"Martin - das ist doch eine psychologische Frage. Schreist du ,Barracudas!', sagen die Leute ,Hä, was?' Schreist du aber ,Haie!', dann haben wir am vierten Juli eine handfeste Panik."
Die unangenehmsten Sachen passieren immer zu den unpassendsten Momenten, sonst wären sie ja auch nur halb so unangenehm. Verstauchte Zehen just an Weihnachten, Blinddarmreizungen am Wochenende und spontaner Grillbesuch nach Ladenschluss sind da noch die harmloseren Varianten. Wie peinlich ein Zusammentreffen von unvorhergesehenen Zwischenfällen zu ungünstigen Zeitpunkten aber wirklich werden kann, wenn es um nicht weniger geht als Leben und Tod, zeigt uns Steven Spielberg in "Der Weiße Hai", der im Original viel kürzer und viel passender "Jaws" heißt, "Kiefer" - denn nur darum geht es: um große Zähne in einem großen Maul und wie man ihnen entkommt. Oder eben auch nicht.
Es ist ein ziemlicher Männerfilm, den Spielberg hier hergestellt hat, und trotzdem avancierte "Der Weiße Hai" mit seiner damals revolutionären Verleih- und Werbe-Strategie zum ersten Sommer-Blockbuster in der amerikanischen Filmgeschichte. Keine Romantik, kaum Herz, nur reichlich Schmerz, viel Blut, gore, Tod und Panik (selbst ohne die Szenen, die der Zensur zum Opfer fielen): Auch damit lässt sich also gut Geld verdienen, wenn man es schlau anstellt. Und schlau hat das Kino-Wunderkind Spielberg sein zweites Leinwand- Werk (und seinen ganz großen Durchbruch) tatsächlich aufgezogen. Eine ganze Stunde des nicht gerade kurzen Films ist schon vorbei, bis das Untier, das ihm seinen Namen gab, überhaupt zum ersten Mal ins Bild kommt.
Das ist ein kleines, aber feines Detail, das man wegen der buchstäblich mörderischen Spannung, die "Der Weiße Hai" von der ersten Minute an aufbaut, ganz schnell übersehen kann. Aber es zeigt, was wahrscheinlich eins der Erfolgsgeheimnisse dieses Films war und ist: Er spielt mit nicht wirklich dringlichen (einem Hai zum Opfer zu fallen ist ungefähr so wahrscheinlich wie als Lottojackpot-Gewinner vom Blitz getroffen zu werden), aber sehr tief verankerten menschlichen Ur-Ängsten vor all dem Unnennbaren, Unsichtbaren, Unbekannten, das ständig irgendwo "da draußen" im Dunklen lauert, während wir seelenruhig im strahlenden Sonnenschein unsere Füße ins lauwarme Meerwasser halten und gar nicht daran denken mögen, was sich denn in diesem weiten Wasser für fiese Dinge rumtreiben. Zuletzt hat uns dieses Unbehagen "Open Water" als Kammerspiel auf hoher See eindrucksvoll vorgeführt - und war damit selbstverständlich dem Klassiker von 1975 tief verpflichtet.
"Der Weiße Hai" ist als Monster-Horrorfilm nicht neu, aber wahrscheinlich hat Spielberg als erster unser aller träge, entspannte Sommerferienidylle um einen ziemlich realen Schrecken bereichert, der stilbildend geworden ist - und wohl bis heute für manch unbehaglichen Gedanken im Kopf von Sonnenurlaubern auf dem Strandtuch in den schönsten Wochen des Jahres verantwortlich ist. Haie als Quotenhit sind erst seit "Jaws" etabliert, seitdem aber derart fest, dass man es sich gar nicht mehr anders vorstellen kann.
Nicht ohne Grund hat "Der Weiße Hai" - dann allerdings ohne Spielberg - nicht weniger als drei Sequels bekommen, von denen allerdings eins schlechter ist als das andere. Höchstens Nummer zwei (von Jeannot Szwarc, 1978) ist noch ansehnlich, der dritte (Joe Alves, 1983) und vierte Teil (Joseph Sargent, 1987) sind kaum noch der cineastischen Rede wert, auch wenn der Hai immer größer und technisch um vieles ausgereifter wurde als Spielbergs Pappkamerad, der bei der ersten Wasserung prompt auf den Meeresboden absoff.
Eine hervorragend erzählte Story hat der Film übrigens auch: Im amerikanischen Muster-Ostküsten-Inselstädtchen Amity, das verdächtig aussieht wie der Präsidenten-Ferienort Martha's Vineyard (tatsächlich wurde der Film da gedreht, inklusive der Originaleinwohner, für die Massenpanik), wird eine junge Frau des Nachts offensichtlich von einem Hai getötet. Polizeichef Martin Brody (Roy Scheider) will daraufhin alle Badestrände sperren lassen - aber nicht mit Bürgermeister Larry Vaughn (Murray Hamilton): Die Vorbereitungen für die Sommersaison laufen auf Hochtouren, eine Sperrung würde eine finanzielle Katastrophe für den Ort bedeuten. Auch hier passieren also die unangenehmsten Dinge zum unpassendsten Zeitpunkt, und Sicherheit steht mal wieder gegen Profit. Die Gefahr ist offensichtlich vorhanden und nicht eingebildet, aber weit entfernt und kaum richtig konkret, die Strände bleiben jedenfalls geöffnet, was dem Riesenfisch neue Nahrung beschert und die Lage weiter verschärft. Schließlich macht sich Chief Brody selbst zusammen mit dem Ozeanographen, Meeresbiologen und wissenschaftlichen Eierkopf Matt Hooper (Richard Dreyfuss) und dem arroganten, knurrigen Hochseefischer und maritimen Kopfgeldjäger Quint (Robert Shaw - "eine schillernde Persönlichkeit", meint Chief Brody mit gewaltiger Untertreibung) auf, um dem Monster Paroli zu bieten.
