichte ist. Und so spiegelt die Wertung hier dann auch die innere Zerrissenheit des Rezensenten wieder. In vielen Bereichen bietet der Film genau das, was man sich vom heutigen Kino eigentlich herbeisehnt und alleine das würde schon nach einer deutlich höheren Wertung schreien. Und dann ist da aber auch die starke emotionale Distanziertheit bezüglich des Geschehens auf der Leinwand, bei der man sich fragt, ob der Film mit einer Sieben-Augen-Wertung nicht schon fast zu gut wegkommt. Wir machen es uns hier zugegebenermaßen einfach und entscheiden uns für die goldene Mitte, nicht aber ohne darauf hinzuweisen, dass der von "Tár" ausgelöste Kampf zwischen Kopf und Herz wohl ein ziemlich gespaltenes Publikum im Kinosessel zurücklassen dürfte.

Bilder: Copyright

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