2014 jährte sich der Fall der Mauer zum 25. Mal. Und auch Filmszene.de hatte einen bedeutenden Jahrestag zu verzeichnen, denn unser kleines Filmmagazin erblickte das Licht der Welt Anfang 1999, und ist dieses Jahr somit 15 Jahre alt geworden. Eine Tatsache, die mir erst sehr spät aufging, als ich darüber nachdachte, was ich in diesem Jahresrückblick eigentlich schreiben würde, und mir die Jahreszahl 1999 in einem Artikel begegnete, der einiges an Inspiration für diesen Text hier geliefert hat. In seiner so exzellenten wie ziemlich deprimierenden Analyse von Hollywoods immer größerer Fokussierung auf Franchise-Filme und was diese für die Zukunft des Kinos bedeuten wird, erwähnte Mark Harris auf Grantland.com, dass im Jahr 1999 lediglich vier der 35 erfolgreichsten Filme des Jahres Fortsetzungen waren. Offensichtlich hat sich seitdem einiges verändert. Wir sind auf diese Entwicklung schon in unseren letzten zwei Jahresrückblicken eingegangen, als es um die Bedeutung der built-in audience ging. Harris‘ Analyse kommt zum selben Schluss: Hollywood konzentriert sich aus Gründen der Sicherheit und Berechenbarkeit immer mehr auf die Produktion von Sequels, Prequels, Spin-Offs und was es sonst noch für Varianten gibt, ein einmal erfolgreich verkauftes Filmprodukt erneut an den Mann zu bringen. Und 2014 hat sich diese Entwicklung so sehr verfestigt, dass man inzwischen wirklich von „in Stein gemeißelt“ reden kann. Es bringt nichts mehr, sich darüber zu beklagen. Es wird nicht mehr weggehen. Im Prinzip sind alle großen Produktionsbudgets für die nächsten fünf Jahre bereits verplant. Die Wahrscheinlichkeit, von einer Hollywood-Produktion zwischen jetzt und 2020 positiv überrascht zu werden, ist sehr, sehr gering.
Das aus meiner persönlichen Sicht sehr Ironische bei diesem Blick zurück auf die wichtigsten Kino-Entwicklungen von 2014 ist, dass meine ersten Gedanken an diesen Jahresrückblick in Richtung eines Artikels mit der Überschrift „It was a very good year…“ gingen. Weil es dieses Jahr eben nicht nur erneut außergewöhnliche und herausragende Independent-Produktionen gab - fürs Protokoll seien beispielhaft der Drehbuch-Oscar-Preisträger "Her", der erst dieses Jahr bei uns als DVD-Premiere erschienene "Mud", Richard Linklaters einzigartige Langzeitstudie "Boyhood" und der im Querschnitt unserer Redaktionsmeinungen beste Film des Jahres "Snowpiercer" genannt. Ausgelöst wurden diese Gedanken eben auch durch die gefühlte Wahrnehmung, dass Hollywoods Blockbuster-Kino – das nun mal den zentralen, prägenden Löwenanteil unserer Filmrezeption stellt – schon lange nicht mehr so hochwertig war wie in diesem Jahr. Filme wie „The Return of the First Avenger“, „X-Men: Zukunft ist Vergangenheit“ oder „Edge of Tomorrow“ konkurrierten erfolgreich um Plätze in den Jahresbestenlisten unserer Autoren, ebenso wie zwei Filme, denen wir begeistert Frische, Intelligenz und Innovation bescheinigten – „The LEGO Movie“ und „Guardians of the Galaxy“, die beiden wohl positivsten Überraschungen des Blockbuster-Jahres. Auf den ersten Blick war Hollywood in seinen Großproduktionen selten so originell gewesen wie in 2014. Doch tritt man einen Schritt zurück, wird deutlich, dass hier etwas anderes passiert ist: Man hat sich sehr, sehr viel Mühe gegeben, um zwei Filme zu einem Erfolg zu machen, die Ursprung neuer Franchises werden sollten. Und es nun auch sind. „Guardians of the Galaxy 2“ ist fester Bestandteil im Programm von neun Großproduktionen, mit denen die Marvel Studios (seit einigen Jahren Teil der Walt Disney Company) ihre beispiellose Erfolgsserie in den nächsten fünf Jahren konsolidieren wollen – und dabei sowohl etablierte Franchises (die Avengers als Gruppe als auch alleine) ausbauen als auch die Basis für neue schaffen werden. Für den Lego-Film sind bereits drei Fortsetzungen angekündigt, oder konkreter: Ein Sequel und zwei Spin-Offs.
