Ein
Straßenjunge, aufgewachsen in den Slums von Mumbai, der in
seinem gesamten Leben nie eine Schule von innen gesehen hat, sitzt
in einem Fernsehstudio: Er ist Kandidat in der indischen Version
von "Wer wird Millionär?". Er beantwortet jede einzelne
Frage richtig und spielt sich vor bis zum Hauptgewinn. Wie ist der
Bursche dahin gekommen? Und vor allem: Woher zum Teufel weiß
er die ganzen richtigen Antworten?
Das ist die Ausgangssituation von "Slumdog Millionär",
und von hier aus entfaltet sich der wohl kraftvollste und energetischste
Film, den man dieses Jahr zu sehen bekommen wird. Ein vor Farben,
Bewegung und Lebendigkeit fast zerberstendes Porträt des heutigen
Indien, in die dramaturgisch perfekte Form einer rührenden,
geradezu märchenhaften Liebesgeschichte gegossen. Ein mitreißender,
handwerklich einzigartiger Geniestreich, der vollkommen zurecht
bei den Golden Globes absahnte und sich berechtigte Hoffnungen machen
kann, auch bei den Oscars die Preise für Film, Regie und Drehbuch
einzusacken. Man wird dieses Jahr keinen Film finden, der so außergewöhnlich
anders und zugleich so universell ergreifend ist.
Der
mittellose Straßenjunge, der sich die Chance auf einen Millionengewinn
erspielt, ist natürlich eine Geschichte zu schön, um wahr
zu sein - das denkt sich jedenfalls die Polizei, und nimmt den 20-jährigen
Jamal deswegen nach der Sendung erstmal hart ins Verhör: Wie
hat er das geschafft? Hat er geschummelt, und wenn ja, wie? Jamal,
die unbescholtene Ehrlichkeit in Person, muss erzählen, woher
er die Antworten auf die immer schwierigeren Quizfragen gelernt
hat, und nimmt den Kinozuschauer damit mit durch die in ausgiebigen
Flashbacks erzählte Geschichte seines Lebens - und seiner großen
Liebe.
Jamal ist vielleicht fünf Jahre alt, als er seine Mutter verliert
und sich von nun an mit seinem älteren Bruder Salim alleine
durchschlagen muss. In diesem zarten Kindesalter trifft er auch
zum ersten Mal Latika, und es ist der Traum eines gemeinsamen Lebens
mit ihr, der in den folgenden Jahren nicht nur Jamals Überlebensinstinkt
wach hält, sondern ihn auch immer wieder über sich hinaus
wachsen lässt - während er mehr so nebenbei banale Informationen
einsammelt, die ihm eines Tages noch von großem Nutzen sein
werden, um die scheinbar verlorene Latika doch noch wiederzufinden….
Das
Genie von "Slumdog Millionär" beginnt schon bei seiner
Erzählung, die zwischen ihren drei chronologischen Ebenen (das
Verhör durch die Polizei, Jamals Auftritt in der Gameshow und
die fragmentarischen Flashbacks) fröhlich hin und her springt
und in das Gewand einer Krimigeschichte schlüpft, in der es
augenscheinlich um die Erklärung geht, wie und wann in seinem
Leben Jamal die richtigen Antworten gelernt hat. Doch tatsächlich
ist das nur das hochmodern geschmückte Gerüst für
ein geradezu klassisches Märchen, die Geschichte eines Paares,
das vom Schicksal und scheinbar unüberwindlichen sozialen Schranken
immer wieder gnadenlos auseinander gerissen wird. Und schildert
so wiederum das so gegensätzliche Leben im Indien des jungen
21. Jahrhunderts, ein Land mit einer rapide aufblühenden Mittelklasse
und weltweitem Renommee für seine Kompetenz in Computertechnik,
doch auf der anderen Seite einer tradierten Massenarmut, die von
zivilisatorischen Errungenschaften wie Wasserversorgung und Bildungswesen
bis heute nicht erreicht wurde. Eine großartig gelungene Verwebung
verschiedenster Themen und erzählerischer Ebenen, die dank
ihres Tempos und dem feinsinnig eingestrickten Humor zu jedem Zeitpunkt
eine zauberhafte Leichtigkeit beibehält.
Nicht
weniger genial und der eigentliche Triumph dieses Films ist jedoch
die Inszenierung von Danny Boyle. Der britische Regisseur hat seit
seinem Debüt mit "Kleine Morde unter Freunden" (1995)
bisher mit jedem Film ein neues Genre betreten, und dabei mit so
unterschiedlichen Werken wie "Trainspotting", "28
Days later" und "Sunshine"
überall gleichermaßen brilliert. "Slumdog Millionär"
ist nun wohl der endgültige Beweis, dass Boyles Gespür
für die Erzeugung einer stimmigen Atmosphäre und seine
grandiose Begabung als Filmemacher wirklich jedwede Gattungsgrenzen
transzendiert. Von der ersten Filmsekunde an packt Boyle seine Zuschauer
mit beiden Händen und zieht sie mit sich noch bevor man so
richtig weiß, wo man ist, hinein in einen Strudel aus aberwitzigem
Tempo, kraftvoll treibender Musik und einer geradezu explodierenden
Collage aus dem erdigen Schmutz und der knallbunten Farbenpracht
Indiens; eine cineastische Achterbahnfahrt so nah am Puls dieses
Landes, dass man glauben könnte, Boyle hat sein ganzes Leben
dort verbracht. Seit "City of God"
hat es keinen Film mehr gegeben, der solch eine unbändige Energie,
einen solch unwiderstehlichen Sog erzeugt hat.
"Slumdog Millionär" geht durch Mark und Bein, raubt
einem in seinen größten Momenten den Atem, ist auf der
einen Seite brutal realistisch und in der nächsten Minute zum
Weinen schön, und obwohl er von Elend, Verbrechen und Unmenschlichkeit
erzählt, ist er ein durch und durch hoffnungsfrohes Feuerwerk
der Lebensfreude und eine mitreißende Hymne an die Kraft der
Liebe. Zugleich schmutzig und stilvoll, erschütternd und begeisternd,
bodenständig und magisch. Kurz: Ganz, ganz großes Kino.
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