In der langen und erstaunlichen Karriere des Clint Eastwood nehmen die 2000er–Jahre eine herausragende Stellung ein. Denn spätestens mit seinem Oscar-prämierten Doppelschlag „Mystic River“/„Million Dollar Baby“ hatte Eastwood sich als einer der besten und aufregendsten Regisseure etabliert – im Stolzen Alter von über 70 Jahren und Dekaden nach seinen Mainstream-Erfolgen als Schauspieler. Seitdem wird der zuverlässig einmal pro Jahr anstehende neue „Eastwood“ stets mit großer Spannung erwartet, und wenn es dabei mal nur zu einem soliden Film wie zuletzt „Hereafter“ reicht, macht sich sogar fast schon etwas Enttäuschung breit.
Auch in die Biographie des legendären FBI-Gründers J. Edgar Hoover wurden dementsprechend große Erwartungen gesetzt, die Besetzung der Titelrolle mit dem in den letzten Jahren in die oberste Schauspielklasse aufgestiegenen Leonardo DiCaprio ließ zusätzlich recht früh Oscar-Spekulationen aufkommen. Doch sowohl vom Publikum als auch von den diversen Preisverleihern wurde „J. Edgar“ dann zwar wohlwollend, aber doch eher zurückhaltend aufgenommen. Sollte der Filmemacher Eastwood etwa doch langsam nachlassen oder sogar seinen Biss verloren haben? Entwarnung - wer den fertigen Film gesehen hat, kann diese Frage eigentlich nur klar verneinen.
Als der junge Beamte des Justizministeriums im Jahre 1924 das Bureau of Investigation (BOI) übernimmt, hat er kurz zuvor gerade eine kommunistische Invasion und Machtübernahme verhindert – davon ist J. Edgar Hoover (Leonardo DiCaprio) zumindest felsenfest überzeugt und sonnt sich noch einige Zeit in den vom amerikanischen Volk seinerzeit durchaus goutierten Massenverhaftungen linker, vom noch jungen roten Russland angestachelter Systemkritiker. Die bis dahin unterbesetzte und reichlich ineffiziente Behörde der Bundespolizei päppelt er in den Folgejahren mächtig auf und auch der neue Name „Federal Bureau of Investigation“ (FBI) trägt zum gesteigerten Ansehen der Institution bei, genauso wie Hoovers geschickte PR-Arbeit, in der seine „G-Man“ zu Helden in Radiosendungen oder auf Cornflakes-Packungen vermarktet werden. Nach der berühmten Entführung des Lindbergh-Babys im Jahre 1932 erhält Hoover erweiterte Kompetenzen und beginnt zusammen mit einigen wenigen engen Vertrauten Informationen und Akten zusammenzutragen, die selbst vor der Archivierung intimer Details aus dem Privatleben hochgestellter Politiker nicht zurückschrecken. Auch dadurch wird er praktisch unangreifbar und übersteht selbst ihm gegenüber kritisch eingestellte Präsidentschaften unbeschadet. Doch Hoover geht so in seinem Beruf, der für ihn eine Berufung ist, auf, dass sein Privatleben auf ein Minimum reduziert bleibt. Dominiert von der gluckenhaften Mutter (Judi Dench), den täglichen Essen mit seinem treuesten Mitarbeiter Clyde Tolson (Arnie Hammer) und der Zuverlässigkeit seiner persönlichen Sekretärin Helen Gandy (Naomi Watts), der er in jungen Jahren einst erfolglos einen Heiratsantrag machte.
Natürlich erzählt Eastwoods Film dieses Leben nicht einfach linear nach, was wesentlich uninteressanter wäre als der Sprung in unterschiedliche Jahrzehnte und zu den entscheidenden Momenten, die sich auf den späteren Edgar auswirken werden oder vom jüngeren inspiriert wurden. Allerdings werden dabei auch ganze Jahrzehnte wie die 40er und 50er Jahre fast vollständig ausgespart und sich auf einige prägende Ereignisse fokussiert. Aufhänger für die Rahmenhandlung sind die Memoiren, die Hoover kurz vor seinem Tode Anfang der 70er Jahre einem seiner jungen Mitarbeiter diktiert - was bedeutet, dass wir die Rückblenden also aus seiner Perspektive geschildert bekommen, und der Zuschauer tut gut daran, diese daher von vornherein zu relativieren, wie sich im Verlauf noch zeigen soll. Was deshalb ein geschickter Schachzug ist, da es an „objektiven“ Fakten über Hoovers Privatleben mangelt, denn der Mann, der die Geheimnisse Anderer sammelte und archivierte wie wohl niemand zuvor, war ein Meister darin seine eigenen zu bewahren.
