MOH (91): 11. Oscars 1939 - "Die große Illusion"
In unserer Serie "Matthias' Oscar History" (MOH) bespricht Matthias in jeder Folge jeweils einen der zwischen den Jahren 1929 und 2000 nominierten Oscar-Beiträge aus der Kategorie "Bester Film".
In unserer letzten Folge hatten wir die Arbeit eines Nobelpreisträgers bewundern dürfen, nun kann einer der großen Meister des französischen Kinos seine Fähigkeiten unter Beweis stellen. Mit nichts anderem als einem Meisterwerk und einem der ungewöhnlichsten aber wirkungsvollsten Antikriegsfilme der Kinogeschichte.
DIe große Illusion

Wenn man alle Seiten gegen sich aufbringt, ist das meist ein Indiz dafür, dass man wohl einen ziemlichen Nerv getroffen hat. Während die deutsche Zensur den französischen Antikriegsfilm "Die große Illusion" wegen seines Pazifismus verbot, echauffierte sich damals die französische Seite vor allem über die zu positive Darstellung der Deutschen. In der Folge wurde der Film in seinem Heimatland erst stark zensiert und dann während des Zweiten Weltkriegs sogar komplett verboten – man wollte schließlich nicht die eigene Kampfmoral untergraben. Ein Werk, das ohne wirkliche Bösewichte auskommt, auf allen Seiten der Front Menschlichkeit entdeckt und nicht so sehr Unterschiede, sondern Gemeinsamkeiten betont, steht nun mal konträr zu dem durch Hass motivierten Versuch, plumpe Feindbilder zu etablieren. In Amerika war man dagegen etwas unvoreingenommener und erkannte, welchen ungewöhnlichen und bedeutsamen Antikriegsfilm Jean Renoir hier erschaffen hatte. Das Ergebnis war im Jahr 1939 die erste Best-Picture-Nominierung eines nicht englischsprachigen Werks bei den Academy Awards – und nichts anderes als ein Meisterstück der Kinogeschichte.
Die Geschichte von "Die große Illusion" basiert dabei auf teils autobiografischen Erfahrungen von Renoir, der im Ersten Weltkrieg als Kampfpilot gedient hatte. In genau diesem werden im Film die beiden französischen Offiziere Maréchal (Jean Gabin) und de Boeldieu (Pierre Fresnay) von dem deutschen Aristokraten und Fliegerpiloten von Rauffenstein (Erich von Stroheim, "Sunset Boulevard") abgeschossen und geraten in deutsche Gefangenschaft. Im Gefangenenlager arbeiten sie mit einigen Leidensgenossen, darunter Lieutenant Rosenthal (Marcel Dalio), dem Sohn eines reichen jüdischen Bankiers, akribisch an ihrem Ausbruch. Kurz vor dessen Durchführung werden sie aber erneut in die Fittiche des Offiziers von Rauffenstein übergeben, der sie in der als ausbruchssicher geltenden Burg Winterstein aber respektvoll behandelt. Während Rauffenstein sich bei seinem Adelsgenossen de Boeldieu ausgiebig über den Niedergang aristokratischer Ideale beklagt, lassen sich Maréchal und Rosenthal aber auch durch die neuen Umstände nicht von ihren Ausbruchsplänen abhalten.

"Die große Illusion" ist ein Film voller ruhiger, aber nachdenklich stimmender Szenen. Anstatt uns angesichts des Settings die erwartbaren Gräueltaten zu zeigen, setzt man hier fast ausschließlich auf stille, beinahe beiläufig wirkende Beobachtungen. Die Sinnlosigkeit des Krieges wird auf der Leinwand nicht durch schockierende Gewalt deutlich, sondern durch subtile Charaktermomente und nahezu poetische Feststellungen. Wie die Erkenntnis von Maréchal, der sich im späteren Verlauf des Films auf einem deutschen Bauernhof versteckt. Er merkt süffisant an, dass es der Kuh neben ihm wohl egal ist, ob ein Deutscher oder ein Franzose das Futter bringt. Zwischen Kühen und Menschen macht "Die große Illusion" keinen Unterschied und dekonstruiert Stück für Stück die Idee eines Nationalismus, der Menschen künstlich in Gruppen zu teilen versucht – und propagiert stattdessen, dass uns andere viel essentiellere Dinge mehr verbinden.
Von der Front bekommen wir dabei kein einziges Bild zu sehen. Neuigkeiten vom Kriegsverlauf erfahren unsere Protagonisten lediglich durch Berichte Dritter oder die in den Lagern kursierenden Flugblätter. Wenn eine Stadt erst von den Besatzern befreit und dann wieder von ihnen zurückerobert wird, erinnert die Reaktion in den Lagern fast an die Verlesung von Zwischenständen beim Fußball, bei denen die jeweiligen Anhänger frenetisch die neuerliche "Führung" feiern. Überhaupt wirkt der Krieg in "Die große Illusion" häufig wie ein Spiel. Dank großzügiger Hilfslieferungen genießen die Gefangenen luxuriöses Essen, führen Theaterstücke auf und scherzen gelegentlich mit den Aufsehern. Besonders in der zweiten Hälfte, wenn sich die Handlung auf die Burg Winterstein verlagert, erinnert die Atmosphäre schon fast an ein streng geführtes Schulinternat, bei dem sich die Protagonisten diebisch freuen, wenn sie ihren Aufsehern erfolgreich einen Streich gespielt haben.

