Cint Eastwood macht keine halben Sachen. Und auch wenn ihm die Frage "Oscar oder nicht?" wohl am Allerwertesten vorbei geht, droht der Konkurrenz wieder der Eastwood-Doppelschlag, da nach seinem Prestigeobjekt "Der fremde Sohn" noch "Gran Turino" folgt - ein intimes Drama, das wohl alles anders macht als dieses epische Ausstattungsstück und (geplante?) Oscarvehikel für Angelina Jolie hier, und damit vielleicht mehr Academy-Mitgliedern gefallen wird. Dass es mit den Oscars für "Der fremde Sohn" wohl schwierig wird, liegt nicht nur an der gemischten Resonanz auf den Film seit seinem Debüt in Cannes im Frühjahr 2008. Sondern eben auch an den unübersehbaren Schwächen, die wir leider hier auch konstatieren müssen und die "Der fremde Sohn" zu einer milden Enttäuschung machen. Mild deshalb, weil ein Clint Eastwood keinen wirklich schlechten Film abliefert und es vermutlich auch gar nicht könnte. Enttäuschung aber, weil es eben auch kein wirklich guter Film geworden ist. Stattdessen bleibt "Der fremde Sohn" irgendwo im Mittelmaß hängen, was man angesichts der zweifellos interessanten Story und der fähigen Hauptdarstellerin nicht unbedingt erwartet hätte.
Angelina Jolie spielt Christina Collins, eine allein erziehende Mutter im Los Angeles der späten 1920er Jahre. Als eines Tages ihr zehnjähriger Sohn Walter spurlos verschwindet, bricht für sie eine Welt zusammen. Während die Zeit vergeht, sieht sich die ohnehin schon mit Imageproblemen geplagte Polizei von Los Angeles unter Zugzwang, auch weil der Priester mit Radioshow Briegleb (John Malkovich) fortwährend die Korruption der Ordnungshüter anprangert. Ein Erfolg muss her. Als man in Illinois einen Jungen aufgreift, der sich Walter Collins nennt, ist die Freude beim zuständigen Polizeicaptain in L.A. (Jeffrey Donovan) groß. Zufrieden präsentiert er Christina ihren wiedergefundenen Sohn unter den Augen der Presse. Ein spektakulärer Coup für gute Publicity, wenn es da nicht ein Problem gäbe: Christina weiß sofort, dass das ihr präsentierte Kind nicht ihr eigenes ist. Proteste der verzweifelten Mutter werden mit hanebüchensten Gründen und Erklärungen abgeschmettert, und als sich Christina partout nicht mit der offiziellen Polizeiversion der Dinge abfinden will, greift diese zu anderen Maßnahmen, um Christinas Proteste zu ersticken....
Polizeikorruption in der Stadt der Engel - ein Thema, das schon einiges an Filmklassikern abgeworfen hat, insbesondere die Gold-prämierten Meisterwerke "Chinatown" und "L.A. Confidential", und zudem auch Stoff für herausragende TV-Serien lieferte (gerade beendet: "The Shield"). In diese Reihe wird sich "Der fremde Sohn" nicht stellen können, obwohl sein Einblick in die damaligen Verhältnisse ausgesprochen interessant ist, besonders der Blick auf den "Code 12", mit dem die Polizei damals unliebsame weibliche "Probleme" entfernte, in dem man sie der Hysterie oder mentalen Instabilität bezichtigte und kurzerhand in die Nervenklinik sperrte, ohne offizielle Anordnung oder Möglichkeiten eines Einspruchs.
Die Opfer waren dann auch keineswegs psychisch pflegebedürftig, sondern der Polizei ein Dorn im Auge: Unkooperative Huren, von ihren Polizisten-Ehemännern misshandelte Frauen oder eben Frauen wie Christina Collins, die "nicht ihren Platz kannten". Dass diese in sich ausgesprochen spannende und interessante Geschichte leider recht unspannend und uninteressant umgesetzt wurde, ist das Problem von "Der fremde Sohn".
Klar, das ist alles mehr als solide, besonders im technischen Bereich: gut ausgestattet, gut gefilmt, keine Frage. Aber es ist eben doch fast Langeweile, dies allerdings auf erlesenem Niveau. Das größte Problem ist J. Michael Straczynskis Drehbuch, das sich heillos verzettelt. Straczynski zeigte ja vorher mit seinem Opus Magnum "Babylon 5", wie gut er sich auf verkeilte und schwierige Storylines versteht, aber hier erzählt er einen Haufen großer und kleiner zusammenhängender Geschichten, die kein stimmiges Ganzes ergeben. Und das zudem ohne den emotionalen Effekt, der seine beste Arbeit auszeichnet. Emotional regt sich da so gut wie gar nix. Da kann Angelina Jolie fast so schön wie Sinead O'Connor damals im "Nothing Compares 2 U"-Video eine Träne die Wange herunterkullern, sie wird alleine weinen.
Vielleicht war Straczynski, der über die unglaubliche Geschichte der Christina Collins durch Zufall stolperte und dann über Jahre akribisch recherchierte, zu nah dran an den Objekten des Interesses. Und so musste alles mit rein, besonders in großem Maße die "Wineville Chicken Co-op Murders", unter denen die Taten des Gordon Northcott bekannt wurden. Aber diese Ermittlungen nehmen zuviel Platz ein, sind auch fürs Erzähltempo problematisch und lenken immer wieder von dem eigentlichen emotionalen Zentrum des Films, Christinas verzweifeltem Kampf ums Gehörtwerden, ab.
