2004 könnte als ein denkwürdiges Jahr in Erinnerung bleiben, in dem die hiesige Kinoszene anstatt der üblichen Hollywood-Ware von zwei einheimischen Produktionen dominiert wurde, denn nach Deutschlands erstem echten Blockbuster "Traumschiff Surprise" kommt mit "Der Untergang" eine thematisch als auch künstlerisch gänzlich anders gelagerte, aber nicht minder beachtete Großproduktion. Schon drei Wochen vor dem offiziellen Start nahmen alle führenden Printmedien in Deutschland von "Bild" bis "Spiegel" den Film zum Anlass für neue Serien über die letzten Tage Adolf Hitlers, genau jene Ereignisse, die in der Verfilmung des heiß diskutierten Buches des Historikers und Hitler-Biografen Joachim Fest fiktionalisiert werden. Das bedeutet jede Menge kostenlose PR für den Film, die man allerdings unumwunden gutheißen muss - denn "Der Untergang" ist nicht nur einer der besten, sondern auch der wichtigste deutsche Film seit Jahren.
Auf jeden Fall ist es der wichtigste Film im Lebenswerk von Deutschlands Über-Produzent Bernd Eichinger. Der hatte bei so ziemlich jedem großen deutschen Kinohit der letzten 20 Jahre irgendwo seine Finger im Spiel, und investierte nun nicht nur Unsummen von Produktionsmitteln, sondern auch Unmengen von Herzblut in "Der Untergang", zu dem er höchstpersönlich das Drehbuch verfasste (mit erstaunlich gutem Ergebnis) und mit einer exquisiten Stabs- und Besetzungsliste dafür Sorge trug, dass dem Stoff so gut wie nur irgend möglich Rechnung getragen wird. Mit Oliver Hirschbiegel ("Das Experiment") holte er den vielleicht talentiertesten Regisseur, den Deutschland derzeit zu bieten hat, und das Ensemble ist zusammengesetzt aus der Crème de la Crème der hiesigen Schauspielzunft - angeführt vom Schweizer Bruno Ganz, dem derzeitigen Träger des Iffland-Ringes (die traditionsreiche Ehrung für den besten lebenden deutschsprachigen Bühnenschauspieler), der nur selten im Kino auftaucht, aber dann bleibenden Eindruck hinterlässt (wie in Wenders' "Der Himmel über Berlin" oder der zauberhaften italienischen Komödie "Brot und Tulpen").
In der Rolle von Adolf Hitler steht Ganz nun im Zentrum dieser filmischen Rekonstruktion der letzten Tage des Dritten Reiches, wie sie sich im Führer-Bunker unter der Berliner Reichskanzlei abgespielt haben. Dort hatte sich Hitler mit seiner Geliebten Eva Braun sowie seinen wichtigsten Handlangern und Generälen verschanzt, und dort zelebrierte man den eigenen Untergang mit einer ähnlich perversen Theatralik, mit der man wenige Jahre zuvor den eigenen Aufstieg inszeniert hatte. Fundiert auf Joachim Fests Tatsachen-Roman und ausgiebigen historischen Recherchen begeht "Der Untergang" dabei nicht den Fehler, den historischen Ereignissen krampfhaft einen filmdramaturgischen Rahmen aufzuzwingen, sondern lässt in beinahe dokumentarischer Weise dem Drama seinen eigenen Lauf. Und gerade deshalb trifft der Film tief ins Mark, so tief, wie man es kaum für möglich gehalten hätte.
"Darf man das?", war schon bei Veröffentlichung von Fests Buchvorlage die große Frage. Darf man ein historisches Ungetüm wie Hitler als Mensch darstellen, als Wesen mit Emotionen und Privatleben? Es birgt die Gefahr, Hitler greifbar und somit verstehbar zu machen (und Mitgefühl ist der erste - hier enorm gefährliche - Schritt Richtung Sympathie), aber es ist auch nötig, um zu verdeutlichen, dass man selbst einen kolossalen historischen Wahnwitz wie den Zweiten Weltkrieg nicht auf einen ideologisch fehlgeleiteten Unmenschen reduzieren kann, der einfach nur das unendlich Böse verkörpert. Hitler und sein Gefolge hielten ihre Taten für richtig, strebten nichts Geringeres als eine neue Weltordnung nach ihrer Ideologie an, und erlebten in den letzten Kriegstagen im Bunker in Berlin entsprechend den Zusammenbruch von allem, an das sie je geglaubt haben. Es ist die größte und bedeutsamste Leistung von "Der Untergang", dass es dem Film gelingt, diese Situation für sein Publikum begreiflich zu machen, und es gleichzeitig auf der nötigen Distanz zu halten. Er zeigt diese historischen Monster menschlich, aber ohne Sympathie.