Ganz visuell ausblenden tut der Film seinen ernsten Hintergrund jedoch nicht. Der Tod eines Gefangenen bei einem Fluchtversuch oder die menschenunwürdige Einzelhaft von Maréchal rücken die Realität zumindest kurzzeitig auch bildlich ins Gedächtnis. Dennoch bleibt die Atmosphäre insgesamt eher leichtfüßig als drückend, was angesichts des Kriegsszenarios auf den ersten Blick irritieren mag. Doch diese Leichtigkeit hat Methode: Der Film möchte gezielt die Sehnsüchte und Bedürfnisse der Menschen in den Vordergrund rücken – fernab jeder nationalistisch motivierten Kriegsbotschaft. Dazu gehört auch die simple Tatsache, dass Menschen ungern eingesperrt sind. Wie fasst es de Boeldieu so schön ironisch und treffend zusammen: "Ein Golfplatz ist da, um Golf zu spielen. Ein Tennisplatz, um Tennis zu spielen. Und ein Gefangenenlager, um auszubrechen."
Die Ausbruchsversuche selbst stehen allerdings nicht im Fokus des Films. Vielmehr geht es um die Dynamik zwischen und innerhalb der verschiedenen Fraktionen in den Lagern, in denen die Handlung fast ausschließlich spielt. Der Film zeigt dabei gekonnt, dass soziale Strukturen weitaus mehr Einfluss auf unser Zusammenleben haben als willkürlich gezogene Ländergrenzen. So sieht von Rauffenstein mehr Parallelen zwischen sich und de Boeldieu als zwischen sich und seinen eigenen Gefolgsleuten, da beide schließlich aus adligem Hause stammen. Sein Ehrencodex und das Gentleman-Verhalten gegenüber de Boeldieu mögen etwas romantisierend dargestellt sein, doch der Wahrheit der Botschaft tut dies keinen Abbruch. De Boeldieu steht wiederum zwischen den Fronten: Er erkennt die Parallelen zu von Rauffenstein, fühlt sich aber auch dem neuen Nationalismus verpflichtet – ein innerer Konflikt, der ihn zerreißt und zu einer der berührendsten Einsichten des Films führt.

