The Program - Um jeden Preis

Originaltitel
The Program
Jahr
2015
Laufzeit
103 min
Release Date
Bewertung
6
6/10
von Simon Staake / 7. Oktober 2015

In den Anfangsminuten dieses Biopics stutzt man erstmal: Zeitlupe, ok, dann auf einmal Zeitraffer, dazu Farbfilter, verkantete Kamera: Ja, wo sind wir denn hier, bei Danny Boyle oder bei Stephen Frears? Jener hat zwar mit „The Queen“ schon im Metier der filmischen Biografie gearbeitet, aber auch dieses Stück Zelluloid war ja eher im in den letzten Jahren von Frears präferierten Hausstil gehalten: gediegenes Erzähl- und Ausstattungskino eben, klassisch bis ins Mark. Und man hätte von Stephen Frears jetzt nicht unbedingt erwartet, dass er sich im zarten Alter von 73 Jahren noch mal daran macht, Tony Scott-ähnliche Mätzchen auszuprobieren. Und hier kommt der gerade erwähnte Danny Boyle nochmal indirekt ins Spiel, denn der ist zwar nicht mit von der Partie, aber dessen Lieblingsdrehbuchautor John Hodge. Und dieser scheint Frears nochmal so richtig Feuer unterm Hinter gemacht zu haben, so dass dieser zwar nicht seinen besten, aber zumindest seinen lebhaftesten, modernsten Film seit mindestens „High Fidelity“ abliefert.

 

Lance Armstrong (Ben Foster) trifft im Rahmen eines Radrennens in Belgien 1993 auf zwei Personen, die sein Leben und seine Karriere nachhaltig beeinflussen werden. Zum einen ist da der britische Journalist David Walsh (Chris O'Dowd), der Armstrong anfangs positiv gegenübersteht, sich im Laufe der Jahre aber zu einem seiner größten Kritiker mausern wird, da ihm schon früh der Verdacht kommt, dass Armstrong systematisches Doping betreibt. Und zum anderen den Rennfahrkollegen Johann Bruyneel (Denis Ménichot), der Armstrong erklärt, ohne Erhöhung seiner Lungenkapazität werde er niemals eine große Radrundfahrt gewinnen. Und so beginnt der Weg Armstrongs ins Doping, besonders als er später den italienischen Arzt Michele Ferrari (Guillaume Carnet) kennenlernt. Zusammen mit Bruyneel als sportlichem Leiter und Ferrari als Teamarzt entwirft Armstrong „das Programm“, das ausgeklügeltste Dopingsystem seiner Zeit. Alle Fahrer, die mit ihm in Zukunft beim US Postal-Team fahren wollen, müssen sich dem Programm unterwerfen, darunter auch das junge Talent Floyd Landis (Jesse Plemons). Armstrong eilt von Triumph zu Triumph, gewinnt sieben Mal in Folge die Tour de France und wird zur lebenden Legende. Aber David Walsh lässt nicht locker in seiner Suche nach Beweisen, und irgendwann beginnt Armstrongs Lügenkonstrukt erste Risse aufzuweisen...


„The Program“ hält sich eng an die Fakten und gibt sich als quasi-dokumentarisches Drama, das zudem immer wieder Originalbilder einfügt. Das Problem mit einem solchen Vorgehen ist dann allerdings, dass solch ein Film ein wenig wie ein schön bebildeter Wikipedia-Artikel daher kommt, und ein bisschen verhält es sich auch so. Da der Film kaum an Fakten oder Ideen außerhalb von Walshs zugrundeliegendem Buch interessiert ist, kann oder will er der Materie keine wahnsinnig tiefgreifenden Momente abgewinnen. Und da „The Program“ mit 103 Minuten inklusive Abspann sich auch gerade mal anderthalb Stunden Zeit nimmt, eine sich über 20 Jahre hinziehende Story zu erzählen, wird hier einfach auch sehr viel ausgelassen und ganze Jahre gehen per Montage vorbei.

Bestes Beispiel aus deutscher Perspektive: Während hierzulande über Jahre das Jan Ullrich-Fieber ausbrach und die Ullrich-Armstrong-Rivalität ein Riesenthema war, hält „The Program“ es nicht mal für wichtig, Ullrich auch nur zu erwähnen. Dabei hätte ja etwa die Episode aus der Tour de France 2003, in der Ullrich fair auf den mit einem Zuschauer kollidierten Armstrong wartete und dieser dann nach Wiederaufnahme des Rennens Ullrich gnadenlos stehenließ, durchaus den erbarmungslosen Charakter von Armstrong noch weiter betont. Punkt aber ist, dass es „The Program“ nicht so sehr um Chronologie oder erzählerische Kontinuität geht, sondern eher darum, rasant (ein Markenzeichen der Hodge'schen Drehbücher) zu den wichtigen Wendepunkten zu kommen. Und dabei gehen dann sowohl eine klassisch erzählte Geschichte als auch so manches Detail und so mancher Zwischenton verloren.

