
"Junikäfer" erreicht uns mit dem Etikett eines Independent-Geheimtipps und weist mit seiner Heimkehr-Geschichte zu einer dysfunktionalen Familie in der Tat thematische Verwandtschaft mit den beiden herausragenden US-Indies der letzten zwei Jahre auf, "Garden State" und "Little Miss Sunshine". Seine unkonventionelle Erzählweise zeichnet ihn ebenfalls bis zu einem gewissen Grad aus, doch leider überspannt der Film den Bogen und ist so am Ende eine eher frustrierende Erfahrung.
Das liegt vor allem an der Distanz, die der Film von Beginn an zwischen dem Publikum und den Figuren aufbaut, deren Geschichte man sich über die spärlich eingestreuten Informationen mühsam zusammenklauben muss: Die Kunsthändlerin Madeleine (Embeth Davidtz) verliebt sich auf einer ihrer Ausstellungen auf den ersten Blick in den attraktiven George Johnsten (Alessandro Nivola) und heiratet ihn schon nach einer Woche. Ein halbes Jahr später reist Madeleine von Chicago an die Ostküste nach North Carolina, um den unbekannten Maler David Wark davon zu überzeugen, seine Bilder von ihr anstatt eines New Yorker Konkurrenten vermarkten zu lassen. Und da Georges Elternhaus nun mal ganz in der Nähe liegt, besuchen die beiden die Familie des frisch gebackenen Ehemanns - zum ersten Mal überhaupt.
Was folgt, ist für den Zuschauer fast, als wäre er ein weiterer, stiller Hausgast über die nächsten Tage. Man verfolgt die ersten, unsicheren Begegnungen der nervösen Madeleine mit Georges Eltern Peg (Celia Weston) und Eugene (Scott Wilson) sowie seinem jüngeren Bruder Johnny (Ben McKenzie) und dessen hochschwangerer Frau Ashley (Amy Adams). Die große Luftmatratze wird aufgeblasen, damit die Gäste im Kinderzimmer schlafen können, und die Wände sind überall so dünn, dass man jedes Gespräch im Nebenzimmer mithören kann. Man unterhält sich über dies und das, die Familie trägt ihre üblichen und nicht zu verbergenden Konflikte aus, man versucht freundlich miteinander zu sein, aber schafft das nicht immer, das Verhältnis bleibt letztlich distanziert und am Ende ist man froh, als man wieder fahren kann.
Als dramatische Komponente kommt hier innerfamiliär einzig Ashleys Schwangerschaft hinzu, die im Laufe des Films entbinden wird. Ansonsten lernt man die Johnstens ungefähr genauso gut kennen wie die eigenen potentiellen Schwiegereltern am ersten gemeinsamen Wochenende. Das ist für einen zufrieden stellenden Film einfach zu wenig, und für eine tragfähige dramatische Struktur auch. Der Subplot um den merkwürdigen Maler Wark ist da auch keine hilfreiche Stütze, denn obwohl er die Struktur des Films diktiert, wirkt er insgesamt nur befremdlich. Das liegt sowohl an dem sehr eigenwilligen Künstler, der mit seinem permanent abschweifenden, verquasten Südstaaten-und-Kunst-Gefasel nicht mehr bloß exzentrisch sondern schon bekloppt wirkt, als auch an seinen Bildern, deren Bürgerkriegs-Szenarien von Südstaaten-Soldaten mit gewaltigen Schwänzen und Sklaven mit weißen Gesichtern dominiert werden. Warum überhaupt irgendein Kunstliebhaber daran interessiert sein sollte, das zu verstehen bleibt wohl nur einigen Spezialisten vorbehalten. Der Rest der Zuschauer wundert sich einfach nur, warum dieser Quark bitte schön eine Reise (und damit die ganze Geschichte) wert sein soll.
Den Maler-Plot kann man also getrost vergessen, abgesehen davon ist die Absicht der Filmemacher offensichtlich: Es geht genau darum, den Zuschauern nur diesen distanzierten Blick und die spärlichen Informationen über die Johnstens zu gewähren, und das Publikum so dazu zu bewegen, sich die Hintergründe selbst zu erarbeiten. Warum das nicht funktioniert, hat einen offensichtlichen Grund: Genauso wenig, wie man eine echte Familie in ein paar Tagen wirklich kennen lernen kann, werden auch die Johnstens nicht richtig greif- und verstehbar, bleibt zuviel in ihrem Verhalten Interpretationssache, die sich so oder so auslegen ließe.
