Am Anfang muß eine Warnung stehen: „Magnolia“ gehört nicht zu den Filmen, über deren Brillanz sich alle Leute einig sind. Abgesehen von den „Zu viel, zu schnell, zu lang“-Vorwürfen, die bei Filmen wie diesem immer auftauchen, gibt es noch ein essentielleres Problem. „Magnolia“ bietet fast drei Stunden aufrichtigstes Melodrama, menschliche Schicksale von schmerzhafter Authenzität und packender Intensität, getragen von Schauspielern auf der absoluten Höhe ihrer Leistungsfähigkeit. Aber eingerahmt wird das ganze durch einen Prolog und eine Schlußwendung, die zusammen gehören, aber anfangs so gar nicht zum Rest des Films passen wollen. Ohne Frage wird man darüber ins Grübeln kommen, wenn man das Kino verlässt. Ob sich für den einzelnen ein Sinn darin eröffnet, was er da gerade zum Schluß gesehen hat, wird letztlich darüber entscheiden, ob der Film begeistert oder enttäuscht.
Aber nun von Anfang an: P.T. Anderson’s neuer Film provoziert als erstes Vergleiche zu Robert Altman’s „Short cuts“, denn Sujet und Setting sind sehr ähnlich: Die Schicksale einer Gruppe von Leuten, die an einem Tag in Los Angeles irgendwie alle miteinander kollidieren. Doch schon hier lassen die Ähnlichkeiten nach, denn zum einen läßt Anderson längst nicht so viel kollidieren wie Altman, zum anderen ist seine Gruppe bedeutend kleiner: Während Altman mit fast zwei Dutzend Hauptdarstellern jonglierte, konzentriert sich Anderson auf „lediglich“ neun Personen.
Earl Partridge (Jason Robards) ist ein TV-Produzent, der im Sterben liegt, was seine Frau Linda (Julianne Moore) aus anderen Gründen verzweifeln läßt, als man zunächst glaubt. Earl’s letzter Wunsch ist ein Gespräch mit seinem Sohn, der vor Jahren mit ihm gebrochen hat. Sein Krankenpfleger Phil (Philip Seymour Hoffman) macht sich daran, den Sohn zu kontaktieren. Dieser Sohn ist Frank Mackey (Tom Cruise), der über Fernsehen, Radio und Seminare sein Buch „Verführe und zerstöre“ verkauft, eine Anleitung, wie man aus seiner besten Freundin eine willige Sex-Sklavin macht. Die erfolgreichste Show von Earl’s Produktionsfirma ist ein Quiz, wo Kinder gegen Erwachsene antreten. Vor dreißig Jahren wurde Donnie Smith (William H. Macy) durch diese Sendung zum Kinderstar, heute ist er ein verschuldeter Verkaufsangestellter, der aus reiner Liebe ein merkwürdiges Vorhaben entwickelt. Das neue Wunderkind der Sendung heißt Stanley Spector (Jeremy Blackman), dessen Intelligenz von seinem tyrannischen Vater sozusagen als Geldmaschine mißbraucht wird. Der Moderator der Show ist Jimmy Gator (Philip Baker Hall), der, wie Partridge, an Krebs erkrankt ist. Seine Tochter Claudia (Melora Walters) interessiert das wenig, denn sie hasst ihren Vater abgrundtief, und ist außerdem die meiste Zeit mit ihrem Kokain beschäftigt. Ihr erbärmlicher Zustand kann jedoch nicht verhindern, daß der herzensgute Cop Jim Kurring (John C. Reilly) sich auf der Stelle in sie verliebt.
Aus dieser Konstellation entwickelt Anderson mit viel Gefühl seine Geschichten, alle Handlungsstränge parallel bearbeitend. Dieses ständige Hin-und-Her-Gespringe verlangt vom Zuschauer die volle Aufmerksamkeit, und oft würde man lieber bei einem Charakter bleiben, weil er gerade so viel interessanter ist als die anderen (speziell Cruise übt in seinen ersten Szenen eine grandiose Anziehungskraft aus, daß man sich im weiteren Verlauf auf jeden seiner Auftritte freut). Andererseits ist so aber auch gewährleistet, daß der Film über seine volle Länge fesseln kann, und daß der Zuschauer nicht während einer scheinbar weniger packenden Episode abschaltet. Anderson hält sein Publikum gekonnt bei der Stange und läßt den Film so um einiges kürzer erscheinen, als er in Wirklichkeit ist.
Auch sonst ist die Inszenierung der erwartete Geniestreich: „Magnolia“ steht Anderson’s Meisterarbeit „Boogie Nights“ in nichts nach, überbietet diesen sogar noch durch eine ungemein kunstvolle Plot-Strukturierung. Die minutenlangen Einstellungen aus „Boogie Nights“ tauchen nicht mehr in rauhen Mengen auf. Statt dessen gewinnt die Musik unglaublich an Gewicht. Neben den faszinierend intensiven Songs von Aimee Mann, die teilweise extra zu „Magnolia“ geschrieben wurden, entwickelt auch der eigentliche Score eine Tiefe und Tragweite, daß in manchen Sequenzen nicht mehr die Musik den Film unterlegt, sondern umgekehrt: Es scheint, als würden sich Kamera, Schnitt und Dialoge den Facetten der Hintergrundvertonung anpassen. Wenn die Musik zeitweise sogar die gesprochenen Worte übertönt, so geschieht dies in voller Absicht: Man muß die Dialoge nicht mehr hören, um sie zu verstehen.
