Spätestens die Prequels zu „Star Wars“ haben Hollywood ja gezeigt, dass man sich mit der Vorgeschichte bekannter Bösewichte durchaus eine goldene Nase verdienen kann. Seitdem wurden, mit unterschiedlichem künstlerischen Erfolg, zum Beispiel die tragischen Ursprungsgeschichten zu solch Gegenspielern wie Batmans „Joker“, Spidermans „Venom“ oder Clarice Starlings „Hannibal Lecter“ erzählt. Auch Disney kassierte nach diesem Prinzip mit Dornröschens „Malificient“ bereits kräftig an der Kinokasse ab, und so kommt es nicht gerade überraschend, dass wir nun auch noch den Werdegang der bösen Cruella de Vil aus „101 Dalmatiner“ serviert bekommen, die einst armen Hundewelpen das Fell über die Ohren ziehen wollte.
Nun kann man berechtigterweise einwerfen, dass zu viel Hintergrundwissen und die damit oft einhergehende „Vermenschlichung“ dieser Schurken unserer Faszination für diese Figuren eher schadet als nützt. Aber wenn das filmische Ergebnis nachher solch ein energiegeladenes Spektakel wie „Cruella“ ist, kommt man selbst als größter Skeptiker nicht umhin den Hut zu ziehen. Mit einer gut aufgelegten Emma Stone und einem noch besser aufgelegten Regisseur wird der Film zu einem zwar oberflächlichen, aber ziemlich unterhaltsamen Ausflug in die wilde Welt einer rebellischen Hauptfigur voller kreativer Rachephantasien.
Zu Beginn des Filmes heißt Cruella dabei offiziell allerdings noch Estella (Emma Stone, „La La Land“, „Einfach zu haben“). Die junge Frau wird immer noch geplagt von Schuldgefühlen bezüglich des tragischen Todes ihrer Mutter vor einigen Jahren. Estellas großer Traum, eines Tages die beste Modedesignerin der Welt zu sein, ist noch immer in weiter Ferne. Stattdessen hält sie sich mit den beiden Gaunern Jasper (Joel Fry) und Horace (Paul Walter Hauser) im London der 1970er Jahre mit kleinen Diebstählen gerade noch so über Wasser. Als Estella es aber eines Tages schafft das Interesse der genauso legendären wie narzisstischen Design-Ikone Baronin von Hellman (Emma Thompson) zu wecken, sieht sie ihre große Chance. Noch ahnt sie aber nicht, welches dunkle Geheimnis ihren Karriereplänen schon bald eine ganz neue Motivation verleihen wird.
Alleine durch das Make-Up und den späteren Verlauf der Geschichte weckt die Figur der Cruella natürlich Assoziationen zu der des Jokers, dessen Ursprungsgeschichte Todd Haynes vorletztes Jahr zu einer Art düsterem psychologischen Drama verarbeitete. Ganz so weit möchte Disney aber natürlich nicht gehen, schließlich ist die Vorlage „101 Dalmatiner“ ja eine deutlich kinderfreundlichere Angelegenheit. Und so ist bei „Cruella“ kein Platz für Gewalt oder große psychologische Tiefe, stattdessen möchte man dem Publikum lieber eine wilde kreative Achterbahnfahrt bieten. Dass die Figurenentwicklung hierbei eher etwas kurz kommen wird, deuten dabei bereits schon solche Nachnamen wie „de Vil“ und „Hellman“ an.
Am Besten kommt in Sachen Charakterentwicklung noch die Hauptfigur weg, denn bei Estella werden zumindest ab und zu ein paar innere Konflikte angedeutet. Den Fokus legt man aber auch hier deutlich auf kreatives Spektakel, und so entwickelt sich die Figur im Laufe der Geschichte immer mehr in Richtung rebellierende Rockgöre, deren kreative Energie nicht nur für manche Schaufensterdekoration zerstörerische Folgen hat. Damit das junge Publikum aber nicht zu arg verschreckt wird, baut man immer wieder Szenen ein, in denen Estella ausführlich erklärt, was denn nun genau in ihr vorgeht und warum sie nun wie handelt. Egal, wie offensichtlich das eigentlich ist. Dank einer glänzend aufgelegten Emma Stone, die sich mit Inbrunst in diese Rolle wirft, sind diese sehr gezwungen wirkenden Momente aber glücklicherweise halbwegs ertragbar.