Was "Junikäfer" in seinem erzählerischen und dramaturgischen Minimalismus vermissen lässt, ist zumindest eine gewisse Führung des Zuschauers, welche Familiengeschichte sich hier verbirgt, indem die brodelnden Konflikte konkret zum Überkochen gebracht werden. Das passiert hier allerdings nicht, und so bleibt eine Ansammlung durchaus interessanter Charaktere, die sich jedoch nicht zu einer interessanten Geschichte zusammenfügen.
Die Andeutungen sind da: Offensichtlich war George ein Vorzeigekind, intelligent und beliebt, und wurde von seinen Eltern entsprechend verhätschelt. Sein jüngerer Bruder Johnny hat sich angesichts dieses unerreichbaren Vorbilds eine aggressive Abwehrhaltung angewöhnt, indem er sich offenbar jeglicher Form von Antrieb verweigert und nicht einmal versucht, etwas aus sich zu machen. Die einzige Szene, in der man ihn glücklich sieht, ist bei der Arbeit mit seinen Kollegen in einem stumpfsinnigen Einpacker-Job. Von seiner Frau scheint er nur genervt zu sein, und die verzweifelten, naiven Zukunftsträume der viel zu jung schwanger gewordenen Ashley werden offensichtlich in der kindlichen Ehrerbietung, mit der sie der erfolgreichen Großstadt-Frau Madeleine begegnet, die alles verkörpert, was Ashley vermutlich nie erreichen wird.
Ashley ist die tragischste, lebendigste Figur in "Junikäfer" (dem sie auch den Titel gibt: "Junikäfer" ist der Name, den Ashley ihrem Kind geben will, wenn es ein Mädchen wird. Ein Junge soll Johnny heißen, wie sein Vater. Und natürlich wollen alle eigentlich nur einen Sohn). Das allein macht sie aber noch nicht zum eigentlichen Höhepunkt des ganzen Films, dies obliegt der Leistung von Amy Adams. Ihre Vorstellung als dauerquasselnde, immer fröhliche ehemalige Schulschönheit ist wirklich beeindruckend und wurde letztes Jahr zurecht mit einer Oscar-Nominierung als beste Nebendarstellerin belohnt. Adams dominiert mit einer bemerkenswerten Authentizität jede ihrer Szenen, und weil das nicht wenig sind, damit auch den ganzen Film. Selbst die erfahrene Celia Weston sticht sie locker aus, und Embeth Davidtz wird konsequent an die Wand gespielt.
Von Alessandro Nivola als George hat sie nicht viel Konkurrenz zu erwarten, denn der glänzt zumeist durch Abwesenheit. Die Tage über scheint George sonst wo zu sein, aber sicher nicht zuhause, und wenn er abends heim kommt, tut er auch nicht mehr viel außer Sex mit Madeleine zu haben - was das einzige scheint, das die beiden wirklich verbindet, denn für Madeleine ist ihr Mann genauso ein Fremder wie für die Zuschauer. Entsprechend staunt das Publikum auch genauso wie sie, als George bei einem Gemeindefest auf eine Bitte hin zum Mikrofon greift und mit feiner Singstimme eine Hymne vorträgt.
Nochmal darauf eingegangen wird indes nicht, und das der Film in dieser Konsequenz ausgerechnet bei George eine nähere Charakterzeichnung verweigert, verursacht den größten Frust, ist er doch offensichtlich die Schlüsselfigur zu den Verhältnissen in seiner Familie. Sein Unwillen, sich überhaupt mit seinen Verwandten auseinander zu setzen (bezeichnenderweise geschieht der Besuch nur, weil Madeleine ohnehin in die Ecke des Landes muss), sagt zwar auch schon etwas aus, wirkt sich in seiner Penetranz aber sehr schlecht auf den Film aus. Anstatt entscheidende Hinweise und Details zu liefern, bleibt Georges Verhalten widersprüchlich, die gesamte Figur schwammig und das offensichtlich in voller Absicht der Filmemacher. Wer erklären kann, was das soll, der weiß vielleicht auch, was an David Warks Bildern Kunst ist.
So bleibt Amy Adams' famose Vorstellung als Ashley das einzig wirklich sehenswerte an "Junikäfer", der ansonsten zwar mit einer sehr individuellen und markant spröden Inszenierung aufwartet (den Namen des Regisseurs Phil Morrison sollte man sich eventuell merken), doch mit seiner konsequenten Verweigerung von Figurenentwicklung und Hintergründen letztlich vor allem die Frage aufwirft, worum es hier eigentlich gehen sollte - denn an einer echten Geschichte fehlt es einfach.
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