Falls das Multiverse wirklich existiert, würde ich gerne in einem Universum leben, in dem „Spider-Man: No Way Home“ als Oscar-Favorit gilt. Leider lebe ich derzeit aber in einem Universum, in dem es die Academy wohl nicht sonderlich beeindrucken wird, dass Kinosäle weltweit in einen kollektiven Rausch verfallen. Zugegeben: Vielleicht mangelt es auch einfach an der passenden Kategorie. Doch dazu später mehr.
Für mich persönlich war „No Way Home“ vielleicht die bislang intensivste Kino-Erfahrung meines Lebens. Sicherlich gab es schon Filme, die mehr Originalität, mehr Spannung, mehr Bildgewalt, mehr Humor und mehr Schauspielkunst zu bieten hatten. Vor allem fehlt es Regisseur Jon Watts, der bereits „Homecoming“ und „Far from Home“ inszenierte, weiterhin an einem eigenen Stil – im Gegensatz etwa zu Chloé Zhao („Eternals“), Ryan Coogler („Black Panther“) oder Taika Waititi („Thor: Tag der Entscheidung“). Im klassischen Sinn ist „No Way Home“ deshalb kein herausragender Film. Allerdings ist „No Way Home“ auch kein Film, der nach klassischen Maßstäben bewertet werden sollte.
Am Ehesten drängt sich wohl der Vergleich mit „Endgame“ auf, der Fanservice in einem Ausmaß lieferte, wie man es bis dahin kaum kannte: ein episches Geschenk für alle, die sich elf Jahre zuvor mit Iron Man, Thor und Captain America auf eine lange Reise begeben hatten. Spoilerfrei kann ich nur so viel verraten: Der Fanservice in „No Way Home“ hat wiederholt für (berechtigte) Jubelstürme im Publikum gesorgt. Gleichzeitig ist „No Way Home“ der mit großem Abstand heftigste Tearjerker im Marvel-Universum. Vor allem im letzten Drittel reihen sich die herzzerreißenden Szenen förmlich aneinander.
Warum der Film für mich ein so intensives Erlebnis war, lässt sich aber nur mit Spoilern erklären, die – wer wirklich gar nichts wissen möchte, sollte direkt zum letzten Absatz springen – mit den Charakteren zu tun haben, die hier auftauchen. Bekanntermaßen öffnet sich dank eines misslungenen Zaubers von Dr. Strange (Benedict Cumberbatch), der dem nun der ganzen Welt als „Spider-Man“ bekannten Peter Parker (Tom Holland) helfen möchte, das Multiverse. Das führt dazu, dass Charaktere aus den Universen früherer „Spider-Man“-Filme in das Avengers-Universum gezogen werden, darunter – letzte Spoiler-Warnung – neben Schurken wie Green Goblin (Willem Dafoe), Doc Ock (Alfred Molina) und Electro (Jamie Foxx) auch die einst von Tobey Maguire und Andrew Garfield verkörperten Hauptfiguren.
Dass das passieren würde, war nach allen Gerüchten, die es im Vorfeld über den Film gegeben hatte, im Prinzip klar; nicht erwartet hatte ich allerdings die emotionale Tiefe. Es kämpfen nicht einfach nur drei Spider-Männer gemeinsam gegen mehrere Schurken – was an sich schon phänomenaler Fanservice ist –, es kämpfen auch drei Peter Parkers gemeinsam gegen all den Zorn und all die Trauer, von denen sie auf unterschiedliche Weise betroffen sind und waren. „No Way Home“ fühlt sich deshalb nicht nur wie ein Abschluss der „Home“-Trilogie an, sondern auch wie eine Ergänzung zu den Storylines der Maguire- und Garfield-Filme.
Insbesondere der Garfield-Spidey bekommt mit einer Szene, die große Teile des Publikums offenbar kurz vergessen ließ, dass das Geschehen auf der Leinwand nicht real ist, einen würdigen Abschluss, der ihm durch das überraschende Ende seiner Filmreihe jahrelang verwehrt blieb. Tobey Maguire nach fast 15 Jahren noch einmal mit seiner eher schüchternen Spidey-Interpretation zu sehen, ist ebenfalls unglaublich befriedigend. Normalerweise hasse ich es, wenn das Publikum lautstark auf das Leinwand-Geschehen reagiert, aber an dieses kollektive Glücksgefühl, als erst Andrew Garfield und dann Tobey Maguire im Bild erscheint, werde ich mich noch lange erinnern. Der Oscar für den besten Fanservice des Jahres geht deshalb an „Spider-Man: No Way Home“. Zumindest in meinem Herzen.
Wer nun beim Blick auf die Bewertung mit dem Gedanken spielt, zum ersten Mal überhaupt einen „Spider-Man“-Film zu gucken, sollte sich allerdings bewusst sein, dass die Erfahrung eine ganz andere sein wird. Für viele Anspielungen dürfte beispielsweise das nötige Wissen fehlen. Aber auch als Nicht-Fan sollte man eine Geschichte mit viel Herz erkennen können – und die beeindruckende Action-Szene, in der Spidey und Dr. Strange durch Raum und Zeit kämpfen, sowieso.
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