Pete Docter ist ein Pixar-Urgestein, das erste Mal selbst Regie führte er bei "Die Monster-AG". Mittlerweile ist er "Chief Creative Officer", und wenn er selbst die Regie zu einem neuen Pixar-Film übernimmt, dann stets mit ganz außergewöhnlichen Resultaten, und einem stets gleichen Effekt: Er gibt uns den Glauben an die besondere Magie von Pixar zurück. Docters zweite Regiearbeit "Oben" war seinerzeit der Schlusspunkt der großen goldenen Pixar-Ära, bevor das Studio in den Folgejahren anfing, seine ersten Fehlgriffe wie "Merida", "Arlo & Spot" oder "Cars 2" zu produzieren. Doch als man schon anfing, sich von den großen Pixar-Zeiten zu verabschieden, lieferte Docter mit "Alles steht Kopf" den bis dato ambitioniertesten, reifesten und vielleicht auch besten Pixar-Film überhaupt ab. Nachdem die letzten Jahre nun wiederum von gut gemachten, aber nie wirklich begeisternden Sequels dominiert wurden ("Findet Dorie", "Toy Story 4", "Cars 3", "Die Unglaublichen 2"), macht Docter erneut seinen Job und liefert mit seiner neuen Regiearbeit "Soul" einen Film ab, den man zukünftig (fast) in einem Atemzug mit "Alles steht Kopf" nennen wird.
Im Mittelpunkt steht der passionierte Jazz-Pianist Joe, der sich mit Ende 30 als Teilzeit-Musiklehrer an einer Highschool über Wasser hält und sich von seiner Mutter anhören muss, dass er endlich den Traum von einer richtigen Musikerkarriere an den Nagel hängen soll. Da bekommt Joe unerwartet doch noch die lang ersehnte Chance, mit einer berühmten Jazzkünstlerin aufzutreten - und kommt kurz darauf durch einen Unfall zu Tode. Beziehungsweise fast: Joes Seele findet sich in einer Zwischenwelt wieder, die sowohl das Leben nach dem Tod beinhaltet als auch das Leben vor dem Leben: Hier werden die Seelen mit ihrer Persönlichkeit versehen, bevor sie den Weg in ihr irdisches Sein antreten. Durch ein Mentorenprogramm, das den neuen Seelen helfen soll, den entscheidenden Funken für ihr Leben zu finden, glaubt Joe ein Schlupfloch zu erkennen, durch das er sich zurück in seine irdische Existenz schummeln kann, um sein Leben doch noch weiterzuleben, wo es doch gerade erst endlich richtig losging. Nur zu dumm, dass er es mit der störrischen Seele "22" zutun bekommt, die sich seit zig Jahrtausenden erfolgreich dagegen wehrt, den Weg ins irdische Dasein wirklich anzutreten.
Das klingt jetzt irgendwie gar nicht wie ein Film für Kinder, oder? Ist es auch nicht. Schon mit "Alles steht Kopf" hatte Pixar sich sehr weit von dem alten Klischee "Animationsfilm = Kinderfilm" entfernt, und geht jetzt noch ein paar bemerkenswerte Schritte weiter. Mit Themen wie Tod und Jenseits hat man sich zwar schon in "Coco" auseinandergesetzt. Aber jetzt dringt man dabei auf eine existentielle, philosophische Ebene vor, die für ein kindliches Publikum endgültig zu hoch ist. Infolge der Corona-Pandemie hat man sich bei Disney entschlossen, "Soul" wie schon drei Monate zuvor "Mulan" nicht im Kino zu starten, sondern exklusiv auf dem hauseigenen Streaming-Dienst zu präsentieren, pünktlich zu Weihnachten. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie zig ahnungslose Eltern am Weihnachtstag für ihre Kleinen den neuen Disney-Film anschmeißen werden - um ein ziemlich blaues Wunder zu erleben. Prognose: In den ersten Tagen nach Veröffentlichung wird es haufenweise negative Kommentare zu diesem Film regnen, einfach aufgrund völlig falscher Erwartungshaltungen.
