Als im letzten Jahr "Little Miss Sunshine" zum größten Publikums-Renner des Independent-Kinos avancierte und auch mit einigen Oscar-Nominierungen belohnt wurde, geschah das aufgrund der herrlich unterhaltsamen, brillant erzählten und superb gespielten Geschichte zwar zurecht, rief allerdings auch einige Unkenrufer auf den Plan. Sie sahen "Little Miss Sunshine" als beispielhaften Auswuchs des neuen Indie-Mainstreams - ein Film zusammengesetzt aus den inzwischen permanent gebräuchlichen und publikumstauglichen Standards und Stereotypen des Independent-Kinos, das seinen eigenen Anspruch auf Andersartigkeit und Originalität langsam zu verlieren drohte. Stattdessen schien man es sich mit Komödien über dysfunktionale Familien in seiner eigenen Nische im Hollywood-Mainstream gemütlich zu machen.
So gesehen ist "Juno", der Independent-Überraschungshit dieses Kinojahres, eine Art Antithese zu "Little Miss Sunshine". Denn der Film punktet zwar mit den üblichen Stärken eigenwilliger Independent-Komödien, umschifft dabei jedoch geschickt und überraschend jede Form von üblichen Genre-Klischees - sowohl die des Mainstreams, als auch die des Indie-Films. Heraus kommt dabei ein eigentümlicher und hoch amüsanter Feel-Good-Movie, der von der ersten Minute an seinen ganz eigenen Ton anschlägt und sich bis zum Ende als die beste Sache erweist, die das amerikanische Indie-Kino in den letzten Jahren hervorgebracht hat.
Was "Juno" so außergewöhnlich macht, ist vor allem der Umgang mit seinem Thema, denn die Titelheldin (Ellen Page) ist gerade mal 16 Jahre alt - und schwanger. Schon die Art und Weise, mit der sich Juno in der Eröffnungsszene mit einem Drogerie-Angestellten um die Schwangerschaftstests streitet, die sie der Reihe nach auf der Ladentoilette ausprobiert, versetzt in amüsiertes Staunen, sowohl über den wundervoll direkten und trockenen Humor der Dialoge, als auch über Juno selbst. Denn so einen unprätentiösen, selbständigen und gradlinigen Teenager hat man auf der Leinwand wohl noch nicht gesehen. Klar weiß sie, dass sie zu voreilig und unüberlegt Sex mit ihrem niedlich-harmlosen Schwarm Paul (Michael Cera, "Superbad") hatte, aber sie ist nicht der Typ, der über sein Schicksal lamentiert. Juno macht sich über ihre Unreife für die Mutterrolle keinen Illusionen und reagiert gerade deshalb erstaunlich cool und erwachsen.
Ganz genau wie ihre Erziehungsberechtigten übrigens, und spätestens bei der Reaktion von Vater (J.K. Simmons, der Zeitungsboss aus "Spider-Man") und Stiefmutter (Allison Janney) auf die Verkündung der Schwangerschaft wird klar, dass es "Juno" ganz sicher nicht darauf angelegt hat, seine Geschichte aus sich offensichtlich anbietenden Konflikten zusammen zu basteln. Ganz im Gegenteil.
Denn was diesen Film so außergewöhnlich, gänzlich Hollywood-untypisch und besonders "Indie" macht, ist die konsequente Vermeidung von Konflikten. Wenn sich Juno schließlich - ganz eigenständig und mit voller Unterstützung ihrer Eltern - dazu entscheidet, nicht abzutreiben sondern Adoptiveltern für ihr Kind zu suchen, und sie mit dem jungen Traumpaar Vanessa (Jennifer Garner) und Mark (Jason Bateman) die perfekten Kandidaten gefunden hat, dann sind nach 40 Minuten alle zentralen Figuren des Films im Spiel - und nicht eine davon hat echtes Potential zum Unsympathen oder Antagonisten. Klar, alle Figuren sind irgendwie eigenwillig, aber selbst die überperfektionistisch an ihre baldige Mutterrolle herangehende Vanessa kann man in ihrem Babywahn sehr gut verstehen und kann kaum anders, als auch sie wirklich nett zu finden.
