Science-Fiction ist für viele Leute gleich bedeutend mit fernen Galaxien, neuen Welten, Raumschiffen und anderem aufregenden Schnickschnack. Kurz: das perfekte Genre für vollkommene Realitätsflucht, weil Filme wie "Star Wars" wirklich gar nichts mit unserer eigenen Welt zu tun haben. Doch Science-Fiction kann sich ebenso gut sehr nah an unserer Realität bewegen, und durch den Entwurf einer möglichen Zukunft nachdrücklich (und oft verstörend) unsere Welt von heute kommentieren. Diese Blicke in unsere eigene Zukunft sind häufig pessimistisch, sollen sie doch als Mahnmal fungieren gegen gesellschaftliche Entwicklungen, die unaufgehalten zu einer düsteren, unfreien und/oder zerstörten Welt führen werden. Diese im Gegensatz zu positiven Entwürfen einer perfekten Gesellschaft (sog. "Utopien") stehenden Dystopien sind ein sehr britisch dominiertes "Genre", von den literarischen Ursprüngen bei Thomas Morus bis zu den klassischen Horror-Zukunftsvisionen des 20. Jahrhunderts von George Orwell ("1984"), Aldous Huxley ("Schöne, neue Welt") und Ray Bradbury ("Fahrenheit 451").
In den letzten Jahren setzt nun eine bemerkenswerte Reihe englischer Filmproduktionen diese Tradition fort. Angeführt von Danny Boyles "28 Days later", folgten "V wie Vendetta" (nach einer Vorlage des britischen Comic-Künstlers Alan Moore), Michael Winterbottoms "Code 46" und nun "Children of Men" nach einem Roman der eigentlich für Krimis bekannten englischen Autorin P.D. James. Allen gemeinsam ist der beunruhigend erfolgreiche Versuch, ihre Visionen möglichst eng mit dem Hier und Heute zu verknüpfen; entweder durch einen Alternativ-Entwurf unserer Gegenwart ("28 days later", "V wie Vendetta"), oder durch eine nahe Zukunft, in der nur die fortgeschrittene Technik vom Hier und Jetzt abweicht. Wie schon "Code 46" braucht auch "Children of Men" keine aufwändigen futuristischen Kulissen, sondern nutzt höchst wirkungsvoll die heutige Architektur, um eine gar nicht so ferne (und dadurch umso verstörende) Zukunft zu entwerfen.
Der Film beginnt im Jahr 2027 mit der Nachricht vom Tod des jüngsten Erdenbürgers: Der weltweit verehrte "Baby Diego" aus Südamerika war vor über 18 Jahren der letzte Mensch, der geboren wurde. Seitdem hat eine ungeklärte weltweite Unfruchtbarkeit den Planeten in Panik, Hoffnungslosigkeit und schließlich Chaos und Zerstörung gestürzt. Eine Welt ohne Kinder hat keine Zukunft, und das absehbare Ende der Menschheit hat die Ordnung beinah auf dem gesamten Globus zusammenbrechen lassen. Einzig in Großbritannien herrscht noch keine totale Anarchie, da sich das Land mit einer militaristischen Diktatur abgeschottet hat (die Unmengen von Flüchtlingen, die aus aller Welt nach England strömen, werden in Konzentrationslagern festgehalten) und mit totalitären Mitteln die Bevölkerung bei der Stange hält.
In dieser trostlosen Welt ohne Perspektive und Hoffnung vegetiert der ehemalige politische Aktivist Theo (Clive Owen) disillusioniert dahin, seine einzige Abwechslung gelegentliche Besuche bei seinem alten Freund Jasper (Michael Caine), um sich gemeinsam zu zudröhnen. Doch das ändert sich plötzlich, als Theo von einer Untergrundbewegung gekidnappt wird, die seine ehemalige Geliebte Julian (Julianne Moore) anführt. Sie brauchen Theos Hilfe, um die junge Kee (Clare-Hope Ashitey) sicher zur Küste und auf ein Schiff des mythischen "Human Project" zu bringen, eine sagenumwobene Vereinigung der klügsten Köpfe der Welt, die den Fortbestand der Menschheit sichern will. Kee könnte dazu die Lösung sein, denn die junge Frau ist hochschwanger….