Tatsächlich tun Docter, sein bis dato noch unbekannter Co-Regisseur Kemp Powers und ihr Team hier allerdings nichts anderes, als einmal mehr die größten Stärken von Pixar zu bündeln und nahezu in Perfektion auszuführen: Eine narrative Fantasie, die sich selbst keine Grenzen setzt, und die unendlichen Freiheiten des Animationsfilms nutzt um eine Geschichte zu erzählen, die auf anderem Wege kaum zu erzählen wäre. Gebündelt mit herausragendem technischen Handwerk, einzigartiger emotionaler Intelligenz beim Erschaffen und Ausloten der Figuren, und einer spielerischen, unbeschwerten Komik, die selbst beim ernstesten Thema immer wieder unerwartet und erfrischend durchbricht. Es ist in der Tat eine der besonderen Freuden von "Soul", wie häufig der Film sich kleine Explosionen von geradezu Cartoon-artiger, hemmungslos absurder Komik erlaubt und damit zeigt, wie groß die reine Freude am Unsinn in seinen sehr erwachsenen Machern immer noch ist.
Es kommt daher nicht von ungefähr, dass "Soul" ganz zentral verdeutlicht, wie wichtig es ist sich auch als Erwachsener ein kindliches Staunen und die Freude an den einfachen Dingen im Leben zu erhalten. Überhaupt ist es ein Film über die kleinen Dinge, deren Wert man viel zu oft übersieht. Jazz spielt darum in "Soul" passenderweise nicht nur eine Rolle in der Handlung, Jazz ist auch Bestandteil von Rhythmus und Grundeinstellung des Films, der es sich immer wieder erlaubt, auf unerwartete Tangenten einzuschwenken und eine Weile auf einer erzählerischen Note zu verweilen, einfach weil sie seine Spielfreude geweckt hat.
"Soul" bewegt sich auch deshalb enorm authentisch in seiner Handlungswelt - nicht nur in der musikalischen, sondern auch der afroamerikanischen. Es ist einer der vielen beeindruckenden Aspekte von "Soul", mit welcher Selbstverständlichkeit der Film eine schwarze Hauptfigur in einer hauptsächlich schwarzen Lebenswelt erzählt. Dass sich hier nichts irgendwie gewollt und "fake" anfühlt, ist sicherlich Co-Regisseur Kemp Powers anzurechnen, selbst Afroamerikaner, der hier für die authentische "realness" gesorgt haben dürfte.
Trotz aller Ambitionen, erwachsenen Thematik und geradezu existenzialistischen Dimensionen hebt "Soul" dennoch nie in Sphären ab, die zu verkopft oder philosophisch werden. Seine Tiefgründigkeit bewegt sich immer noch in ausreichend seichten Gewässern, dass auch ein breites Publikum problemlos mitgehen und mitfühlen kann. Pixar hat schon größere Tränenschocker als hier zustande gebracht, nichtsdestotrotz muss man schon ein ziemlich kalter Mensch sein, um von der Auflösung hier nicht ergriffen zu sein.
"Soul" ist genau das Pixar-in-Reinkultur-Fest, das man sich von dem Film ersehnt und erwartet hat. Umso bedauerlicher ist es, dass man ihn nicht auf der ganz großen Leinwand genießen kann - der visuelle Einfallsreichtum, gerade in der Jenseits-Welt, hätte es mehr als verdient gehabt. Ein Probe-Abo bei Disney+ ist "Soul" aber unbedingt wert - im Gegensatz zu "Mulan" wird der Film direkt bei Erscheinen im normalen Abo-Preis enthalten sein, ohne weitere Extra-Gebühren. Also kann man jedem erwachsenen Pixar-Fan nur wärmstens ans Herz legen, sich selbst ein kleines Weihnachtsgeschenk zu machen, und sich diese herzerwärmende, durchgeknallte, tiefschürfende und aberwitzige Wundertüte zu gönnen.
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