MOH (90): 11. Oscars 1939 - "Der Roman eines Blumenmädchens"
In unserer Serie "Matthias' Oscar History" (MOH) bespricht Matthias in jeder Folge jeweils einen der zwischen den Jahren 1929 und 2000 nominierten Oscar-Beiträge aus der Kategorie "Bester Film".
In unserer letzten Folge fanden sich in "Der Testpilot" vor allem vor der Kamera berühmte Namen, nun trifft man in "Der Roman eines Blumenmädchens" diese eher dahinter. Der Abspann offenbart dabei nicht nur ein Literaturnobelpreisträger als Drehbuchautor sondern auch noch eine spätere Regielegende am Schneidetisch.
Der Roman eines Blumenmädchens

Einen Nobelpreis und einen Oscar nebeneinander in der Vitrine zu haben – das macht schon was her. Gelungen ist das bisher lediglich zwei Personen: Bob Dylan und George Bernard Shaw. Dylan erhielt 2001 den Oscar für den besten Filmsong ("Things Have Changed" aus "Die Wonder Boys") und 2016 den Literaturnobelpreis – eine Entscheidung der Schwedischen Akademie, die seinerzeit für einige Diskussionen sorgte. Shaw hingegen, der irische Dramatiker und brillante Gesellschaftskritiker, schrieb Geschichte, indem er als Drehbuchautor an der Verfilmung seines eigenen Theaterstücks "Pygmalion" (deutscher Filmtitel: "Der Roman eines Blumenmädchens") mitwirkte und dafür 1939 mit dem Oscar ausgezeichnet wurde. Scharfsinnige Dialoge und tiefgründige Gesellschaftskritik – Shaws Qualitäten als Autor werden auch in der Verfilmung offensichtlich. Doch auch er musste sich zumindest am Schluss wohl den Konventionen Hollywoods beugen – was den Film jedoch nicht minder faszinierend macht.
Wie so gerne bei den Briten beginnt hier alles mit einer Wette. Der exzentrische Phonetik-Professor Henry Higgins (Leslie Howard, "Liebesleid", "Romeo und Julia") behauptet, er könne allein durch die Verfeinerung des Sprachstils aus der einfachen Blumenverkäuferin Eliza Doolittle (Wendy Hiller) eine angesehene Dame der High Society machen. Sein Freund Colonel Pickering (Scott Sunderland) ist sowohl skeptisch als auch neugierig und verspricht, alle Kosten dieses hochinteressanten Experiments zu übernehmen – sollte Higgins Erfolg haben. Während Higgins immer besessener von seinem "Projekt" wird, beginnt sich Eliza aber bald zu fragen, ob diese neue gesellschaftliche Rolle für sie wirklich erstrebenswert ist.

In einigen Quellen wird "Der Roman eines Blumenmädchens" als Gesellschaftskomödie bezeichnet. Auf den ersten Blick kann man das nachvollziehen, besitzt der Film doch einen durchaus heiteren Grundton. Auf der einen Seite haben wir Higgins, dessen intellektuelle Schlagfertigkeit und pointierte Bemerkungen oft für amüsante Momente sorgen, während seine offensichtlichen Defizite in Sachen Sozialkompetenz unfreiwillig komisch wirken. Auf der anderen Seite steht Eliza, die bei ihren ersten Schritten in die neue Gesellschaftsschicht mit einer Mischung aus Ungeschick und sympathischem Temperament glänzt, was ebenfalls immer wieder humorvolle Situationen schafft.
Bei genauerem Blick ist das aber alles nur eine Art Camouflage für eine ziemlich ernste und tiefgründige Gesellschaftskritik. Auf der einen Seite steht die Oberschicht in Form von Higgins, die ihre Machtposition genießt und die Unterschicht herablassend als Spielball für die eigenen Launen missbraucht. Auf der anderen Seite steht die dem scheinbar wehrlos ausgesetzte Unterschicht, deren Tragik auch darin liegt, dass sie dem überhöhten Traum eines besseren Lebens hinterhertrauert. Shaw wirft dabei jede Menge faszinierende Fragen in den Raum, die teils offen ausgesprochen oder subtil in der Geschichte eingewoben werden. Was definiert eigentlich unseren Status in der Gesellschaft? Wie sehr bestimmen das äußere Erscheinungsbild und unsere Sprache die soziale Stellung? Ist ein gesellschaftlicher Aufstieg überhaupt möglich und von allen Seiten gewünscht? Und welchen Einfluss hat eigentlich die Position in der Gesellschaft auf die eigene Identität?
Das Schöne an dem Film ist, dass einem diese tiefschürfenden Fragen auch total egal sein können und man trotzdem gut unterhalten wird. Vermutlich waren diese auch nicht der Grund, warum ein Großteil des Publikums damals in den Film strömte. Beworben wurde "Der Roman eines Blumenmädchens" nämlich einst mit der Ankündigung der "Skandalszene" des Jahres, die schon das Theaterstück in die Schlagzeilen gebracht hatte. Entgegen damaliger Gepflogenheiten wurde hier nämlich ein damals als unsittlich eingestuftes Schimpfwort zum ersten Mal auf offener Bühne respektive Leinwand ausgesprochen. Der Moment wird im Film dann auch clever angeteasert, wenn man erstmal lediglich den Anfangsbuchstaben "B" eines von Eliza genutzten unsittlichen Wortes erwähnt. Wenn dann wenig später aber Eliza die Einladung eines Verehrers auf einen Spaziergang mit "not bloody likely" beantwortet, ist man als Mensch des 21. Jahrhunderts schon ein wenig enttäuscht – und seufzt nostalgisch angesichts dieses niedlichen Skandälchens.