Aus diesem Grunde zieht man als Zuschauer auch das meiste Interesse nicht aus dem Plot, sondern aus den Schauspielerleistungen. Ben Foster nahm für seine Darstellung des Lance Armstrong einiges auf sich: Drei Stunden pro Tag in der Maske, wo ihm eine falsche Stirn, ein falsches Kinn und diverse andere kleinere Prothesen angelegt wurden, um Armstrong möglichst ähnlich zu sehen, was auch zweifellos geklappt hat. Zudem nahm Foster das method acting vielleicht ein wenig zu ernst, da er sich demselben Doping und demselben Training aussetzte. Immerhin kann man so konstatieren: So intensiv wie Armstrong ist Foster allemal, und das kommt in seiner Darstellung auch rüber. Schön zu sehen ist auch, wie sich Armstrong im Laufe der Jahre immer mehr in seine „Rolle“ einlebt. Ist er am Anfang noch zwiegespalten, bei inspirativen Reden zugunsten seiner Stiftung zu flunkern, so kommen ihm später auch die dreistesten Lügen ohne jedes Zögern über die Lippen.

Besonders interessant zu sehen ist, wie der Film mit Floyd Landis (Jesse Plemons) verfährt, denn während Armstrongs Porträt relativ eindeutig ist, so lassen Frears und Hodge bei Landis Zweifel, was seine Motivationen und sein Verhalten betrifft. Immer wieder sehen wir Landis' Familienhintergrund, der in einer strenggläubigen Mennonitenfamilie aufgewachsen ist, und vor allem ein gesticktes Bild im einfachen Familienhaus, das eindringlich vor Sünde und Gottes Rache warnt. Während Armstrong der aalglatte smooth operator ist, wird Landis immer wieder als Zweifler und Grübler gezeigt, auch wenn Hodge und Frears im richtigen Moment Landis dann doch entblößen: Seine Beichte vor und Zusammenarbeit mit der amerikanischen Antidoping-Behörde kommt erst, als er Armstrong angebettelt hat, nach seiner Dopingsperre wieder in dessen Team aufgenommen zu werden und Armstrong dies eiskalt ablehnt. Kurzum: Helden gibt es in dieser Geschichte keine, zumindest nicht im Fahrerlager.

Der einzige Held der Geschichte bleibt dann der Journalist David Walsh, dessen Buch dem Film zugrunde liegt und der hier gleich zu Beginn als Armstrongs Antagonist eingeführt wird. Durch die Struktur des Films und das erzählerische Hasten von Etappe zu Etappe wird aber auch Walsh nicht so recht zu einer griffigen Figur, dafür verschwindet er über viel zu lange Zeiträume aus der Geschichte. Immerhin wird so seine frustrierende, sich über Jahre streckende Suche nach Beweisen auch für den ähnlich frustrierten Zuschauer fühlbar. Chris O'Dowd bleibt in dieser Rolle solide und sympathisch, so wie eigentlich der gesamte Cast hier die Qualität hoch hält. So hat man etwa große Schwierigkeiten, den französischen Frauenschwarm Guillaume Carnet als Drogendoktor Michele Ferrari mit Geheimratsecken und Riesensonnenbrille wieder zu erkennen. Carnets Verwandlung ist zwar nicht ganz so spektakulär wie Fosters, dennoch muss man auch hier Mut zu Hässlichkeit und Wagnis attestieren. Einzig Denis Ménochet legt Armstrongs sportlichen Leiter Johann Bruyneel vielleicht ein Stück zu sehr als offensichtlichen Ganoven an.

Es ist Frears hoch anzurechnen, dass er – wie zu Beginn erwähnt – sein visuelles Vokabular zu so spätem Zeitpunkt in seiner Karriere noch mal erweitert hat. Aber es ist noch viel höher anzurechnen, dass die meisten dieser visuellen Effekte nicht einfach so da sind, sondern künstlerisches Interesse vertreten. Bestes Beispiel dafür ist die ansonsten hauptsächlich aus dem Film Noir bekannte verkantete Kamera. Und wo diese in der schwarzen Serie eine völlig aus den Fugen geratene Welt suggerierte, so sehen wir hier oft einen nachdenklichen Armstrong in diesen verkanteten Einstellungen und es wird ziemlich klar, was Frears damit suggeriert: Das Bild ist schräg, weil es Lance Armstrongs immer verquerere Weltsicht widerspiegelt. Vom nervösen Betrüger zum paranoiden und letztlich größenwahnsinnigen Megalomanen – eigentlich verwunderlich, dass die Kamera am Ende nicht vertikal steht. Und zwischendrin gelingen Frears immer mal wieder interessante und faszinierende Szenen, etwa wenn die Details der Dopingverabreichung gezeigt werden und Armstrong und Landis einträglich nebeneinander am Bluttropf hängen, oder aber die Vernichtung der Beweismittel (die geniale Idee mit den Limonadendosen).

„The Program“ ist ein Film, der von seinen teils famosen Darstellerleistungen lebt, die die strukturellen Schwächen zwar nicht vollends ausgleichen können, aber diese doch zumindest gut auffangen. Fosters intensives Porträt des großen amerikanischen Lügners Lance Armstrong zwingt einen förmlich dazu, seine Geschichte gebannt zu verfolgen, auch wenn die Geschichte selbst zum einen schon bekannt und zum anderen eben eher in „Greatest Hits“-Manier abgehandelt wird. Damit reicht es für „The Program – Um jeden Preis“ zwar nicht zu einem grandiosen Gesamtsieg, diverse Etappenerfolge kann der Film aber definitiv für sich einheimsen.

Bilder: Copyright

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