Ein anderer Grund, warum 2014 für mich zunächst ein gefühlt gutes Filmjahr war, ist die schlichte Tatsache, dass ich dieses Jahr zum ersten Mal seit langem wieder persönlich eine Rezension geschrieben habe zu einem Film, der von mir die Höchstwertung von 10 Augen bekommen hat, namentlich „12 Years a Slave“. Die (sehr wenigen) Filme, die in den letzten Jahren diese Wertung von mir bekommen hätten (Drive, The Tree of Life, Gravity), wurden hier jeweils von geschätzten Kollegen besprochen. Zwischen meinen „It was a very good year…“-Überlegungen und der nun vorliegenden Variante dieses Jahresrückblicks habe ich darum auch mal mit dem Gedanken gespielt, darüber zu sinnieren, ob das Kino in den 15 Jahren des Bestehens unseres Filmmagazins einfach allgemein schwächer geworden ist, oder ob das zunehmende Aussterben von Höchstwertungen auf Filmszene.de schlicht ein Dokument der Tatsache ist, dass wir Autoren dieser Seite nun mal allesamt älter werden, und man mit mehr Erfahrung/Abgeklärtheit einfach weniger stark zu beeindrucken ist.
1999 wird mir auf ewig als eines der großartigsten Filmjahre meines Lebens in Erinnerung bleiben, weil ich damals mit Anfang 20 innerhalb weniger Monate „Matrix“, „Fight Club“ und „American Beauty“ sah. Drei Filme, die jeder für sich mich und meine Wahrnehmung von Kino so dermaßen weggeblasen haben, dass danach nichts mehr so war wie vorher (meine damaligen, völlig geflashten Besprechungen zu zwei dieser drei Filme sind ein eindeutiges Zeugnis davon). Im Prinzip warte ich seit 15 Jahren darauf, dass mir so etwas noch einmal passiert. Das letzte Mal, dass es mir wenigstens annäherungsweise passiert ist, und das letzte Mal, dass ich vor „12 Years a Slave“ eine Rezension mit Höchstwertung geschrieben habe, war Ende 2009. Für „Avatar“. Jener Film, zu dem in den Jahren 2016 bis 2018 drei Fortsetzungen in die Kinos kommen werden. Womit wir wieder beim Thema wären.
Dass dieser Artikel dann auch nicht zur persönlichen Reflexion über meine Abstumpfung als kritischer Kinozuschauer wurde, hat einen höchst aktuellen Grund: Der Skandal um „The Interview“. Für die, die es noch nicht mitbekommen haben: „The Interview“ ist eine alberne ‚Idioten erledigen die Aufgaben von Top-Agenten‘-Komödie mit James Franco und Seth Rogen, in der die beiden losgeschickt werden, um ein Attentat auf Nordkoreas Diktator Kim-Jong Un zu verüben. Sony Pictures wollte den Film zu Weihnachten in die amerikanischen Kinos bringen. Vor kurzem wurde Sonys Hollywood-Abteilung dann aber Opfer eines anonymen Hacker-Angriffs, nach dem massenhaft sensible Daten und E-Mails des Konzerns und seiner Angestellten publik gemacht wurden, u.a. sehr peinlicher Schriftverkehr der Vorsitzenden von Sony Entertainment, Amy Pascal, in dem sie leicht rassistische Witze über Präsident Obama macht [ein guter Überblick, wie verheerend und womöglich irreparabel der Schaden für Sony ist, findet sich z.B. hier bei der ZEIT] . Das war jedoch nur das Vorspiel. Nachdem sich die Medien und das Internet genüsslich und mit viel Häme über diese Entblößung hergemacht hatten, wurden auf einmal Drohungen terroristischer Anschläge publik, falls Sony „The Interview“ in die Kinos bringen sollte. Die Entscheidung wurde dem Konzern abgenommen von Amerikas großen Kinoketten, die allesamt beschlossen, den Film auf keinen Fall auf ihren Leinwänden zu zeigen. Weil sie im Falle eines theoretischen terroristischen Angriffs keine juristische Mitverantwortung tragen wollten. Kurz gesagt: Sie hatten Angst. Vor den Handlangern Nordkoreas.
