
Es ist ein paradoxes, fast bizarr erscheinendes Bild, das gerade deshalb unvergesslich im Gedächtnis haften bleibt. Ein Fliegerangriff im zweiten Weltkrieg, hunderte schutzlos ausgelieferte Zivilisten flüchten sich ausgerechnet unter eine riesige Nazi-Flagge - und die Angriffe hören auf. Dass dies sogar auf einem realen Ereignis beruht liegt daran, dass es sich bei den angreifenden Kampfflugzeugen um Japaner, den Zivilisten um Einwohner der damaligen chinesischen Hauptstadt Nanjing und der Fahne um das Eigentum von John Rabe handelt, über 20 Jahre Leiter der Siemens-Vertretung vor Ort. Es ist seine über Jahrzehnte vergessene Geschichte, basierend auf seinen eigenen Tagebuch-Aufzeichnungen, die diesen Film inspirierte.
Der wiederum ist das mit Abstand größte Unterfangen, an das sich Regisseur und Autor Florian Gallenberger jemals herangewagt hat. Der hat immerhin schon einen Oscar im Schrank stehen (für den besten Kurzfilm 2001), konnte aber mit seinem in Indien angesiedelten Kino-Debüt "Schatten der Zeit" 2004 nicht den eigentlich verdienten Erfolg einfahren. Mit dieser für europäische Verhältnisse geradezu opulent ausgestatteten Großproduktion misst er sich jetzt mit überlebensgroßen Hollywood-Vorbildern - und kann mühelos bestehen.
Es ist schon ein bisschen "Schindlers Liste light", nicht nur weil man als Werbezeile für den Film denselben Talmud-Spruch gewählt hat, der als Gravur für das Abschiedsgeschenk der Schindler-Juden an ihren Retter benutzt wurde ("Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt."). Die Grundmotive der Geschichte ähneln sich ebenfalls deutlich, auch wenn John Rabe längst nicht so eine schillernde Figur war wie der Lebemann Oskar Schindler. Über zwei Jahrzehnte leitete er brav und dienstbeflissen die Siemens-Niederlassung in China, war zwar Mitglied der NSDAP, hatte aber wenig Ahnung davon, was in der fernen Heimat tatsächlich passierte, während er sich im November 1937 eher unfreiwillig auf seine Rückreise vorbereitete. Nicht, um vor den nahenden japanischen Invasionstruppen zu fliehen, wie fast alle anderen Ausländer in der Stadt, sondern weil die Konzernleitung ihn zurück beordert hat. Doch die widerstrebende Übergabe der Geschäftsführung an einen Vorbild-Nazi, der Rabes Lebenswerk sang- und klanglos abwickeln soll, wird gestört vom japanischen Angriff auf Nanjing am 13. Dezember 1937. Rabe rettet die Arbeiter auf seinem Fabrikgelände, indem er sie mit der Hakenkreuz-Flagge unter den Schutz des Banners des japanischen Alliierten stellt.
Ein Akt der Verzweiflung, der bei den wenigen Verbliebenen der internationalen Gesellschaft die Idee weckt, eine von den Japanern gestattete Sicherheitszone in der Stadt einzurichten. Auf Drängen der idealistischen, französischen Schulleiterin Valerie Duprès (Anne Consigny) und gemeinsam mit dem angriffslustigen Arzt Dr. Robert Wilson (Steve Buscemi - jupp, genau der) und dem deutschen Diplomaten Georg Rosen (Daniel Brühl) übernimmt Rabe (Ulrich Tukur) die Führung der Zone, in der binnen kürzester Zeit über 200.000 Zivilisten Schutz suchen - doppelt soviel, wie man eigentlich versorgen kann. Doch das Gefühl von Sicherheit ist trügerisch, denn die japanische Armee metzelt die Zivilbevölkerung über Wochen in einem gnadenlosen Massaker nieder (am Ende sollen es über 300.000 Tote gewesen sein), und bald scheinen auch die Grenzen der Sicherheitszone kein Hindernis mehr für wahllose Übergriffe zu sein. Wie lange wird Rabe die wehrlosen Opfer schützen können?
Keine Frage, die Geschichte vom unfreiwilligen, aber moralisch verpflichteten Helden in den grausamen Wirren des Zweiten Weltkriegs ist viel erprobt, doch selten hat es sich so gelohnt, sie in einem Film zu verewigen. Nicht nur, weil John Rabe fast vollkommen vergessen war und seine Aufzeichnungen erst Jahrzehnte nach seinem Tod (auch in Buchform erschienen) dazu beitrugen, die wahren Ereignisse während des Nanjing-Massakers aufzuklären (dessen Ausmaß von der japanischen Regierung bis heute geleugnet wird). Sondern, rein cineastisch betrachtet, vor allem auch deshalb, weil die Geschichte in all ihren tragischen Details so viele großartige Bilder bietet.
Bilder wie die bereits angesprochene Nazi-Flagge als Schutzwall, oder als Rabe - nur Sekunden, nachdem er sie scheinbar in Sicherheit verabschiedet hat - mit ansehen muss, wie das Schiff mit seiner Frau an Bord von japanischen Fliegern bombardiert und versenkt wird. Oder Bilder, welche still und ergreifend den verzweifelten Überlebenskampf der Umzingelten dokumentieren, zum Beispiel wenn Duprès all ihren chinesischen Schülerinnen die Haare kurz schneiden lässt - damit sie unattraktiver aussehen und so vor den Vergewaltigungen der japanischen Soldaten nur ein wenig besser geschützt sind.
Das alles inszeniert Florian Gallenberger mit großartiger Sicherheit und feinstem Gefühl für die starken, emotionalen Momente, während er mit immer wieder hinein geschnittenen, historischen Dokumentar-Aufnahmen aus der Zeit des Massakers stets und geschickt in Erinnerung ruft, dass dies alles wirklich geschehen ist. Die historischen Tatsachen stimmen, die Gräueltaten der japanischen Invasoren sind verbürgt und die Geschichte stark und erschütternd genug, um künstliche Kitsch-Kosmetik á la "Pearl Harbor" nicht nötig zu haben.
Man merkt es dem Film an, mit wie viel Leidenschaft Gallenberger dieses Projekt realisiert hat (das aufgrund seiner schieren Größe und dem nötigen Dreh in China diverse Male fast gescheitert wäre), und vor allem, welch fantastisches Talent in diesem Regisseur steckt. Würde nicht die meiste Zeit deutsch gesprochen (wobei die Leute, die in der Realität miteinander auf Englisch kommunizierten, das auch hier tun), man könnte "John Rabe" wohl kaum von einem ähnlich gelagerten amerikanischen Film unterscheiden. Die Produktionsqualität ist beachtlich, die visuellen Effekte bei den Luftangriffen absolut überzeugend, und mit Gallenbergers exzellenten Fähigkeiten bei der Komposition von großartigem Breitbild-Kino wähnt man sich hier beizeiten problemlos in einem Film, den ein Hollywood-Studio ins Oscar-Rennen schicken möchte.
Das wäre zwar wohl nicht von Erfolg gekrönt, denn Gallenberger ist halt noch nicht ganz Spielberg und "Schindlers Liste" immer noch eine völlig andere Liga. Zwischen der und "John Rabe" kommt aber nicht mehr viel. Episches Historien-Kino mit exzellenten Darstellern und einer Geschichte, die es sich wirklich zu erzählen lohnt. Eine späte Würdigung für den vergessenen Helden John Rabe, und ein definitives Highlight des Kino-Frühlings 2009.
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