MOH (102): 12. Oscars 1940 - "Ringo"
In unserer Serie "Matthias' Oscar History" (MOH) bespricht Matthias in jeder Folge jeweils einen der zwischen den Jahren 1929 und 2000 nominierten Oscar-Beiträge aus der Kategorie "Bester Film".
In unserer letzten Folge waren wir ein wenig enttäuscht, dass nach zwei Höchstwertungen in Folge der wunderbare Oscar-Jahrgang 1939 uns "lediglich" einen guten Film ausspuckte. Das ist aber schnell vergessen angesichts der Tatsache, dass mit dem Western "Ringo" (vielen eher unter dem Originaltitel "Stagecoach" bekannt) nun wieder ganz großes Kino auf uns wartet.
Ringo

Wie schön, wenn die Vorfreude auf einen Film am Ende vom Ergebnis sogar noch übertroffen wird. Vor allem, wenn einen das Werk dabei auch noch überrascht. Gerechnet hatte ich mit einem wortkargen John Wayne in der Hauptrolle, bekommen habe ich einen einfühlsam inszenierten Ensemblefilm. Auch wer mit Western sonst nichts anfangen kann, sollte sich "Ringo" nicht entgehen lassen, denn hier versteckt sich unter dem Deckmantel einer abenteuerlichen Postkutschenfahrt ein Stück wundervolles Charakterkino – in dem aber auch noch Raum für eine unglaublich packende Actionsequenz ist. Zeit, schon wieder in diesem Oscar-Jahrgang die Höchstwertung zu ziehen.
In "Ringo" begibt sich in den USA im Jahr 1880 eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Reisenden mit der Postkutsche auf eine gefährliche Fahrt nach New Mexico. Unter ihnen sind die Prostituierte Dallas (Claire Trevor), die von der Gesellschaft ausgestoßen wurde, der alkoholkranke Arzt Dr. Josiah Boone (Thomas Mitchell, "In den Fesseln von Shangri-La"), die schwangere Offiziersgattin Lucy Mallory (Louise Platt), der Spieler und Südstaaten-Gentleman Hatfield (John Carradine), der schüchterne Whiskey-Verkäufer Samuel Peacock (Donald Meek), der korrupte Banker Henry Gatewood (Berton Churchill) sowie der Kutscher Buck (Andy Devine, "Chicago", "Ein Stern geht auf").

Mit dabei ist auch noch Sheriff Curley Wilcox (George Bancroft, "Mr. Deeds geht in die Stadt"), der die Fahrt begleitet, um den entflohenen Sträfling Ringo Kid (John Wayne, "Der schwarze Falke") wieder einzufangen. Letzterer wird schon bald auf dem Weg mitaufgelesen, was die Spannungen an Bord der Kutsche nur noch weiter ansteigen lässt. Doch auf der Reise durch gefährliches Apachengebiet könnte ein weiterer kampferprobter Mann ja vielleicht noch ganz nützlich werden.
"Höllenfahrt nach Santa Fe" – so lautete der deutsche Titel von "Ringo" ursprünglich. Was gleich aus zwei Gründen Unsinn ist. Erstens: Die für die Handlung so zentrale Postkutsche fährt gar nicht nach Santa Fe, sondern nach Lordsburg. Zweitens: Mit „Höllenfahrt“ verspricht man dem Publikum eine Art Nervenkitzel, auf die der Film die meiste Zeit gar nicht aus ist. Als der Film 1963 in Deutschland dann noch einmal neu veröffentlicht wurde, durfte mit "Ringo" nun eine seiner Figuren für den Titel Pate stehen. Das war dabei offensichtlich ein Zugeständnis an die mittlerweile gigantische Starpower von John Wayne, der inzwischen zur Western-Ikone aufgestiegen war. Doch auch dieser Titel führt ein wenig in die Irre, denn dessen Ringo rückt hier erst sehr spät ins eigentliche Zentrum der Geschichte. Was aber keine Schwäche, sondern eher eine der großen Stärken dieses Filmes ist.

Statt sich auf einen Helden zu konzentrieren, setzt "Ringo" nämlich lieber auf einen wunderbar vielfältigen Figurenmix – und auf das Spannungsfeld, das zwischen diesen so unterschiedlichen Charakteren entsteht. Bemerkenswert ist dabei, wie sorgfältig Ford schon zu Beginn gleich allen Passagieren kleine, aber prägnante Einführungsmomente schenkt. Da gibt es eine Portion Sozialkritisches – etwa die Prostituierte, die von einer Gruppe sogenannter Anstandsdamen ausgegrenzt wird. Oder auch mal Humor – wie beim Bankier Gatewood, der aus der Stadt flieht, weil seine Ehefrau mal wieder genau diese Gruppe von Anstandsdamen zum Essen eingeladen hat.
Nach diesem schwungvollen Beginn bieten sich mit dieser so unterschiedlichen Truppe natürlich perfekte Voraussetzungen für eine lebhafte Postkutschenfahrt – die spätestens mit dem Zustieg von John Waynes Ringo zu einer wundervollen kleinen Arena für Reibereien und Allianzen avanciert. Ringo bekommt vom Film dabei einen sehr coolen ersten Auftritt serviert, den ein wirklich unglaublich charismatischer (und junger) John Wayne hier perfekt für sich nutzt. Ringo ist mit seiner verwegenen Lockerheit wirklich eine Augenweide und es überrascht nicht, dass der Film John Waynes Sprungbrett zu einer steilen Karriere wurde. Im Jahr 1939 war Waynes umstrittenes Playboy-Interview, dessen rassistischen und sexistischen Aussagen die glanzvolle Karriere des Stars schon bei der Veröffentlichung des Interviews im Jahr 1971 deutlich trübten, ja noch in weiter Ferne.