Was verbindet uns Menschen wirklich? Das fragt sich auch Maréchal, der treffend feststellt, dass zwischen ihm und de Boeldieu aufgrund ihrer komplett unterschiedlichen Erziehung eine unsichtbare Mauer besteht – da hilft es auch nicht, dass ihre Pässe im gleichen Land ausgestellt wurden. Auch wenn die russischen Gefangenen alle "Kollegen" zu sich einladen, um eine Lieferung Wodka zu feiern, sind Ländergrenzen plötzlich egal – ein guter Tropfen Alkohol verbindet schließlich. Genau wie die Sehnsucht nach weiblicher Gesellschaft. Der Film zeigt dies subtil, etwa durch das ständige Auftauchen von weiblichen Porträts an den Wänden aller Fraktionen, oder durch die Anspielung, dass de Boeldieu und von Rauffenstein einst eine Affäre mit derselben Frau hatten. Am schönsten wird diese Sehnsucht jedoch in der Szene eingefangen, in der ein französischer Gefangener bei der Probe eines Theaterstücks in Frauenkleidern auftritt. Der gesamte Raum – Nationalität hin oder her – erstarrt melancholisch bei diesem ungewohnten Anblick.
Diese Ansammlung pointierter, ruhiger Momente funktioniert auch so gut dank eines großartigen Ensembles, bei dem besonders drei Schauspieler herausstechen. Jean Gabin, eine der großen Legenden des französischen Films, beeindruckt mit seiner intensiven Ausstrahlung. Seine Darstellung des Maréchal, teils roh, teils einfühlsam, macht es dem Publikum leicht, sich mit seiner Figur zu identifizieren. Pierre Fresnay überzeugt als leicht abgehobener, verschmitzter, aber dennoch menschelnder de Boeldieu. Und Erich von Stroheim, der als Regisseur in der Stummfilmzeit berühmt wurde (u. a. für sein größtenteils verschollenes neunstündiges Epos "Gier"), bringt die Tragik und Verzweiflung von Rauffenstein brillant auf die Leinwand. Jean Renoirs Inszenierung glänzt parallel dazu durch ihr feines Timing, spannungsgeladene Bildausschnitte und eine clevere Positionierung der Figuren, was den Szenen Intensität verleiht, ohne dabei jemals zu künstlich zu wirken.

Schritt für Schritt dringt so die zentrale Botschaft des Films durch: Eigentlich ticken wir doch alle gleich. Mit dieser durch viele tausend kleine Nadelstiche verbreiteten Botschaft entlarvt "Die große Illusion" am Ende nationalistische Kriegspropaganda als hasserfüllte, leere Worthülsen. Kein Wunder, dass Joseph Goebbels den Film als besonders großes Übel bezeichnete und ihn so schnell wie möglich verbieten ließ. Nach der Konfiszierung des Originalnegativs durch die Nazis gelangte dieses (nach einem kleinen Umweg über Russland) schließlich nach Frankreich zurück, wo es in den 1990ern wiederentdeckt wurde. Heute kann man den Film endlich wieder in einer Qualität sehen, die früheren Generationen verwehrt blieb. Schon vorher inspirierte "Die große Illusion" aber bereits Generationen von Filmemachern – so bediente sich "Casablanca", man muss fast sagen dreist, für seine berühmte Marseillaise-Szene bei Renoirs Werk.
Passend zu einem Film mit so vielen wundervollen kleinen Momenten der Menschlichkeit, möchten wir hier dann auch mit einem solchen enden. Im letzten Drittel, dem herzergreifendsten des ganzen Filmes, versteckt sich Maréchal bei der deutschen Witwe Elsa auf einem Bauernhof. Welche Konsequenzen und Schmerzen der Krieg für die daheim zurückgelassenen mitbringt, wird hier ziemlich eindrücklich dargestellt. Der für mich schönste Moment dieses Kapitel erfolgt aber, als eines Nachts auf einmal marschierende Soldaten zu hören sind und das Klopfen an die Fensterscheibe Maréchal in Todesangst versetzt. Doch als Elsa das Fenster öffnet steht dort nur ein verschüchterter junger Mann, der einfach nur nach dem Weg fragt und schon fast sehnsüchtig in das warm und wohlig wirkende Zimmer blickt. Und seufzend anmerkt, dass er anstatt zu marschieren doch viel lieber hier jetzt den Abend verbringen würde.

Es ist eben nicht der Krieg, es ist der Frieden nach dem wir uns sehnen. Wenige Monate nach den 11. Academy Awards würde der deutsche Einmarsch in Polen diese Hoffnung aber für einige Jahre in weite Ferne rücken lassen. So richtig optimistisch blicken wir angesichts des aktuellen Weltgeschehens ja auch nicht gerade in die Zukunft. Solange es aber Filme wie "Die große Illusion" gibt besteht zumindest die Hoffnung, dass wir alle am Ende vielleicht doch noch irgendwie zur Einsicht kommen.
"Die große Illusion" ist aktuell als Blu-ray oder Video-on-Demand auf Amazon in Deutschland verfügbar.
Trailer des Films
Einführung zur Wiederaufführung des Films von Regisseur Jean Renoir.
Ausblick
In unserer nächsten Folge nähert man sich einem ebenfalls etwas schwer im Magen liegenden Thema mit einer gewissen Leichtigkeit – zum Klassiker wird es dort aber nicht ganz reichen.
Neuen Kommentar hinzufügen