Ohnehin sind die Ereignisse im Bunker von einem Irrsinn geprägt, der mehr erschüttert als alle plakativen Grausamkeiten. Generäle, die in einem orgiastischen Dauerbesäufnis dem nahenden Ende entgegen prosten, sind noch fast die normalsten Bilder in diesem unterirdischen Mikrokosmos, dessen Bewohner sich schon längst kollektiv von der Realität verabschiedet zu haben scheinen. Da wird zum unaufhörlichen Getrommel des Artillerie-Beschusses fröhlich auf den Tischen getanzt, während im Nebenraum sachlich und nüchtern über die effektivsten Selbstmord-Methoden debattiert wird. Abgeschnitten von der Außenwelt, eingekesselt von der Roten Armee und hoffnungslos ihrem Ende ausgeliefert inszeniert die oberste Spitze des Dritten Reiches ihr eigenes Ende mit egomanischer Versessenheit auf einen Abgang, der mindestens so epochal auszufallen hat wie der einst geplante Aufstieg zur Weltherrschaft. In Hitlers Kopf gab es keine Alternativen zwischen totalem Sieg und totaler Niederlage. In den letzten Kriegstagen wollte er das deutsche Volk, das sich als unfähig zur Umsetzung seiner Pläne und somit als unwürdig zum Fortbestehen erwiesen hatte, mit ins Verderben reißen, hielt den Schutz der Zivilbevölkerung für irrelevant und befahl die Zerstörung der gesamten Infrastruktur auf dem Rückmarsch vor den Alliierten. Wie eine Wagnersche Götterdämmerung sollte selbst der Untergang des Dritten Reiches alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen - es ist ein Glück, dass seine Befehle zu diesem Zeitpunkt nicht mehr umgesetzt wurden.
Dass "Der Untergang" in dieser Weise packt, mitreißt und erschüttert ist natürlich vor allem den beeindruckenden Leistungen von Regie und Darstellern zu verdanken. Wie schon in "Das Experiment" macht Oliver Hirschbiegel sein beengtes Setting zum heimlichen Co-Star des Films, lässt das Publikum die klaustrophobische Enge des Bunkers immerzu spüren, ohne sie jemals überdeutlich ins Bild zu rücken, und dient dem quasi dokumentarischen Ansatz mit einer kongenial reduzierten Inszenierung: Die Handkamera vermittelt Authentizität, die Musik wird zugunsten des Soundteppichs aus Bombeneinschlägen und Gewehrkugeln zurückgenommen, einzig der Schnitt zieht durch gelungene Szenenwechsel Aufmerksamkeit auf sich.
Und währenddessen müssen auch noch gut zwanzig Haupt- und Nebencharaktere berücksichtigt werden, von Goebbels und Himmler über den Architekten Speer bis hin zu Hitlers Privatsekretärin Traudl Junge (über die vor zwei Jahren bereits die Dokumentation "Im toten Winkel" entstand, ein Interviewfilm aufgenommen kurz vor ihrem Tod, aus dem zwei Ausschnitte quasi Prolog und Epilog von "Der Untergang" bilden). Sie wird gespielt von Jungstar Alexandra Maria Lara, die mit einer soliden Vorstellung das schwächste Glied in einem ansonsten jenseits von grandios agierenden Ensemble ist. Besonders hervorzuheben: Juliane Köhler als Eva Braun, die mit einer unerschütterlichen Fröhlichkeit sogar ihrem Selbstmord begegnet, als sei er nur ein weiterer amüsanter Programmpunkt in dieser Supershow - und so für mehr entsetztes Schaudern sorgt als jeder verzweifelte General; Corinna Harfouch als Magda Goebbels, jene von Hitler so geliebte Mutter der Nation, die in ihrem unerschütterlichen Glauben an den Segen des Nationalsozialismus ihre sechs Kinder tötete, weil sie ihnen ein Leben ohne das Regime nicht zumuten wollte; und natürlich Bruno Ganz, dessen Darstellung von Adolf Hitler pure schauspielerische Brillanz ist und ihm bereits jetzt einen Oscar garantieren würde - wenn das hier ein amerikanischer Film wäre.
Jedem seiner zahlreichen Charaktere verleiht "Der Untergang" Substanz, ohne ihre Beweggründe schönzureden. So wirkt zum Beispiel die strikte Weigerung der Generäle, ein zweites Mal nach der Schande von Versailles vor dem Feind zu kapitulieren, im Rahmen ihrer militärischen Ehre begreiflich - ist angesichts der verheerenden Folgen dieser selbstgefälligen Sturheit aber immer noch unentschuldbar. "Der Untergang" veranschaulicht auf diese Weise die verschiedenen persönlichen Tragödien der Menschen in diesem Bunker, die sich allesamt mit Haut und Haar in ihrer verqueren Ideologie verrannten, Zweifel längst vergessen oder nie gelernt hatten, und schließlich gar nicht anders konnten, als ihrem Führer gehorsam in den Untergang zu folgen. Wenn am Ende beinahe im Minutentakt jemand eine Kugel in seinen Kopf jagt, dann ist dies nicht nur die Handlung eines Feiglings, der sich vor den Konsequenzen seiner Taten drückt, sondern auch letzte Konsequenz aus dem Zusammenbruch der eigenen Glaubenswelt.
So gelingt "Der Untergang" mehr, als man sich von ihm erhoffen konnte: Mehr als "nur" eine monumentale Rekonstruktion dieser historischen Ereignisse, macht er für sein Publikum den Wahnsinn in den letzten Tagen des Dritten Reiches und in den Köpfen seiner Protagonisten in einer Intensität spürbar und deutlich, die lange Zeit nachwirkt und die Zuschauer an die Grenze der Belastbarkeit treibt. Trotzdem oder gerade deswegen ist er einer der bedeutsamsten Beiträge zur filmischen Aufarbeitung von Nazi-Deutschland. Ein historischer Meilenstein, fürs deutsche Kino und weit darüber hinaus.
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