Trotz des unglaublich charismatischen John Wayne bleibt "Ringo" am Ende aber ein Ensemblefilm. Und was für ein toller. Das Drehbuch spielt auf wunderbare Weise geschickt mit den Figurenkonstellationen und wechselt dabei mühelos zwischen Drama, Gesellschaftskritik und Komik. Das Schöne dabei – selbst manch am Anfang eher etwas klischeehaft wirkende Figur, wie unser alkoholabhängiger Arzt, entpuppt sich im Lauf der Zeit als interessanter und durchaus komplexerer Zeitgenosse. Lediglich der Auftritt von Andy Devine als Comic Relief kommt hier und da ein wenig zu aufgesetzt daher – was angesichts des toll spielenden restlichen Ensembles aber kaum ins Gewicht fällt. Besonders sticht dabei auch noch Claire Trevor hervor, die damals wohl prominenteste Darstellerin des Films. Deren Prostituierte Dallas ist genauso wie Ringo hier eine Außenseiterin – einige der schönsten Momente gelingen dem Film immer dann, wenn er deren unsichtbares Band manchmal alleine durch Gesten und Blicke aufgreift. Auch hier serviert man uns dabei wieder einen cleveren Story-Strang, an dessen Ende manch ein Passagier seine Meinung über Dallas revidiert hat.
Das ist alles einfühlsam und klug erzählt – und zeigt auch John Fords ("Der Verräter", "Arrowsmith") tolles Gespür für Zwischentöne. Der wechselt hier auf wundervolle Weise bei seiner Inszenierung immer wieder zwischen Kammerspiel und monumentaler Weite – auch wenn man bei Letzterem natürlich das für das Genre so typische Breitbild vermisst. Beeindruckend sieht das Monument Valley, das Ford noch in vielen Filmen als Setting dienen sollte, hier trotzdem aus. Vor allem aber gelingt Ford bei seiner Inszenierung ein perfekt zwischen Anspannung und Entspannung navigierender Flow, der einem immer wieder schöne ruhige Momente mit den Figuren gönnt, um dann wieder das Tempo anzuziehen. Am Ende hat man das Gefühl alle Reisenden ziemlich gut zu kennen, was angesichts des üppigen Figurenkarussells eine echte Leistung ist.

Von den Apachen, der großen Bedrohung in diesem Film, ist derweil lange nichts zu sehen – was es leichter verschmerzbar macht, dass diese hier eher einsilbig als brutaler Feind charakterisiert werden. Erst im großen Finale tritt diese Bedrohung dann auf den Plan, was dann zu einer spektakulären und noch heute beeindruckenden Actionsequenz führt. Womit wir hier noch einer anderen Filmlegende huldigen möchten, deren Name wohl kaum jemandem etwas sagen dürfte. Was Stuntlegende Yakima Canutt hier auf, unter und zwischen Pferden abliefert, ist pure Kinomagie. Oder einfach nur absoluter Wahnsinn. Und so beeindruckend, dass Steven Spielberg einem dieser Stunts eine große Hommage in "Jäger des verlorenen Schatzes" folgen ließ. Canutt gilt als Erfinder unzähliger Stunttechniken und war nach einer schweren Verletzung später ebenfalls noch lange als Stuntkoordinator und Second-Unit-Regisseur tätig – und dabei unter anderem mitverantwortlich für das legendäre Wagenrennen in Ben Hur.
In unserer Oscar-Reihe haben wir Canutt ebenfalls auch schon unwissentlich getroffen – als Double von Clark Gable in "San Francisco". Einen Job, für den er in dieser Reihe auch noch in "Vom Winde verweht" seine Knochen hinhalten wird. Seine beeindruckende Leistung leitet den hochdramatischen Schlussakt von "Ringo" ein, der am Ende dann natürlich in klassischer Western-Manier seinen Höhepunkt findet. Die wahre Stärke dieses Films sind aber trotzdem nicht irgendwelche Schusseisen, sondern dessen Figuren, die "Ringo" zu einem weiteren tollen Beitrag eines ja sowieso schon grandiosen Kinojahrs 1939 machen.
"Ringo" ist aktuell als Bluray und DVD auf Amazon in Deutschland verfügbar, sowie kostenlos im Internet Archive.
Trailer zum Film
Ringos erster Auftritt
Die beiden Stunts von Stuntman Yakima Canutt
John Wayne über Regisseur John Ford am Set
Ausblick
In unserer nächsten Folge begeben wir uns in luftigere Höhen – treffen aber ebenfalls wieder auf eine große Schauspiellegende.
Neuen Kommentar hinzufügen