Was auch für das im Vorfeld meistdiskutierte Thema gilt, nämlich die vermutete Homosexualität des FBI-Chefs. Eastwood und sein durch „Milk“ gerade in diesem Feld bewanderte Drehbuchautor Dustin Lance Black deuten hier vieles an, lassen aber auch genug offen, um sich nicht im Geringsten dem Verdacht auszusetzen, plakativ und sensationslüstern vorzugehen. Zwar gibt es keinen Zweifel daran, dass sein Freund Clyde (Armie Hammer aus „The Social Network" mit einer starken Performance) an Männern interessiert ist, doch Hoover wird in dieser Hinsicht eher zurückhaltend geschildert, geprägt von dem Korb, den er sich einst bei Helen einfing, und den Warnungen seiner strengen Mutter, keinesfalls ungehörigen Neigungen nachzugeben.
So gilt die ganze Liebe und Aufmerksamkeit des Patrioten J. Edgar Hoover folglich seinem Land und es wird sehr schön deutlich, wie die Aufgabe, dieses Land vor echten oder vermeintlichen Bedrohungen zu schützen, den obersten Bundespolizisten über die Jahre zu einem verbohrten Fanatiker werden lässt, der eigentlich nicht mehr in die Zeit passt, da er auch in der durch die Kennedy-Brüder vermittelten Aufbruchsstimmung oder den Bürgerbewegungen eines Martin Luther King nichts als unamerikanische Umtriebe wittert – und so dem von ihm eigentlich verachteten Senator Joe McCarthy im fortgeschrittenen Alter immer ähnlicher wird, ohne es selbst zu merken. Dass er es wirklich nicht mitbekommt und nicht zur Selbstreflexion in der Lage ist, vermittelt Leonard DiCaprio absolut glaubwürdig und lässt seine Figur dabei niemals zur Karikatur verkommen. Die Darstellung ein und derselben Person über einen Zeitraum von rund fünfzig Jahren gelingt dabei nicht nur dank der Hilfe ausgezeichneter Maskenbildner sehr überzeugend, vor allem DiCaprios alt gewordener, ächzender und nur schwer erträglicher Hoover ist eine herausragende Leistung.
Zweifellos erfordert dieses Biopicture eine hohe Konzentration und natürlich vor allem ein grundlegendes Interesse an der Figur Hoover, denn ansonsten ist es sicher etwas anstrengend den Männern in ihren Anzügen dabei zuzuschauen, wie sie vorwiegend reden und rauchen. Auch das Konzept oftmals nur mittels der Farbabstufungen dieser Anzüge erkennen zu lassen in welchem Jahrzehnt wir uns gerade befinden, entpuppt sich als etwas überambitioniert– manchmal braucht man als Zuschauer doch ein paar mehr Daten bis man sich wieder zurechtfindet. Insgesamt aber funktioniert die Herangehensweise des vorrangigen Beschreibens statt Wertens sehr gut und verleiht dem Film hohe Glaubwürdigkeit und Ernsthaftigkeit. Genauso relativierend war Eastwood ja auch bereits an ein anderes amerikanisches Nationalheiligtum in seinen Komplementärfilmen „Flags of our Fathers“ / „Letters from Iwo Jima“ herangegangen, was ihm ebenfalls nicht die ungeteilte Liebe seiner Landsleute einbrachte. Aber so ist das halt: Aus dem ehemaligen Westernhelden und Mann für Actionrollen mit Hang zur Selbstjustiz ist ein sehr leiser und zurückhaltender, seine Themen fein sezierender Filmemacher geworden. „J. Edgar“ ist dafür ein weiteres gelungenes Beispiel.
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