
Das Thriller-Genre basiert auf einer simplen Prämisse: Ein Protagonist wird durch eine Welt gehetzt, in der sich alles gegen ihn verschworen zu haben scheint, und er hat keine Ahnung, wieso. In seiner reinsten Form wirft der Thriller einen komplett ahnungslosen Normalo in diese paranoide Hatz, in der potentiell jeder ein Feind und Jäger sein könnte, und der Held so gut wie auf sich allein gestellt ist um die große Schweinerei aufzudecken, die der Grund für die scheinbar unerklärlichen Ereignisse ist, die ihm widerfahren. Viele große Regisseure (allen voran der stilprägende Alfred Hitchcock) haben sich mit denkwürdigen Ergebnissen an diesem kunstvollen Verwirrspiel versucht, bei dem es gilt, die Zuschauer bis zur so spät wie möglich liegenden Auflösung des Rätsels gespannt und gepackt zu halten.
Man hat schon eine ganze Weile keinen solch reinrassigen Thriller mehr gesehen, der die grundsätzlichen Elemente seines Genres derart perfekt und konsequent umsetzt wie der neue Film des Spaniers Jaume Collet-Serra ("House of Wax", "Orphan - Das Waisenkind"). "Unknown Identity" ist schon jetzt ein Überraschungshit, der sich an den US-Kinokassen gegen gewichtige und stark beworbene Animations-Konkurrenz durchgesetzt und die Chartspitze erobert hat. Und das absolut zurecht. Viel besser als hier kann man einen Thriller nicht machen.
Das Setting ist absolut klassisch: Der harmlose Botaniker Dr. Martin Harris (Liam Neeson) reist mit seiner Frau Elizabeth (January Jones) zu einem Kongress nach Berlin und vergisst am Flughafen aus Versehen seinen Aktenkoffer. Als er seine Frau im Hotel zurücklässt und mit einem Taxi zurück zum Flughafen fahren will, um den Koffer zu holen, gerät er in einen Autounfall und landet in der eiskalten Spree. Er überlebt nur äußerst knapp und liegt vier Tage im Koma, bevor er im Krankenhaus wieder aufwacht. Mit einigen Erinnerungslücken, was die Umstände seines Unfalls betrifft, bricht Martin sofort auf, um seine Frau ausfindig zu machen, die sicher seit Tagen panisch nach ihm sucht. Doch als er im Hotel eintrifft muss er feststellen, dass an der Seite seiner Frau bereits ein anderer Dr. Martin Harris steht, und auch Elizabeth verhält sich, als hätte sie ihn noch nie in ihrem Leben gesehen. Was zum Teufel…?
In der Konstruktion der klassischen Thriller-Situation, den Protagonisten so hilflos wie nur irgend möglich zu machen, leistet "Unknown Identity" großartige Arbeit. Martin ist in einem fremden Land, dessen Sprache er nicht spricht. Er hat keinen einzigen Ausweis bei sich, also nichts, was seine Identität belegen könnte. Nichts, womit er die Polizei oder sonst irgendwen überzeugen könnte, dass er die Wahrheit sagt und der andere Dr. Harris ein Betrüger sein muss. Er kennt niemanden, kann sich nirgendwo Zugang verschaffen, hat kaum Geld. Der Film treibt die Verunsicherung seines Helden schließlich kongenial auf die Spitze mit einer Szene, in der Martin einen Kollegen aus Deutschland zu überzeugen versucht, dass er und nicht der andere Harris es war, der mit ihm gemailt und telefoniert hat - nur um zu erleben, wie der andere Harris seine Sätze vervollständigt und dieselben persönlichen Details erzählt, die er gerade vorbringen wollte. Da kann man es gut nachvollziehen, dass Martin langsam anfängt, am eigenen Verstand zu zweifeln.
Wie es sich für einen guten Thriller gehört, reizt "Unknown Identity" diese Phase der permanent wachsenden Verunsicherung und Bedrohung (denn natürlich tauchen bald finstere Herren auf, die Martin nach dem Leben trachten) genüsslich aus, so weit er kann, und lässt seinen Helden sowie das Publikum lange zappeln, bevor er die ersten Spuren auf der Schnitzeljagd zur endgültigen Auflösung des großen Mysteriums streut.
So gibt es in dramaturgischer wie inhaltlicher Hinsicht absolut nichts zu bemängeln: Ein Thriller soll ein fesselndes Geheimnis um eine mysteriöse Verschwörung aufbauen und so lange wie möglich verschleiern, was tatsächlich vorgeht. Dann liefert er eine Auflösung, die nicht nur dem bisher Gezeigten bei genauer logischer Betrachtung standhält, sondern auch noch so einfach und überraschend ist, dass das Publikum rundum zufrieden nach Hause geht - und nicht nach grandiosem Spannungsaufbau mit einem schalen Schluss abserviert wurde. All das leistet "Unknown Identity" absolut vorbildlich.