Ein klassischer Überheblichkeits-Katastrophenfilm also, könnte man meinen, aber weit gefehlt: Spielberg schafft das Kunststück, den Konsumenten in den Film hineinzunehmen, zunächst ganz klassisch durch suspense und üble Vorahnungen, aber dann auf eine wirklich atemraubende Art und Weise. Etwa zur Mitte des Films führt er uns vor, wie es ist, wenn man nur Zuschauer sein darf und nichts ausrichten kann. Publikum ist auch massenhaft da, wie im Kino - nur dass es hier ein Strand ist, eben an jenem 4. Juli, an dem der Bürgermeister unbedingt die Feriengäste in Amity haben wollte. Alle sehen also zu, müssen zusehen, wie der Hai sich sein drittes Opfer holt, nur wenige Meter vom Ufer entfernt. Und keiner kann irgendetwas tun, genau wie der Kinobesucher, der in seinem Sessel die Dreiecksflosse schon viel eher gesehen hat als der arme Tropf im Segelboot. Diese ganze Sequenz, die eigentlich ein kleiner Film im Film ist, demonstriert Spielbergs Meisterschaft in aller brutalen Deutlichkeit und mit filmhistorischer Raffinesse.
Die Hafenszene ist gleichzeitig der Scheitelpunkt jener Parabel, in die der Meister den ganzen Film eingehängt hat. Es beginnt als intimes Badevergnügen im Dunklen, mit zwei betrunkenen Teenagern, von denen einer eben nicht wieder aus dem Wasser steigt. Mit jedem neuen Opfer zieht der Schrecken weitere Kreise, um schließlich in der Massenpanik am Unabhängigkeitstag zu gipfeln. Ab jetzt geht die Kurve wieder steil abwärts. Erst ist die Jagd nach dem Hai eine Sache der Troika Quint/Brody/Hooper auf ihrem morschen Kahn, und ganz am Ende wird er zum Zweikampf. Spielberg zitiert sich hier, wenn man so will, selbst - sein erster Kinofilm, "Duell" handelte schließlich auch von nichts anderem als einem gehetzten Zivilisationsbürger mit einem monströsen Unbekannten auf den Fersen. "Der weiße Hai" ist zum Schluss nichts anderes als ein Wasserwestern, "Zwölf Uhr Mittags" im Atlantik, bei dem sich die Kontrahenten im shoot-out gegenüberstehen. Dieses Meer ist zu klein für sie beide, und einer muss dran glauben - ein genialer Schlusspunkt einer gewitzten Idee, die den ganzen Film trägt und die man so im Kino noch nicht gesehen hat.
Das Übrige tut schon fast allein John Williams' Oscar-prämierte Musik, die zum modernen Klassiker geworden ist: Die dunklen Streicher kündigen das Erscheinen des "Titelhelden" an, und wenn das Filmorchester die Kontrabässe zu zersägen scheint, kann man neuen Unheils gewiss sein. Ein paar geschickt eingestreute Horrorgeschichten des alten Fahrensmanns Quint aus dem Krieg verursachen überdies schon beim Zuhören ein unangenehmes Gefühl in der Magengrube. Am Ende rücken die Männer auf Quints Boot in ihrer Verzweiflung dem Hai mit Stangen und Haken zu Leibe - ein Rückfall in ganz alte Zeiten, nachdem die Technik einschließlich eines supermodernen Haikäfigs vor der Gewalt der Natur spektakulär versagt hat. Chief Brody sieht am Ende noch älter aus als am Anfang, und auch der Zuschauer wird mitgelitten haben im Kinosessel oder auf dem Wohnzimmersofa.
"Der weiße Hai" aber, der in diesen Tagen seinen dreißigsten Kinogeburtstag feiert, ist zeitlos schön, zeitlos schrecklich und zeitlos spannend - und das ist nicht wenig für einen Film, der ganz ohne Liebesdrama und Sozialkonflikte auskommt.
Steven Spielbergs Meisterwerk, das uns auf ewig die unbeschwerte Lust am Planschen genommen hat, wirkt naturgemäß gerade jetzt im Sommer besonders gut. 2004 gab es weltweit insgesamt 61 Haiangriffe. Bis zu sieben Meter große weiße Haie schwimmen sogar im Mittelmeer. Mit sägeartig gezackten Zähnen von bis zu fünf Zentimeter Länge. Die meisten Attacken passieren ganz nah am Strand, in nur einem Meter Wassertiefe.
Lust auf Strandurlaub?
Schlauchboot?
Wellenreiten?
Niemand?
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