Jahr um Jahr wirft Woody Allen verlässlich wie eine gut geölte Maschine einen Film auf den Markt. Was nicht mehr verlässlich ist, ist die Qualitätskontolle von Allen, denn in den letzten Jahren haben sich ziemlich gute („Match Point“, „Whatever Works“, „Midnight in Paris“) mit nicht so guten („Scoop“, „Vicky Cristina Barcelona“, „Ich sehe den Mann deiner Träume“, „To Rome With Love“) Filmen abgewechselt. Man weiß nie,was man bekommt, außer dem was Allen seit jeher liefert: Sozialsatire, Gesellschaftsporträts, süffisante Liebesgeschichten.
Daher ist die Frage immer: Wie erfolgreich bekommt Allen die alten Zutaten zusammengemischt, um frische Filme zu produzieren? In diesem Falle: sehr. Womit Allen seiner Serie treu bleibt, denn seit „Match Point“ liefert er relativ beständig abwechselnd Erfolge und Enttäuschungen, und nach dem letztjährigen Flop aus der ewigen Stadt konnte man hoffen, dass Allen 2013 wieder auf der guten Seite landet. Und dies tut er, der alte Jazzer, mit Pauken und Trompeten (oder Klarinetten): „Blue Jasmine“ ist der beste Allen-Streifen seit mindestens „Match Point“.
Was Allen hier anders macht, als in seinen schwächeren Streifen: Endlich mal keine (oder zumindest sehr, sehr wenige) der völlig lachhaften und überholten Klischees, die in den letzten Jahren mehr und mehr seine Filme auszeichnete. Vielleicht hat dies auch mit Allens Rückkehr ins Heimatland zu tun, denn nach seinen Streifzügen durch Barcelona, Paris und Rom ist er wieder in den USA angelangt, auch in seinem geliebten New York. Die Geschichte von“ Blue Jasmine“ spielt sich allerdings auf der anderen Seite der Vereinigten Staaten ab, im schönen San Francisco. Dort trifft Jasmine (Cate Blanchett) bei ihrer Adoptivschwester Ginger (Sally Hawkins) ein, um sich bei ihr und ihren beiden Söhnen für einige Wochen einzuquartieren. Wie wir aus parallel montierten Rückblenden erfahren, gehörte Jasmine zu den Reichen und Erfolgreichen New Yorks, da ihr Mann Hal (Alec Baldwin) ein erfolgreicher Finanzmakler war. Aber diese Zeiten sind vorbei, und so trifft Jasmine ohne Geld und ohne Zukunftsplan bei Ginger ein.
Was sie dagegen hat ist eine Meinung zu Ginger, ihren Söhnen und vor allem ihrem Verlobten Chili (Bobby Canavale) sowie desöfteren ein Glas Alkohol um ihre Nerven zu beruhigen. Und ein paar Ideen für ihr zukünftiges Leben, die nicht zwangsläufig mit der Realität ihrer neuen Situation übereinstimmen. Jasmine versucht also mehr schlecht als recht, sich ein neues Leben aufzubauen, inklusive eines Jobs bei einem vordergründig freundlichen Zahnarzt (Michael Stuhlbarg), bis sie den Diplomaten Dwight (Alexander Saarsgard) kennenlernt, dessen Status ihr eine Neuauflage des alten, mondänen Lebens verspricht. Aber die Schatten der Vergangenheit lassen sich nicht so einfach wegreden (oder wegtrinken). Derweil hinterfragt auch Ginger ihr Glück, was sie in die Arme des Hifi-Installateurs Al (Lousi C.K.) treibt....