Ganz ohne Nuancen kommt aber ihre Gegenspielerin daher, denn Emma Thompson gibt eine klassische Disney-Bösewichtin ohne Gewissensbisse. Es birgt ja schon eine gewisse Ironie, dass viele Filme, die sich der Ursprungsgeschichte von Bösewichten widmen und dabei ein komplexeres Bild dieser Figuren zeichnen wollen, genau dafür wieder gerne auf Schurken der alten Sorte zurückgreifen. So ist Cruella im Vergleich zur kaltherzigen Baronin geradezu ein moralischer Engel, was die Identifikation des Publikums mit Cruella natürlich deutlich einfacher macht. Und so spielt Emma Thompson dann auch ihre Figur wie eine Karikatur, ist dabei aber glücklicherweise nicht nur hochmotiviert, sondern weiß vor allem genau, wie sie das Übertreten der feinen Grenze zwischen unterhaltsamem und nervigem Overacting vermeidet.
Garniert wird das Ganze dann noch mit den typischen Disney-Sidekicks, die hier in Form des Gaunerpärchens und ein paar niedlicher Hunde für Auflockerung sorgen. Hier zeigt sich dann auch wieder eine von Disneys größten Stärken, denn dem Film gelingt ein zwar nicht perfekter aber doch netter Mix aus kinderfreundlichen und „erwachseneren“ Gags, wodurch „Cruella“ bei allen Zielgruppen ordentlich punkten kann – sogar bei Fans von Tottenham Hotspurs. So liegen also die Zutaten für einen netten aber harmlosen Filmabend bereit, doch am Ende ist „Cruella“ deutlich mehr als das geworden. Und das liegt vor allem an dem Mann auf dem Regiestuhl.
Was Regisseur Craig Gillespie („Lars und die Frauen“, „I, Tonya“) in „Cruella“ leistet, kann man gar nicht hoch genug würdigen. Seiner Inszenierung erzeugt über weite Strecken des Films einen solchen Schwung und eine solche unbändige Energie, dass man davon richtiggehend angesteckt wird. Dafür plündert Gillespie unter anderem die Musikbibliothek der 70er Jahre und schießt mit fetzigen Songs aus allen Rohren, während er mit der Kamera leichtfüßig durch wunderschön gestaltete Settings schwingt. Ob großer Showdown oder einer der kleinen Einbrüche von Estellas Gang zu Beginn – fast alle Sequenzen sprühen vor Dynamik, kleinen kreativen Einfällen und jeder Menge Liebe zum Detail.
Bei „Cruella“ gibt es einfach immer etwas zu entdecken. Das Schöne dabei ist, dass zum Beispiel auch die vielen tollen Kostüme nicht einfach nur als netter Hingucker genutzt werden, sondern oft gleich eine aktive Rolle in der Geschichte übernehmen. Vor allem im Mittelteil, wenn Estella mit ihrem wildem Modespektakel ganz London erobern möchte, wird der Film dabei zu einem visuellen Hochgenuss. Wie eine Art Orkan fegt sie mit ihren wilden Einfällen nicht nur über die Stadt und die arme Baronin, sondern auch über das Publikum hinweg. Bezeichnend dafür ist eine wundervolle Szene mit einem Müllwagen, deren kreative visuelle Auflösung einer der coolsten Momente der letzten Filmjahre ist.
Ja, „Cruella“ mag in Punkto Figuren und Story oberflächlich bleiben und bei sogenannten Charaktermomenten manchmal auch etwas hölzern daherkommen. Doch was dort an Tiefe fehlt, macht der Film mit purer Energie und jeder Menge visueller Kreativität wieder wett. Und so gelingt Disney am Ende einfach wieder einmal richtig gute Unterhaltung für jung und alt. Also, bitte Anlage aufdrehen, zerbrechliche Gegenstände wegschließen und „Cruella“ ins heimische Wohnzimmer einladen – das wird definitiv ein kurzweiliger Abend.
"Cruella“ startet ab dem dem 27. Mai offiziell in den deutschen Kinos (wo verfügbar), was wohl aktuell eher ein optimistischer Wunsch als Realität ist. Ab dem 28. Mai steht der Film auf Disney+ zur Verfügung, gegen einen extra zu zahlenden "VIP-Zugang" für 22 Euro.
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