Lola rennt

Jahr
1998
Laufzeit
81 min
Genre
Regie
Bewertung
von Frank-Michael Helmke / 14. November 2010

Ketchuprote Haare sind wirklich schick. Das beweist die attraktive Lola (Franka Potente) uns in diesem Film eindrucksvoll. Aber ketchuprote Haare sind auch furchtbar unpraktisch. Wer einmal so was auf dem Kopf hatte (der Verfasser weiß, wovon er spricht), der hat eine Ahnung, wie schwierig es ist, die Haare farblich so hinzukriegen, gleichzeitig aber dafür zu sorgen, dass möglichst wenig von der Umgebung auch schick ketchuprot wird. Ein schöner Spaß für den Sommer eben, aber mehr dann wohl doch nicht. Während der Dreharbeiten zu "Lola rennt" durfte sich Frank Potente sieben Wochen lang (!) nicht die Haare waschen, damit die Farben nicht verblassten. Ein Heidenstress, so eine Frisur.
Solche Gedanken wird unsere Lola sich allerdings kaum machen, denn sie hat nicht viel Zeit - zwanzig Minuten nur, um genau zu sein - und in diesen zwanzig Minuten muss sie das Leben ihres schusseligen Freundes Manni (Moritz Bleibtreu) retten. Dazu wiederum braucht sie hunderttausend Mark. "Schwierig" ist wohl untertrieben als Beschreibung für die Situation, in der die beiden stecken - wie gesagt: nicht viel Zeit zum Nachdenken über Haarfarben für Lola, aber ein bisschen mehr Muße dann doch für den Zuschauer.

Der merkt sehr schnell, dass sich die Energie, die die rote Lola mit ihrem Kopfputz - und ihrer Urschreifähigkeit - ausstrahlt, nahtlos in den Film überträgt. Der Titel ist Programm, ein guter Teil der nur etwa achtzig Minuten zeigt Franka Potente, wie sie durch Berlin hetzt, als sei der Leibhaftige hinter ihr her - man kann sich kaum sattsehen an diesen Bildern, die mal mit wackliger Handkamera, dann wieder in kunstvollen Kamerafahrten eingefangen worden sind. Die Topographie der Hauptstadt ist total verdreht, von der Frankfurter Allee geht es um die Ecke direkt auf den Gendarmenmarkt, aber das macht überhaupt nichts. Schon nach wenigen Minuten nämlich ist klar, dass "Lola rennt" auch kein Film sein will wie jeder andere, schön linear aufgebaut und eindeutig aufzulösen. Im Gegenteil: Nach einem Drittel des Films ist Lola tot, nach zwei Dritteln dann Manni, aber es geht trotzdem weiter. Ein einfaches "Stop!" der Hauptdarsteller genügt, damit alles wieder auf Anfang gesetzt wird.
"Lola rennt" hat das deutsche Kino revolutioniert, weil hier ein Film wie ein Computerspiel entstanden ist. Die bekannten drei Leben, die man als Hüpffrosch, Raumfahrer oder Monsterbezwinger auf dem PC besitzt, hat auch Tom Tykwers kleines Meisterwerk - und wer von uns hätte sich nicht schon einmal gewünscht, einfach zwischendurch mal abspeichern zu können, um zu sehen, was passiert, wenn…? Version 1 - 2 - 3 heißt das auf der DVD, ganz wie bei richtiger Software. Dazwischen liegen zwei nette Intermezzi mit je einer Bettszene, in der es dann nicht mehr heißt "Lola rennt", sondern "Lola fragt (Manni ein Loch in den Bauch)", und in der das Grundthema des Films, die ewig junge Frage nach Zufall oder Schicksal, verhandelt wird.

"Lola rennt" ist nicht nur wegen dieser Innovation mit der Zeitschleife ein äußerst moderner Film. Er verbindet darüber hinaus geschickt reale Bilder mit Comicsequenzen, und immer wieder staunt man, wie virtuos Tykwer es versteht, von einer in die andere Szene überzublenden - durch Kamerafahrten in einen Fernseher etwa, in dem natürlich Lola zu sehen ist, durch plötzliches Aufziehen in die Totale und durch Splitscreens, die nebeneinander laufen und in denen die Darsteller dann plötzlich zweimal auftauchen. Das alles unterlegt ein technoartiger Soundtrack, der noch einmal zeigt, wie kraftstrotzend dieser Film daherkommt, und der uns gleichzeitig an Deutschland gegen Ende der 90erer erinnert, eine Zeit, als der Rave den Gipfel seines Erfolges erreichte und die Millionen zu Dr. Mottes Love Parade pilgerten. In "Lola rennt" herrscht warmes Sommerwetter, und irgendwie war das vor sieben, acht Jahren nicht anders: Hartz IV, Bin Laden und Dauerstagnation waren Fremdworte, Optimismus allerorten, in Deutschland schien die Sonne.