Durch das ständige Wechseln des Interesses ist der wahre "changeling" - also ein Wechselbalg - des Originaltitels nicht der kleine Walter, sondern der Film selbst. Teils Melodram, teils Horrorfilm, teils Anstaltsdrama, teils Polizeifilm, teils Justizdrama - "Der fremde Sohn" ist von allem ein bisschen und von allem zu viel oder zu wenig. Zudem ist Eastwood neben diesen Sprüngen im Erzählton und -kontext bei der Umsetzung der Szenen ebenfalls nicht viel Interessantes eingefallen, "Routine" möchte man da sagen, die in ihrer gewohnten Eastwood-Gemächlichkeit soviel Zeit fordert, dass wichtige Erzählteile dafür unter den Tisch fallen. So erfährt man nie auch nur ansatzweise, was den Radiopfarrer Briegleb zu seinem erbitterten Kampf gegen die korrupte Polizei von L.A. treibt.
Hier liegt eines der größten Probleme von "Der fremde Sohn" in klein vor. Wir sehen die Figuren in ihrem perfekt nachgebildeten Umfeld, aber wir erfahren nicht, was sie antreibt. Selbst bei der Hauptperson hätte man sich da etwas mehr gewünscht, über weite Teile des letzten Filmdrittels wird Jolie sogar dazu verdammt, unter den Damenhüten der Zeit nur traurig und gleichzeitig sehr hübsch auszusehen. Immerhin darf sie vorher ein wenig Charakterzüge zeigen, was nicht jedem vergönnt ist. Briegleb etwa ist nur der Mann der gerechten Sache, Jeffrey Donovan als der zuständige Polizeioffizier darf nur wahlweise grinsender Populist und wütender Bösewicht sein.
Der Großteil der Figuren hier wird mit der gleichen Subtilität gezeigt wie damals Maggies Redneckfamilie im "Million Dollar Baby", nämlich gar keiner. Das gilt auch für den Kindermörder Gordon Northcott, dessen kicherndes Psychopathentum aber dank der Darstellerleistung von Jason Butler Harner trotzdem wohlwollend in Erinnerung bleibt. Aber gerade sein endgültiges Schicksal zeigt nochmal die Problematik der Umsetzung von Straczynski und Eastwood auf, da es sich Eastwood nicht verkneifen konnte, durch seine Inszenierung noch ein politisches Statement zu machen, das hier kaum hin gehört.
Leider leistet sich der Film überhaupt gegen Ende einige Schlenker zuviel, endet eher Höhepunkt-arm in doppelten Gerichtsdrama-Sequenzen, denen leider das Drama fehlt, und bemüht sich dann auch noch so umständlich wie vergeblich, auf einer positiven Note zu enden. Eine Folge ist, dass der Film mit deutlich über zwei Stunden auch eindeutig zu lang geworden ist, denn obwohl man sich nie wirklich langweilt, hätte ihm beizeiten eine nötige Straffung gut getan.
Das fällt auch im Mittelteil auf, in dem Christina "zur Beobachtung" (natürlich zum Mundtotmachen) in eine Nervenklinik eingeliefert wird. Dass Eastwood hier nochmal alle aus Anstalts- und Knastfilmen bekannten Stereotypen wie die Zwangsdusche mit Gartenschlauch wiederholt, hätte nicht sein müssen. Dass dieser Ort ganz furchtbar ist, hätten wir auch so verstanden. Und dass die sadistisch guckende Krankenschwester, die nur zu gern den Strom der Elektroschockapparatur anwirft, der schlimmsten aller Film-Anstaltsdamen (Nurse Ratched aus "Einer flog übers Kuckucksnest") wie aus dem Gesicht geschnitten ist, spricht auch nicht gerade für Eastwoods Abneigung gegenüber Klischees.
"Der fremde Sohn" zeigt insgesamt ähnliche Probleme des Sich-Verzettelns wie "Flags Of Our Fathers", obwohl die Geschichte hier weit weniger episch angelegt ist, oder zumindest sein sollte. Aber es zeigt sich eben doch dass Eastwood, der Regisseur, Eastwood, dem Schauspieler ähnelt: no frills, no fancy stuff, würde der Amerikaner da sagen. Geradlinig und direkt geht Eastwood zu Werke, was geradlinigen und direkten Werken wie "Mystic River" und "Million Dollar Baby" zu Gute kam. Wenn es dagegen zu ambitioniert wird, sei es in Erzählform oder Erzähltem selbst, zeigt sich, dass das lässig-coole Arbeitsethos Eastwoods auch seine Grenzen hat. Nicht umsonst bildete der deutlich geradlinigere "Letters From Iwo Jima" den weitaus stärkeren Teil seines Kriegsfilm-Doppelwhoppers.
Und so reiht sich "Der fremde Sohn" zu "Flags Of Our Fathers" in die Reihe der noblen Fehlschläge. Ein Film mit Ambitionen und wie gesagt wunderbaren Schauwerten, aber ohne Herz und letztlich ohne größeres Interesse. Es ist schade, aber "Der fremde Sohn" bleibt einem ein sonderbar fremder Film.
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