Man kommt, wenn man eine Kritik zu einem neuen Pixar-Film schreibt, einfach nicht umhin, wieder einmal darauf hinzuweisen, dass diese Produktionsfirma seit nunmehr zwölf Jahren mit Filmen wie "Toy Story", "Die Monster AG", "Findet Nemo" und "Die Unglaublichen" quasi im Alleingang die Meilensteine im Animationsbereich gesetzt hat, und dass es trotz der leichten Schwächen des letzten Ablegers "Cars" noch immer erstaunlich ist, mit welch scheinbar spielerischer Leichtigkeit es den Jungs und Mädels von Pixar nach wie vor gelingt, die Konkurrenz in Sachen Einfallsreichtum, Story-Genialität und Herzblut um Meilen hinter sich zu lassen. Und das Schönste ist: Sie kommen nicht auf die dumme Idee, sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen. Pixar definiert mit jedem Film den Standard im Animationsgenre neu, und ihre Filme sind dann am aufregendsten, wenn es nicht nur um technische, sondern auch erzählerische Innovationen geht. Genau deshalb ist "Ratatouille", erdacht von Brad Bird (der schon hinter dem bahnbrechenden "Die Unglaublichen" stand), auch der nächste Quantensprung des Genres - ein Film weit jenseits von allem, was die Konkurrenz auf die Beine bekommt, und künstlerisch der größte Schritt für Pixar seit "Toy Story".
Bereits die Grundidee ist in ihrer Ironie brillant: Held des Films ist die Ratte Remy, dummerweise mit einem sehr feinen Geschmacks- und Geruchssinn gesegnet und daher angewidert von der üblichen Ernährung seiner Artgenossen, die sich an Müll und anderem Verfaulten laben. Remy ist ein Gourmet und träumt davon, nach der Philosophie seines großen Vorbilds, dem verstorbenen Star-Koch Gusteau, selbst atemberaubende Köstlichkeiten zuzubereiten. Das Schicksal verschlägt Remy nach Paris, in die Küche von Gusteaus ehemaligem 5-Sterne-Restaurant, das nun unter der Führung des gierigen Geschäftemachers Skinner leidet. Dort schließt Remy ein Bündnis mit dem tollpatschigen Tropf Linguini, so dass dieser seinen Job in der Küche behalten und Remy sich heimlich als Koch betätigen kann. Doch Chefkoch Skinner wird schnell misstrauisch, und als Ratte in einer Restaurant-Küche lebt Remy höchst gefährlich….
Was bei "Ratatouille" natürlich als Erstes ins Auge springt, ist die Qualität der Animationen, die wieder einmal alles in den Schatten stellt, was man bisher im Kino gesehen hat. Bis zu den feinen Adern einer Karottenscheibe oder den Schattierungen einer Zwiebel sieht hier alles so unglaublich echt aus, dass man manchen Bildern wirklich nicht mehr ansieht, dass sie animiert sind. Das gilt vor allem für die üblichen Messlatten wie die Animation von Wasser oder Haaren, oder die natürlichen Bewegungen der Ratten. Was den Leuten von Pixar hier gelingt, lässt einem vor Staunen immer wieder die Kinnlade runter klappen.
Visuell berauschend ist "Ratatouille" auch deshalb, weil er auf wundervolle Weise die besondere Magie der Möglichkeiten eines Animationsfilms vor Augen führt, nämlich Bilder zeigen zu können, die eine reale Kamera niemals einfangen könnte. Das bezieht sich nicht nur auf die Sichtweise Remys, mit dem man hier aus Ratten-Perspektive die Welt erkundet, sondern vor allem auch auf das Wo und Wie seiner Fortbewegung. Da folgt man wie im Flug seinen flinken Füßen durch Abwasserkanäle und über Leitungsrohre, durch und hinter Wände, und das alles mit einer Rasanz, dass die entstehende Bilderflut geradezu atemberaubend wirkt. Wie schon zum Beispiel bei "Das große Krabbeln" gelingt es Pixar auch hier, allein durch die ungewöhnliche Perspektive aus einfachen Situationen ebenso faszinierende wie unglaubliche Action-Sequenzen zu zaubern.
Das wahrlich Besondere des Films, das, was ihn jenseits des technischen Spektakels über alles erhebt, was die Konkurrenz zustande bekommt, ist jedoch die Vertiefung in seine Figuren und die Geschichte. Hier führt Brad Bird fort, was er schon mit "Die Unglaublichen" (und - vor Pixar - mit seinem Debüt "Der Gigant aus dem All") begonnen hatte: Im familien- und kinderfreundlichen und daher eher flachen Animationsbereich schafft er glaubwürdige und komplexe Charaktere mit eben solchen Konflikten.