Solche Hochstimmung verfliegt im wahren Leben fast genauso schnell wie im Kino. Sich auf den Dächern der Altbauten, aus denen Berlin ausschließlich zu bestehen scheint, in der Julihitze zu räkeln, ist jetzt keine Gelegenheit. Geld muss her, sehr viel und sehr schnell, sonst ist Manni ein toter Manni, weil Gangsterboss Ronnie (Heino Ferch ohne Worte, aber mit echter Glatze) dann ziemlich unangenehm werden kann. Das Geld war nämlich seins, hart ergaunert aus Diamantenklau, und Manni hatte es zu überbringen. Der Depp (und wer könnte so einen Typen besser spielen als Moritz Bleibtreu?) hat dann aber nichts Besseres zu tun, als die Tüte mit den Scheinen in der U-Bahn liegen zulassen. Dort schnappt sie sich postwendend der Klischee-Penner mit Ruhrpottakzent und dem aberwitzigen Adelsnamen Norbert von Au (Joachim Król). Manni weiß nicht mehr weiter: Den Supermarkt seines Vertrauens will er überfallen, wenn seine Freundin nicht in tausendzweihundert Sekunden mit hunderttausend klingenden Deutschmark vor ihm steht. Also muss Lola ran, die schließlich sonst immer Rat gewusst hat. Dieses Mal aber muss sie sich wirklich anstrengen - ihr fällt dann auch tatsächlich ihr Vater (Herbert Knaup) ein, der Bankdirektor ist und doch eigentlich solche Sümmchen locker flüssig vorhalten müsste.
Leider hat auch Vater Lola gerade ein Problem. Er will seine Frau verlassen und mit seiner Geliebten aus dem Bankvorstand ein neues Leben anfangen. Als Lola in die Szenerie platzt, geht es zwischen den beiden gerade um alles oder nichts. Wahrscheinlich zeigt Tykwer hier am eindrucksvollsten, wie kleinste Nuancen im Gesprächsverlauf den Unterschied zwischen himmelhochjauchzendem Wohlfühltag und desaströser Groteske - hier: Banküberfall und schwerer Diebstahl mit Geiselnahme des eigenen Vaters - ausmachen können.
Selbst wenn einen das Schicksal von Lola und Manni gar nicht interessieren würde, wäre es allein schon faszinierend genug, die Dutzenden von Details zu bestaunen, mit denen der Regisseur seinen Großstadtkosmos bevölkert: Die Nonnen auf der Straße, der Typ mit dem geklauten Fahrrad, der Krankenwagen, die Männer mit der Glasscheibe, der Nachbar im Treppenhaus, der weiße BMW mit den zwielichtigen Gestalten. Sie alle variieren in den drei "Versionen" des Films beständig die Handlung, manchmal nur, weil sie eine Zehntelsekunde früher oder später an Ort und Stelle sind, und sorgen damit doch für drei völlig unterschiedliche Ergebnisse. Und weil man sich im Leben ja immer zweimal trifft, taucht auch Herr von Au noch mal auf - ob zufällig oder gefügt, bleibt dabei ganz bewusst offen.

Was uns Tom Tykwer damit sagen will, ist klar: Wir alle haben nicht nur morgens beim Aufstehen die Wahl, ob wir den rechten oder den linken Fuß nehmen (Jürgen von der Lippes "liebe Sorgen" lassen grüßen). Unser ganzes Leben besteht aus nichts anderem als aus Millionen solcher kleiner, unbemerkter oder offensichtlicher, Verzweigungen - und "Lola rennt" unternimmt es, nur ganz wenige der unendlich vielen Leben, die wir deswegen nicht leben, weil wir uns nun einmal so und nicht anders entschieden haben, anzureißen.
Das Ergebnis ist überwältigend, nicht nur, was die Qualität des Films angeht. Aus den Alternativen, die angedeutet werden, könnte man mit Leichtigkeit noch mal zwanzig Filme drehen, und wenn sie Tom Tykwer machen würde, wären sie sicher alle genauso faszinierend wie "Lola rennt". Das Mittel der Wahl sind für ihn sekundenkurze Sequenzen von Fotostrecken unter dem Titel "Und dann…", die die weitere Laufbahn einiger Randfiguren - der prolligen Passantin auf der Straße, des verdrucksten Kassierers in der Bank (Ludger Pistor), des unverschämten Fahrradfahrers - skizzieren, jeweils anders in Version eins, zwei und drei. Zwischen Betschwester, Drogentod, SM-Session, gelähmter Selbstmörderin und Lottomillionärin ist vieles dabei, nur ganz am Ende, bei Lola und Manni, löst der Blitz nicht aus. Da müssen wir uns dann selbst ein paar Fotos ausdenken, und wir können froh sein, dass "Lola rennt" kein Hollywoodfilm war, denn dann hätten wir schon längst ein Sequel vorgesetzt bekommen, und unsere ganze Phantasieleistung wäre zum Teufel.

