In den ersten Sekunden von „The Descendants“ sieht man Elizabeth King fröhlich beim Speedboatfahren. Es wird das letzte Mal sein, dass wir eine Gefühlsregung von ihr sehen. Denn nach einem Unfall mit eben jenem Boot liegt Elizabeth im Koma und auf einmal obliegt es ihrem auf Oahu in Hawaii lebendem Ehemann Matt (George Clooney), sich um die beiden Töchter Scottie (Amara Miller) und Alexandra (Shailene Woodley) zu kümmern, die der Anwalt in den letzten Jahren ziemlich vernachlässigt hat. Neben den Sorgen um seine Frau muss Matt sich außerdem um eine weitere Familienangelegenheit kümmern: Als Nachfahre der hawaiianischen Königsfamilie verwaltet Matt ein Riesenstück unberührtes Land auf der Nachbarinsel Kahaui, welches er im Namen der Familie möglichst gewinnbringend verkaufen will, bevor es dem Staat überschrieben wird. Und als wäre das noch nicht genug, muss er zudem eine unangenehme Wahrheit über seine Frau verkraften, die ihn, seine Töchter und Alexandras Kumpan Sid (Nick Krause) auf eine ungewöhnliche Mission schickt...
Alexander Payne hat sich in den letzten Jahren auf Filme spezialisiert, die den American Way of Life sowohl skizzieren als auch satirisch durchlöchern. „Election“, „About Schmidt“ und „Sideways“ waren technisch wohl am ehesten den Komödien zuzurechnen, aber ihre unsympathischen Helden mit ihren traurigen Leben gaben diesen Filmen einen bitteren Unterton, der manchmal auch ins Gehässige abzurutschen drohte. Dieser Gefahr setzt sich „The Descendants“ nicht aus. Vielmehr handelt es sich um Paynes vielleicht warmherzigsten Film, wohl aber auch um seinen konventionellsten. Wobei man dies immer noch in den richtigen Relationen sehen muss: Zwar kommt der Film durchaus zu Szenen, die zu erwarten sind, aber die Art, wie er dahin kommt, ist nicht immer der, den man erwartet. Dies ist ja Paynes große Stärke: dass er seinen Scheiben amerikanischen Lebens immer noch unerwartete bittersüße Momente abringt.
Dies gelingt ihm auch in „The Descendants“ sehr gut. Dieser Film verdient sich seine Lacher und seine Tränendrüsenmomente redlich, sie werden dem Zuschauer hier nicht vorgekaut und mundgerecht serviert. „The Descendants“ ist wie „About Schmidt“ und „Sideways“ eine Variation des Road Movie, an dessen Ende die Figuren ein bisschen (und manche ein bisschen mehr) über sich lernen, aber diese Lektionen sind nicht alles einfache oder akzeptable. Man muss sich auch als Zuschauer zusammen mit Matt desöfteren fragen, wie man an seiner Stelle reagieren würde. Und solche Fragen bleiben mutigerweise offen: Wird Matts Geste am Ende des Films tatsächlich von Sorge um seine Kinder und ihr (spirituelles wie physisches) Erbe angetrieben – oder doch nur von Rachsucht?
„The Descendants“ lebt wie alle anderen Filme von Alexander Payne neben dem scharf beobachteten Drehbuch von seinen Darstellerleistungen. Während andere Indie-Regisseure wie ein Wes Anderson sich ja mit jedem Film einen Ensemblecast aufgebaut haben, arbeitete Payne in jedem seiner Filme mit anderen Darstellern zusammen und hat noch jedem von ihnen Höchstleistungen abgerungen. Und das trifft auch diesmal zu. George Clooney hat ja in den letzten Jahren in Filmen wie „Syriana“ und „Up in the Air“ seine besten Leistungen gebracht, wenn er seine typischen Schmeichler mit dunkleren und disparateren Seiten versah. Aber sein Matt King ist nochmal ein anderer Typ von Charakter: jemand, der zwar aussieht wie ein smooth operator und auch im passenden Beruf dafür arbeitet, aber eigentlich eher jemand ist, an dem alles Wichtige vorbei zu gehen scheint. Selten hat man Clooney so wenig Autorität ausstrahlen sehen wie hier. Seine Filmtöchter Amara Miller und Shailene Woodley liefern ebenfalls starke, da vollkommen natürliche Performances ab. Erwähnenswert sind auch die zwei kurzen Auftritte von B-Film-Fossil Robert Foster als Matts verbitterter Stiefvater. Wie seine unbändige (und ungerechte) Wut in tiefe hilflose Trauer umschlägt, das ist schon ziemlich beeindruckend gespielt. Wie sehr man bei diesem Film auf Zwischentöne achten muss, wird sehr schön an der Figur des Sid deutlich. Auf den ersten Blick ist dieses Teenage-Großmaul reiner comic relief, der durch seine unpassenden Sprüche (und die Reaktionen darauf) für Augenrollen und Belustigung sorgt. Aber einige kurze Dialogzeilen während eines nächtlichen Zwiegesprächs mit Matt lassen die Figur in einem anderen Licht erscheinen. Wir verstehen, warum Alexandra ihn in dieser Situation um sich haben will und auch, warum er so ist, wie er sich hier präsentiert.
„The Descendants“ ist unspektakuläres, aber sehr gut umgesetztes Autorenkino, bei dem einzig das Gefühl, die Konflikte hier alle schon mal anderweitig gesehen zu haben, ein ganz klein wenig stört. Aber: Genau so wie hier eben doch nicht. Dafür ist Payne viel zu guter Erzähler, als dass er nur die Klischees des Familiendramas abarbeiten würde, stattdessen flicht er immer wieder schrullige Details und Wendungen ein. Dazu kommt dann der ungewöhnliche Handlungsort Hawaii, der hier genau richtig abgefilmt wird: Nicht zu sehr dem Postkartenmotiv verschrieben, aber auch nicht mutwillig anti-romantisch, sondern mit realistischem Blick auf Land und Leute. Einzig der fast komplett aus hawaiianischer Musik bestehende Score hat nach einer Weile ein gewisses Nervpotenzial – Ukulele und Fistelgesang schön und gut, aber in Maßen bitte! – zieht aber genau so gnadenlos sein Ding durch wie Payne mit seiner neuesten Untersuchung des amerikanischen Lebensstils. Dem gebührt Respekt und demnach dafür ein großes Mahalo, Herr Payne.
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