Das ließ die Geschäfts-Analysten nach dem im Pixar-internen Vergleich eher schwachen US-Start des Films mit "nur" knapp 50 Millionen Dollar Einspiel am ersten Wochenende schon unken, dass der Disney-Konzern deutlich zu viel bezahlt habe, als Pixar vor knapp zwei Jahren für 7,4 Milliarden aufgekauft wurde. Die ernsthafte Geschichte, der hintergründige Humor und nicht zuletzt die Tatsache, dass der komplett in Frankreich spielende und dadurch fast gänzlich un-amerikanische Film schwer zu vermarkten ist, sind in den Augen der Bilanz-Betrachter eindeutige Schwächen. "Ratatouille" ist tatsächlich ein "erwachsener" Film und deshalb für ein junges Publikum sicher nicht so erfüllend wie ein "Findet Nemo". Doch gerade dadurch, dass sich der Film von den einfachen Formeln eines Kinderfilms befreit, erreicht er eine neue Ebene, deren Erschließung für die Entwicklung des Genres weit mehr Wert ist als das oberflächliche Ergebnis an der Kinokasse.
Das beste Beispiel ist die Hauptfigur selbst. Remy ist nicht einfach ein von den eigenen Artgenossen unverstandener Sonderling, der sich nach etwas Besonderem sehnt. Für die Ratten hat sein außergewöhnlicher Geruchssinn seinen ganz eigenen wichtigen Nutzen, und Remys Vater, der Rudelanführer, ist durchaus stolz auf seinen Sohn. Für Remy geht es darum, sein Talent in dem Bereich zu nutzen, der seine eigentliche Leidenschaft ist, und dafür die scheinbar unüberwindliche Grenze zwischen Ratten und Menschen zu überwinden.
Das kann und soll als Parabel über jede Art von sozialer Abgrenzung gelesen werden, deren Überwindung zunächst unmöglich erscheint. Und das Credo von Remys Idol Gusteau - "Anyone can cook" - steht sinnbildlich dafür, Vorurteile zu überwinden und offen dafür zu sein, dass sich ein besonderes Talent an Orten und bei Personen finden kann, wo man nie damit gerechnet hätte. Wie schwierig das sein kann, illustriert der Film auf herrliche Weise durch die Kommunikation zwischen Remy und seinem menschlichen Kompagnon Linguini: Die Ratte kann den Menschen verstehen, der Mensch die Ratte aber nicht. Wie es Remy dennoch gelingt, den als Koch komplett unfähigen Linguini unbemerkt bei der Zubereitung fabulöser Köstlichkeiten anzuleiten, wirkt zwar unglaubwürdig, erweist sich aber als genialer Einfall für eine endlose Reihe visueller Gags und toller Szenen.
Was "Ratatouille" auszeichnet, ist sein Mut zum Anderssein. Schon bei "Die Unglaublichen" verzichtete Brad Bird auf die Einhaltung strikter filmdramaturgischer Richtlinien und ließ sich mehr Zeit mit der Entwicklung seiner Figuren, während er gleichzeitig das Tempo im Showdown beschleunigte. Dasselbe ist auch hier der Fall, weshalb der Film in der ersten Stunde vergleichsweise gemächlich erscheint, sich dann aber die Ereignisse überschlagen. Das ist mitnichten schlecht, sondern eben angenehm anders und ganz im Sinne der starken Figuren.
Auch bei diesen geht Pixar übrigens mutige eigene Wege, nämlich in Bezug auf die Synchronsprecher. Während die Konkurrenz immer mehr dazu übergeht, Animationsfiguren um einen prominenten Sprecher herum zu kreieren (bestes Beispiel: das Star-Aufgebot bei "Shrek" mit Mike Meyers, Cameron Diaz, Eddie Murphy und Antonio Banderas), stellt Pixar die Stimme ganz in den Dienst der Figur. Deswegen ist die Sprecherliste der Original-Version längst nicht so illuster wie anderswo, die Leistungen der Akteure aber umso großartiger. Denn hier geht es wirklich darum, die Figur zum Leben zu erwecken, und nicht so zu tun, als sähe man hier eigentlich einen großen Star auf der Leinwand. [Bedauerlicherweise wird davon einiges in der deutschen Version verloren gehen: Der Verleih hat zum Beispiel bereits angekündigt, dass TV-Küchenstar Tim Mälzer die kleine Rolle des deutschen Kochs Horst übernehmen wird - da passen Figur und Sprecher leider überhaupt nicht zusammen]
Man lacht bei "Ratatouille" vielleicht nicht ganz so viel wie bei früheren Pixar-Filmen (aber immer noch mehr als genug), aber dafür wird man entlohnt mit einer wirklich originellen, einzigartigen und besonderen Geschichte. Da fällt auch das Finale weit weniger spektakulär aus als zum Beispiel bei den "Unglaublichen", dafür ist es aber umso schöner. Der Moment, in dem Linguini und Remy den düsteren Restaurantkritiker-Papst Anton Ego für sich gewinnen, ist ebenso überraschend wie wundervoll herzerwärmend, und Egos abschließender Artikel ist ein weises und rührendes Resümee eines geläuterten Snobs, das sich auch die allermeisten Filmkritiker auf die Fahnen schreiben sollten.
Genug gesagt. "Ratatouille" ist der nächste Meilenstein des Animationsgenres, und jeder wahre Kino-Liebhaber sollte diesen Film sehen. Punkt.
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