Eines gleich mal vorweg: Mit ihrer Leistung hier ist Cate Blanchett eine klare Favoritin auf den 2014-Oscar für die beste weibliche Hauptrolle. Ihre Leistung hier ist nichts anderes als absolut fabulös, und in einer Filmographie wie der ihren will das schon etwas heißen. Mit einer absoluten Furchtlosigkeit wirft sich Blanchett in eine Rolle, die nicht sonderlich sympathisch ist, dafür jedoch jede Menge Facetten aufweist, in der sich Blanchett perfekt austoben kann. In der San Francisco-Storyline ist sie sowohl verletzlich als auch verletzend, desillusioniert und delusional. In den Rückblicken auf ihr Leben in der New Yorker Bourgeoisie sieht man Jasmine als gedankenleer, rücksichtslos und eindimensional. Und so bleibt Jasmine auch. Allen der Autor und Blanchett die Schauspielerin haben den Mut, die Hauptfigur in all ihrer hässlichen Selbstbezogenheit und gedankenloser Rücksichtslosigkeit gegenüber ihren Mitmenschen zu zeigen, ohne sie dabei vollends unsympathisch werden zu lassen. Ein Balanceakt, der wohl nur deswegen so gut gelingt, weil Blanchett diese Rolle spielt und eine von vielleicht einer Handvoll Schauspielerinnen ist, die eine derart vertrackte Rolle meistern kann. Diese Art von Schauspiel sieht man so selten, dass ich mich hier festlege: Diesen Oscar muss man Cate Blanchett im nächsten Frühjahr mit Zähnen und Klauen entreißen, und wer das schaffen will, der muss mächtigst beeindrucken.
Allen fängt sowohl die Rhythmen der Arbeiterklasse an der Westküste als auch die der Upper Class an der Ostküste passend ein, ohne sich (zu sehr) in Karikaturen zu verlieren. Klar, die Reichen und Schönen und New York sind genau so abgehoben, arrogant und – zumindest was die anderen 99% betrifft – weltfremd, wie man es befürchtet, und für eine Figur wie den Automechaniker Chili hat Allen wohl nur eine Episode von "New Jersey Shore" als Studienmaterial zur Verfügung gehabt. Aber angesichts der Klischees, die Allen sonst so aufbietet, wirkt hier jede Figur immerhin denkbar und realistisch.
Das Ergebnis ist, auch aufgrund der Storylines, Allens humanster Film seit langem. Die Figuren hier sind nicht nur Versuchskaninchen in einem sozialsatirischen oder Farce-haften Experiment Allens, sie fühlen sich an und benehmen sich wie du und ich. Oder, wie im Falle von Jasmine, Gott sei dank nicht wie du und ich. Aber wo Allen Gefahr lief – und mit jedem neuen Film erneut Gefahr läuft – nur noch Abziehbilder von Figuren, die er zuletzt vor Jahrzehnten mit echtem Leben füllte, zu zeigen, so ist „Blue Jasmine“ der Beweis, dass Allen seine Beobachtungsgabe nicht verlernt, sondern eventuell nur zeitweise verlegt hat.
Zu Allens geschickten Manövern in diesem Film gehört auch der Aufbau: Die Parallelmontage von Jasmines Gegenwart und Vergangenheit ist nicht nur eine geschickte Art, graduell den Titelcharakter zu vertiefen bzw. zu erhellen, sie erweist sich auch als Bombe mit sehr langer Zündschnur, die Allen in der letzten Rückblende hochgehen lässt. Und so entpuppt sich „Blue Jasmine“ am Ende als große amerikanische Tragödie. Wie ein gewisser James Gatz will auch Jasmine die Vergangenheit wiederaufleben lassen, und sei es in Illusionen. Und wie er ist auch sie zum Scheitern verurteilt.
Allen beendet „Blue Jasmine“ mit einem der denkwürdigsten Schlussbilder in seiner 45-jährigen Karriere; ein Bild, das nach dem Betrachten noch lange mit dem Zuschauer bleiben wird. Hat Allen bis hierhin noch die milden Lacher und den Horror angesichts mancher von Jasmines monströsen Verhaltensweisen in relativem Gleichgewicht gehalten, so schwingt das Ende komplett in die Richtung von Allen, dem bitteren Dramatisten. Und das ist ehrlich gesagt eine der besten Entscheidungen. Herausgekommen ist Allens bemerkenswertester Film seit langer Zeit, mit einer „Muss man sehen“-Schauspielleistung in seinem Zentrum, für die allein man sich schon in den Kinosaal begeben sollte.
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