Und auch der Rest stimmt: Regisseur Collet-Serra hat bei den Kollegen gut aufgepasst und inszeniert seinen Film auf absoluter Höhe der Genrezeit. Der raue, kühle Stil seiner Inszenierung mit einer dynamischen Kamera erinnert nicht von ungefähr an die "Bourne"-Trilogie, die wegweisenden und besten Thriller des letzten Jahrzehnts. Es wird viele indes beruhigen zu hören, dass Collet-Serra nicht wie Kollege Paul Greengrass auf Handkamera setzt, sondern schön beim Dolly bleibt und es hier nicht wackelt, auch nicht, wenn's wild wird. Das tut es indes ohnehin nicht allzu oft, denn "Unknown Identity" ist eben ein klassischer Thriller, ohne "Action-" davor.
Das heißt indes auch, dass mehr Verantwortung auf den Schultern der Schauspieler lastet, die sich nicht darauf verlassen können, dass die Action-Schauwerte das Publikum bei der Stange halten. Auch hier gibt es nichts zu meckern: Liam Neeson ist als Protagonist hervorragend, meistert sowohl die schauspielerisch anspruchsvollen Parts und beherrscht auch die Actionszenen souverän (er entwickelt sich auf seine alten Tage ja ohnehin immer mehr zu einem späten Actionhelden, siehe "96 Hours", "Das A-Team"). January Jones hat spätestens mit ihrer Rolle in der preisgekrönten Fernsehserie "Mad Men" bewiesen, was für eine großartige Schauspielerin sie ist, und funktioniert hier perfekt als undurchschaubare Ehefrau. Und auch die Dank des Settings (und Drehorts) in Berlin reichhaltig vertretenen deutschen Schauspieler machen ihre Sache durch die Bank sehr gut. Das gilt, jawohl, auch für Diane Kruger als Taxifahrerin Gina, die neben Bruno Ganz als ehemaliger Stasi-Schnüffler zu den wenigen Freunden und Helfern gehört, die Martin in Berlin findet. Außerdem u.a. noch zu sehen: Sebastian Koch als brillanter Wissenschaftler, Stipe Erceg als Auftragskiller, Karl Markovics als sorgsamer Arzt und Eva Löbau als hilfreiche Krankenschwester.
Überhaupt, Berlin. Die Stadt ist der heimliche zweite Hauptdarsteller des Films, liefert nicht nur die bekannten Postkarten-Motive wie Brandenburger Tor und Fernsehturm als Hintergründe, sondern bietet mit ihren vielen Facetten vom Fünf-Sterne-Palasthotel bis hin zum Multikulti-Wohnviertel auch genug Abwechslung, um die Verunsicherung des Helden dank immer neuer Konfrontationen mit ihm unbekannten Orten hoch zu halten. Dass Berlin an vielen Ecken etwas abgerissen aussieht, tut dem rauen, einschüchternden Look des Films natürlich auch nur gut. Und es stellte sich sogar als Glücksfall heraus, dass der Film zu Beginn des knallharten Winters 2009/2010 gedreht wurde: Das triste Grau-weiß des eingeschneiten Berlin und die sichtbare Kälte tragen einen gewichtigen Teil zur gelungenen Atmosphäre des Films bei.
"Unknown Identity" wird damit auch zur Fortsetzung einer sich stetig entwickelnden Erfolgsgeschichte. Das Murren war vor einigen Jahren groß, als die Regeln für Filmförderung in Deutschland so geöffnet wurden, dass sie auch ausländische (namentlich: Hollywood-)Produktionen an hiesige Produktionsstandorte lockten (die damit deutschen Filmen die Förderung wegnahmen). In und um die traditionsreichen Studios in Potsdam-Babelsberg entstanden dann zunächst auch nur wenig ruhmreiche Flops wie "Speed Racer" oder "Operation Walküre". Trotzdem verdienten sich die technischen Produktions-Crews in Babelsberg einen guten Ruf in Hollywood, und inzwischen lockt man auch zusehends Filmprojekte an, auf deren Endergebnis man wirklich stolz sein kann. "Inglourious Basterds" war definitiv so ein Fall. Und "Unknown Identity" ist es auch. Von vorne bis hinten sehr gut gemachtes Genre-Kino. Davon gerne mehr. In Babelsberg, in Berlin und auf unseren Leinwänden.
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