Befriedigender ist dann doch das intellektuelle Futter, das man hier geliefert bekommt. Glücklicherweise vermeidet "Der Roman eines Blumenmädchens" es meistens, auf seine komplexen Fragen einfache Antworten zu geben. Es wird natürlich schon deutlich, auf welcher Seite Shaw steht und dass er gerade mit einem sehr konservativen Frauenbild nichts anfangen kann (was für die Zeit erfrischend wirkt). Aber immer wieder gerät man hier auch in einen interessanten Graubereich, und wenn im späteren Verlauf Elizas Vater durch puren Zufall in die Oberschicht katapultiert wird, gesellt sich da auch noch ein ironisches Augenzwinkern hinzu.
Ganz schön clever gemacht, denkt man sich immer wieder und freut sich, dass der eigene Geist stets in Bewegung bleibt, da man ständig die Figuren und ihre Motive hinterfragt. Clever ist auch die Inszenierung von Anthony Asquith und Leslie Howard, die flott daherkommt und ein gutes Gespür für Timing beweist. Ein paar kleinere kreative Montagen versprühen sogar ein wenig Arthouse-Flair. Dafür ist ein junger Mann am Schnittplatz verantwortlich, der später als Regisseur ganz große Filmgeschichte schreiben sollte. Es ist einfach immer wieder eine Freude, in dieser Reihe den ersten Gehversuchen späterer Kinolegenden beiwohnen zu können – in diesem Fall denen des jungen David Lean ("Lawrence von Arabien" und "Die Brücke am Kwai").
Eher traurig stimmt dagegen der Anblick von Leslie Howard. Der übernahm neben der Regie auch noch die Hauptrolle und ist darin so wundervoll, dass es einem ein wenig das Herz bricht, dass dieser nur wenige Jahre später bei einem Flugzeugabsturz (abgeschossen von einem deutschen Luftwaffengeschwader) den Tod finden sollte. Howard hat einen entspannten und überhaupt nicht theatralisch wirkenden Spielstil, mischt perfekt Arroganz mit einer ganz kleinen Prise menschlicher Wärme und macht so eine eigentlich abstoßende Hauptfigur zu einem unglaublich charismatischen und unterhaltsamen Protagonisten.

Könnte man nur das Gleiche über Wendy Hiller behaupten, "Der Roman eines Blumenmädchens" hätte zu einem kleinen Klassiker werden können. Leider wirft sich Hiller mit viel zu viel Theatralik in ihre Rolle, wirkt oft eher irritierend, und viele ihrer Reaktionen erscheinen schlicht aufgesetzt. Das ist ein echtes Problem für den Film, da gerade die Identifikation mit ihrer Figur so wichtig ist und dies leider nur mäßig funktioniert. Genauso wie das ärgerliche Ende, das vom Original des Theaterstücks abweicht und die bisherige Botschaft des Films eigentlich komplett untergräbt. Ob sich Shaw hier zu einem klassischen Hollywood-Ende gezwungen sah? Auf jeden Fall sollte dieses neue Ende auch Jahre später wieder zum Einsatz kommen, wenn die Geschichte in ihrer berühmtesten Filmversion, dem Musical "My Fair Lady", im Jahr 1965 den Oscar für den besten Film erringen würde. Wie ein kleiner Verrat an der Geschichte fühlt sich dieser weichgespülte Schlussakkord aber auf jeden Fall an, und zu gerne hätte man Shaw gefragt, ob er einem dies nicht mal bei einem Spaziergang erklären könnte. Es ist aber auch klar, wie er wohl geantwortet hätte: "Not bloody likely."
"Der Roman eines Blumenmädchens" ist aktuell als DVD-Import auf Amazon in Deutschland verfügbar. Alternativ ist der Film auch auf der Webseite des Internet Archive kostenlos abrufbar.
Trailer (nicht offiziell) des Films
George Bernard Shaw spricht höchstpersönlich über die Filmproduktion
Ausblick
In unserer nächsten Folge ist es wieder Zeit für einen Klassiker – dafür lassen wir den Blick fernab von Hollywood schweifen.
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