Überhaupt: Es ist ein Glück, dass "Lola rennt" in Berlin und nicht in New York entstanden ist. Nicht nur, weil hier die Karrieren von Franka Potente (die sie immerhin bis Hollywood an die Seite von Matt Damon führte) und Moritz Bleibtreu ("Solino", "Im Juli") ihren entscheidenden Kickstart bekamen. Nicht nur, weil sich der Cast wie ein Who's Who des deutschen Films der 90er liest, nur glücklicherweise ohne Katja Riemann, Til Schweiger und Veronica Ferres. Nicht nur, weil in einer anrührenden Szene Moritz Bleibtreu eine stille Begegnung mit seiner eigenen Mutter Monica hat, die eine Blinde spielt. Sondern vor allem, weil Tom Tykwer mit einer erfrischenden Unbekümmertheit ans Werk geht, die es in Hollywood eigentlich gar nicht mehr gibt. Bei ihm wirkt es weder plump noch abgedroschen, wenn die Rückblenden, mit denen Manni von seinem Missgeschick in der U-Bahn berichtet, nicht nur erzählt, sondern auch gezeigt werden, in Schwarzweiß und leicht verfremdet. Hier reagieren sogar die eigenen Gedankenfiguren auf das, was gesagt wird.
Trotz der großen letzten Fragen, die hinter dem Ganzen stehen - gibt es nun einen Plan, nach dem wir leben, oder ist alles sinnloses Chaos? -, nimmt sich "Lola rennt" keinen Moment lang zu ernst. Man könnte das zwar schon im Prolog sofort vermuten, wenn einer der üblichen ZDF-Dschingis-Khan-die-Geißel-Gottes-Sprecher uns zuraunt, der Mensch sei ein "Mysterium offener Fragen". Ach was. Neun von zehn Hollywoodstreifen hätten es damit gut sein lassen. Hier aber taucht Armin Rohde auf, der dickliche Wachmann Schröder, und gibt seinen banalen Senf dazu: "Ball is' rund, Spiel dauert neunzig Minuten, soviel is' klar. Und los." Weniger aufdringlich und schwergewichtig kann ein Film kaum anfangen, wenn er nicht, wie etwa "Is' was, Doc?", eine Klamotte zum Thema sein will.
Ein unkonventionelles Detail lässt den Zuschauer besonders staunen: In Variante eins kann Lola keine Pistole bedienen. In Variante zwei weiß sie, dass man die Knarre mit dem Hebel an der Seite entsichern muss. Woher sie das weiß? Keine Ahnung, vielleicht weiß David Lynch ja die Antwort. Wenn die Geschichte schließlich vorbei und doch nicht vorbei ist, sieht man die Dinge zumindest eine Zeitlang mit etwas wacheren Augen, und das ist nicht das Wenigste, was man lobend über einen Film sagen kann.

"Schlag mit deinen Flügeln und reiße Bäume aus", rät uns momentan Harald Schmidt als einer von ungefähr vierzehntausend superprominenten Menschen im patriotischen Werbespot "Du bist Deutschland". Nun ist es sehr leicht, sich über dieses Filmchen lustig zu machen (ob Chaostheorie wirklich der richtige Ansatz für uns ist?), das dabei doch nur gut gemeint und irgendwie auch gut gemacht ist. Versuchen wir's andersrum: "Lola rennt" war seiner Zeit glatt ein paar Jahre voraus. Die kleinsten Ursachen haben hier die größten Wirkungen und entscheiden buchstäblich über Leben und Tod. Was aus uns wird, hängt nur davon ab, ob wir morgen auf der Straße von Lola angerempelt werden oder ob sie ein paar Zentimeter an uns vorbeirauscht. Sie muss dabei gar nicht unbedingt Lola heißen oder wie Franka Potente aussehen oder rote Haare haben. Auch wenn das natürlich viel schöner wäre.


Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.
CAPTCHA
Diese Aufgabe prüft, ob du menschlich bist um Bots zu verhindern.