Die Konsequenzen, die dieser Skandal wahrscheinlich haben wird, kann man gar nicht hoch genug hängen. Denn faktisch hat es ein fremder Staat, der eigentlich permanent ins Lächerliche gezogen wird, mit einem simplen Cyberangriff und etwas verbalem Säbelrasseln geschafft, die amerikanische Kinolandschaft zur Selbstzensur zu bringen. Dies nur für all die Leute, die ständig die Furcht vor einer Islamisierung des Abendlandes beschreien: Den effektivsten Weg zur Verkrüppelung des westlichen Kulturbetriebs hat keine Demokratie-feindliche Religionsgemeinschaft gefunden, sondern Nordkorea. Eine gute Zusammenfassung der bedenklichen Entwicklung dieses Skandals liefert dieses Interview mit George Clooney, der vergeblich versucht hat, Hollywood-weit Rückendeckung für Sony durch eine öffentliche Petition zu organisieren. Es hat sich nur niemand getraut, diese zu unterschreiben. Weil niemand ins Fadenkreuz der Hacker geraten wollte, welche zuvor Sony so bloßgestellt hatten. Dasselbe könnte dann ja mit einem selbst passieren.
Einfach gesagt: In Hollywood herrscht ein lähmendes Klima der Angst vor allem, was irgendwie geschäftsschädigend sein könnte. Ein Klima, das die Mächtigen der Unterhaltungsindustrie bereitwillig auch das letzte Feigenblatt kultureller Integrität und der Verteidigung künstlerischer Freiheit wegwerfen lässt. Es ist nicht schwer, von hier eine direkte Linie zur Franchise-Fokussierung zu ziehen. Beides sind Ausgeburten einer tief liegenden Scheu vor Risiko. Beides ist einzig motiviert durch den Antrieb, Produktion und Umsatz des eigenen Konzerns berechenbar und stabil zu halten. Es gibt keine anderen Werte mehr, die irgendetwas zählen. Falls sie das jemals getan haben. Der Unterschied jetzt ist nur, dass auch niemand mehr so tut, als würden sie irgendetwas zählen.
Hollywood ist dabei, sich in ein Abbild des Unterhaltungsprogramms des öffentlich-rechtlichen deutschen Fernsehens zu verwandeln: Die eigene Produktionspalette wird immer mehr konzentriert auf risikolose Variationen einiger weniger Formate, die nachweislich erfolgreich laufen, so dass man dem Publikum nichts anderes mehr als immer mehr vom ewig Gleichen vorsetzt. Und dabei auch darauf achtet, möglichst alles zu vermeiden, was irgendwie kontrovers sein könnte. Denn Leute, die sich aufregen – und seien es nur die gehirngewaschenen Aktivisten einer internationalen Lachnummer wie Nordkorea – sind in ihren Reaktionen ein unberechenbarer Faktor. Wenn man den ausklammern kann, indem man einfach gar keine Haltung mehr einnimmt, dann ist das eine sehr bequeme Lösung. Man verliert dabei den letzten Rest an Rückgrat, Moral und künstlerischem Anspruch. Aber immerhin stimmt die Bilanz.
Auch wenn das jetzt irgendwie deprimierend war, so wünschen wir von Filmszene.de trotzdem all unseren treuen Lesern ein frohes Weihnachtsfest und einen schönen Jahreswechsel. Und weil zumindest bei uns die Dinge bleiben, wie sie sind, gibt es hier wie jedes Jahr unsere traditionellen Top- und Flop-Listen.
Die Tops und Flops im Kinojahr 2014 aus Sicht unserer einzelnen Redakteure
Frank-Michael Helmke Top Ten
Patrick Wellinski Top Ten
Moritz Piehler Top Ten
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Volker Robrahn Top Ten
René Loch Top Ten
Johannes Miesen Top Ten
Margarete Semenowicz Top Ten
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Simon Staake Top Ten
Matthias Kastl Top Ten
Maximilian Schröter Top Ten
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