Die inhaltliche Struktur des Films, seine Einteilung und der „Fortschritt“ der Charaktere in ihrer jeweiligen Krise wird vom Wetter bestimmt: Dreimal werden Angaben zur vorherrschenden meterologischen Situation eingeblendet, die Schlußüberraschung hat dann auch noch etwas mit Wetter zu tun.
Die Einzelschicksale der neun Hauptcharaktere wirken nicht nur so hautnah, ergreifend und lebensecht, weil sie von Anderson so brillant geschrieben worden sind. Das Ensemble bewegt sich auf einem Leistungsniveau, wie es in dieser Geschlossenheit in letzter Zeit nur „American Beauty“ erreichte. Herausstechend sind dabei vor allem Julianne Moore (die ich sowieso für eine der Besten halte) und (ich hätte nie gedacht, daß ich das mal sagen würde) Tom Cruise. Er hat schon öfter die Vermutung geweckt, daß irgendwo in ihm ein richtig genialer Schauspieler schlummert, und hier bringt er endlich den Beweis. Seine Vorstellung als ewig protzender Sex-Guru („Respektiere den Schwanz, zähme die Möse!“), dessen Poser-Getue bei der Konfrontation mit seiner Vergangenheit zusammenfällt wie ein Kartenhaus, überragt alles andere, was von seinen grandiosen Kollegen hier geleistet wird. Deren Wirkung hängt sicherlich auch wieder mit dem Regisseur zusammen: Die halbe Besetzung hat schon in „Boogie Nights“ mitgewirkt (Moore, Hoffman, Reilly, Macy), und ihre Charaktere in „Magnolia“ sind ihren damaligen Rollen in gewisser Weise ähnlich. Anderson scheint einen Instinkt dafür zu haben, für welche Figuren bestimmte Akteure am besten geeignet sind. Einen größeren Glücksfall kann es für einen Darsteller gar nicht geben.
„Magnolia“ ist die Art Film, die manche Leute gerne als „Portrait unserer Zeit“ bezeichnen, als „Bestandsaufnahme der heutigen Gesellschaft“. Ich kann mich mit solchen Zertifikaten selten anfreunden, weil ich es nicht für möglich halte, so etwas wie den Geist einer Gesellschaft in einen einzigen Film zu zwängen. Speziell bei „Magnolia“ ist es aber so, daß es um viel mehr geht, als um die amerikanische Gesellschaft. Hier werden universelle Konflikte verschiedenster Form thematisiert, und doch dreht sich alles vor allem um eins, und das ist Schmerz. Jede Figur in diesem Film leidet. Auf andere Weise, aus anderen Gründen, aber sie leiden alle. Daß man das Kino nicht völlig fertig mit der Welt verlässt, hat schließlich wieder mit dem Schluß zu tun.
Und damit wären wir wieder am Anfang. Der Prolog und die Schlußüberraschung von „Magnolia“ sind beide auf ihre Art ziemlich genial inszeniert. Der Prolog baut eine Thematisierung auf, die der Schluß wieder aufnimmt. Doch in den knapp drei Stunden dazwischen scheint dieses Fazit irgendwie verloren zu gehen. Man hat das Gefühl, daß der Film nur dann funktioniert, wenn man vorne und hinten drei Minuten abgeschnitten hätte. Anfangs zumindest. Nachdem ich über eine Stunde darüber nachgedacht habe, was mir der Regisseur jetzt eigentlich damit sagen wollte, bin ich zu einem anderen Ergebnis gekommen. Diese Szenen machen Sinn, ja, sie sind sogar absolut essentiell für den Film. Sie bringen den Zuschauer dazu, in einer Weise über den Film nachzudenken, auf die er/sie von alleine vielleicht gar nicht gekommen wäre, und erzielen so einen Grad der Auseinandersetzung, den viele Filme gerne hätten, aber nie bekommen. Anderson macht das ganz einfach, indem er dem Zuschauer etwas gibt, was für ihn zunächst keinen Sinn macht. Die Suche nach dem Sinn des Gesehenen ist es, die über die Wirkung von „Magnolia“ entscheidet: Wer sich die Zeit nimmt, der wird Antworten finden, und den Film nachher noch besser finden, als er beim Anschauen sowieso schon war. Wer sich die Zeit aber nicht nimmt, der wird sich nur mit einem schalen Gefühl im Mund an diese drei Kino-Stunden erinnern, denn sie werden irgendwie verschwendet erscheinen.
Ich will niemanden mit dem dämlichen Satz vor den Kopf stoßen „Du hast es einfach nicht geschnallt!“, denn ich verstehe absolut, wieso man „es nicht schnallen“ kann. Mir ging es anfangs genau so. Aber ich habe gemerkt, daß da etwas zum schnallen ist. Und das macht „Magnolia“ zum, bis jetzt, besten Film dieses Jahres (ausgenommen „American Beauty“). Ich verspreche nicht, daß er jedem gefallen wird, aber ich denke, man sollte ihn gesehen haben. Schon allein, um darüber nachdenken zu können.
Neuen Kommentar hinzufügen