Viel mehr sollte man über die Handlung von "Children of Men" nicht wissen, damit der Film seine volle Wirkung entfalten kann, denn es gelingt ihm nicht nur, den Zuschauer von der ersten Sekunde an auf äußerst beklemmende Weise in seiner schaurigen Zukunft gefangen zu nehmen, sondern ihm auch durch überraschende Wendungen immer wieder den Boden unter den Füßen weg zu ziehen, wenn man sich gerade an ein Stückchen Sicherheit geklammert hat, das etwas Halt und Führung in dieser Welt kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch versprach. Es gibt im Universum von "Children of Men" nichts mehr, an dem man sich festhalten oder hochziehen könnte (Anzeigenplakate bewerben ein frei verkäufliches Selbstmord-Medikament mit dem Slogan "Sie entscheiden wann"), und dieses Gefühl weiß Regisseur Alfonso Cuarón ("Harry Potter und der Gefangene von Askaban", "Y tu Mama tambien") auf beeindruckende Weise auch konsequent dem Publikum zu vermitteln: Er verweigert ihm jeden sicheren Halt, indem er mit Handlungskonventionen bricht und die Zuschauer durch drastische Wendungen immer wieder dazu zwingt, sich in diesem Endzeit-Chaos neu zu orientieren, die ganze Zeit einem Ziel hinterher jagend, von dem weder Publikum noch Theo wissen, ob es nicht nur eine Illusion ist.
Wer oder was genau hinter diesem "Human Project" steckt und wie die Geburt von Kees Baby potentiell die ganze Menschheit retten soll, wird nie ganz klar, ist aber auch nicht wichtig: "Children of Men" ist ein Film über Hoffnung, und nicht über das, was dahinter steckt. Hoffnung ist grundsätzlich irrational, sie existiert ohne faktisch nachvollziehbare Erklärungen. Die Menschen im Film staunen beim Anblick des neugeborenen Kindes, als hätten sie eine göttliche Erscheinung, und dieses Gefühl, einem rettenden Wunder beizuwohnen, erklärt auch Theos Antriebskraft, obwohl er genau wie das Kinopublikum bis zur letzten Filmminute nicht weiß, ob es das "Human Project" überhaupt gibt oder er sich nur am Glauben an ein mythisches Phantom festklammert. Die Alternativen sind ebenso einfach wie existentiell: Entweder ich glaube an diese eine Sache, oder es gibt nichts mehr, an das ich glauben kann. Und damit auch nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnt. Wie heißt es so schön: Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Es ist die große Leistung von "Children of Men", dass er seine dystopische Welt so detailliert und eindringlich zeichnet, dass man sich als Zuschauer darin gefangen fühlt - so intensiv kann das Erlebnis hier sein, wenn man sich auf den Film einlässt. Die erdrückend schaurige Prämisse der weltweiten Kinderlosigkeit hat eine emotionale Resonanz, der man sich kaum entziehen kann, und Cuarón inszeniert den Film auf kongeniale Weise in einem fast dokumentarischen Stil, der die Distanz zwischen Publikum und Fiktion noch weiter reduziert und die Zuschauer so nah wie nur möglich in diese Schreckensvision hineinzieht.
Bestes Beispiel dafür sind die Actionszenen des Films, die beinahe alle als Plansequenzen inszeniert sind, lange Einstellungen ohne Schnitt, in denen die Kamera der hektischen Flucht der Protagonisten folgt. Höhepunkt ist dabei fraglos eine Sequenz von mehreren Minuten, in der Theo erst in einen Hinterhalt, dann in eine offene Straßenschlacht zwischen Regierungstruppen und aufständischen Flüchtlingen gerät und sich durch das Kreuzfeuer in die oberen Stockwerke eines besetzten Hauses vorkämpft, um Kee und ihr Baby zu retten (und das alles wie gesagt ohne einen Schnitt!). Die handwerkliche Meisterleistung von Cuarón und seinem Kameramann Emmanuel Lubezki bei der Umsetzung dieser Szenen kann kaum hoch genug gelobt werden, denn dank ihrer technischen Brillanz halten sie selbst in diesen Actionsequenzen den quasi dokumentarischen Stil des gesamten Films aufrecht und erzeugen Bilder, die wie echte Aufnahmen aus einer Kriegsreportage aussehen, und so ihren Teil dazu beitragen, ein verstörendes Gefühl von Wirklichkeit zu vermitteln. Selten hat man sich bei einer Endzeit-Vision so sehr mittendrin gefühlt, den unaufhaltsamen Zusammenbruch der Zivilisation direkt vor Augen.
Atmosphärisch bedrückend dicht, packend von der ersten bis zur letzten Sekunde, hervorragend gespielt und geradezu genial inszeniert, verbleibt "Children of Men" nicht nur als die beste der jüngeren englischen Kino-Dystopien, sondern auch als einer der besten Filme dieses Jahres. Womit sich Alfonso Cuarón übrigens ganz nebenbei endgültig in der weltweiten Kino-Oberliga etabliert, denn wer mit jedem seiner Filme ein komplett anderes Genre betritt und nichtsdestotrotz ein großartiges Werk nach dem anderen abliefert, der beweist sein absolutes Ausnahmetalent und darf sich hoffentlich auch weiter wachsender Beachtung und Anerkennung erfreuen.
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