Nicht, dass diese anfängliche Konfliktfreiheit irgendwie stören oder für Langeweile sorgen würde. "Juno" lebt geradezu davon, wie er die Erwartungen seines Publikums immer wieder untergräbt. Schließlich läuft doch jede Geschichte über eine ungewollte Schwangerschaft darauf hinaus, dass die zu Abtreibung oder Adoption entschlossene Protagonistin doch noch ihren eigenen Mutterinstinkt entdeckt, oder? Und es dann zu einem "Duell" mit der enttäuschten Adoptiv-Mami kommt, nicht wahr? Oder die Eltern der Schwangeren es nicht ertragen, ihr Enkelkind zu verlieren. Oder der junge Herr Papa auf einmal ankommt und als Zeichen seiner Liebe das Kind behalten will. Doch solcherlei offensichtliche Plotklischees aus dem weltfremden Familienwerte-und-Moral-Kosmos Hollywoods sind nicht das Ding dieses Films.
Und so schafft "Juno" das, was so viele Indie-Filme versuchen, aber kaum einer hinbekommt: Er erreicht wahre Originalität, indem er alles anders macht als die anderen, und dabei trotzdem hervorragend unterhält. Keine Figuren-Konstellationen, die vor lauter Abneigung und Gegensätzen kaum in einem Raum sein können, ohne sich an die Gurgel zu gehen. Keine offensichtlichen Konfliktfelder und erst recht keine politisch-korrekten Moralvorstellungen. "Juno" findet seinen ganz eigenen Ton und seinen ganz eigenen Weg, und kann darum trotz gänzlich unaufgeregter und unspektakulärer Erzählweise bis zum Ende fesseln, weil man wirklich nicht wissen kann, was als nächstes passiert. Und als es dann doch zum großen Knall kommt und alles kaputt zu gehen droht, kommt diese Entwicklung aus einer sehr unerwarteten Richtung - und macht dennoch aus der Geschichte und den Figuren heraus absolut Sinn.
Dass das alles so hervorragend funktioniert ist der durchweg herausragenden Arbeit der wichtigsten Köpfe dieses Films zu verdanken. Nicht zuletzt natürlich dem originellen Drehbuch von Diablo Cody, die es mit ihrer ungewöhnlichen Karriere von der Striptease-Tänzerin zur Oscar-gekrönten Autorin aus dem Stand zu beachtlicher Berühmtheit in Hollywood gebracht hat; aber auch der eleganten Regie von Jason Reitman, der sich nach seinem Achtungserfolg "Thank you for smoking" hiermit endgültig als besonderes Talent für die wahrlich unkonventionellen Geschichten aus dem Indie-Sektor empfiehlt.
Ein Film wie dieser steht und fällt aber vor allem mit den Darstellern, denn bei Charakteren, die sich derart aus sich selbst heraus definieren und eben nicht durch ihre Konflikte und Reibereien mit den anderen, braucht es große Könner, um die Figuren wirklich zum Leben zu erwecken und das Publikum mit ihnen mitgehen zu lassen. Und "Juno" ist auf jeder Position mit großartigen Könnern besetzt, seien es die versierten Charakterdarsteller J.K. Simmons und Allison Janney, die Nachwuchs-Hoffnung Michael Cera oder Superstar Jennifer Garner, die in diesem "kleinen" Film ihr wahres Können beweist.
Sie alle überstrahlt jedoch die gerade mal 20-jährige Ellen Page, die dank ihrer kindlichen Erscheinung absolut glaubhaft als 16 durchgeht und hier eine schauspielerische Palette unter Beweis stellt, die angesichts ihres Alters schlichtweg atemberaubend ist. Nach ihrem Aufsehen erregenden Auftritt in "Hard Candy" beweist Page hier endgültig, dass sie die vielleicht talentierteste Nachwuchsschauspielerin Amerikas ist. Ihre Oscar-Nominierung als beste Hauptdarstellerin ist da nur konsequent, und es wird garantiert nicht die letzte ihrer Karriere bleiben. Diese junge Frau hat noch sehr große Dinge vor sich.
Die großartigen Darsteller und die elegante Regie von Jason Reitman schaffen es, die subtile Magie im Skript von Diablo Cody zum Leben zu erwecken, und so entstehen aus den einfachsten Situationen denkwürdige und tief berührende Szenen, ohne dass auch nur eine Sekunde gezielt auf die Tränendrüse gedrückt wird - da ist schon Junos rotzfreche und unverblümte Klappe vor. Schließlich serviert dieser ganz und gar außergewöhnliche Film einen Schluss, der in einem Hollywood-Streifen unmöglich gewesen wäre, und schafft es dann sogar noch, eine Geschichte um eine ungewollte Teenager-Schwangerschaft mit einem Bild purer, süßer Unschuld zu beenden. Ein kleines Wunder am Ende eines kleinen, wundervollen Films.
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