
Die Idee, die der Schriftsteller F. Scott Fitzgerald
1922 in einer seiner Kurzgeschichten verarbeitet hat, scheint einfach
wie geschaffen fürs Kino: Ein Mann wird im Körper eines
Greises geboren und im Laufe seines Lebens immer jünger, bis
er schließlich als Säugling stirbt. So stark ist die
Unaufhaltsamkeit des menschlichen Alterungsprozesses trotz aller
wissenschaftlichen
Fortschritte als unveränderliche Konstante in unsere Köpfe
eingebrannt, dass die Vorstellung der in der Realität natürlich
unmöglichen Umkehrung dieses Prozesses automatisch eine große
Faszination auf uns ausübt. Auch Hollywood war schon lange
von der Idee fasziniert, diese Verjüngung auf der Leinwand
sichtbar zu machen, doch erst Regisseur David Fincher gelang es,
das Projekt ins Rollen zu bringen.
Der Inhalt ist mit obigem Satz eigentlich schon treffend umrissen,
soll aber der Vollständigkeit halber noch einmal detaillierter
erläutert werden: In New Orleans kommt Benjamin Button 1918
genau an dem Tag zur Welt, an dem der erste Weltkrieg endet. Seine
Mutter stirbt bei der Geburt, sein Vater (Jason Flemyng) setzt das
Kind, entsetzt über dessen abnormes Aussehen, auf den Stufen
eines Altersheims aus. Dort wird der Junge von Queenie (Taraji P.
Henson), der Leiterin des Heimes gefunden, die das Baby trotz seines
greisenhaften Äußeren sofort ins Herz schließt
und bei sich aufnimmt. Benjamin wächst fortan im Altersheim
unter all den anderen Bewohnern auf, von denen er sich kaum zu unterscheiden
scheint. Körperlich gleicht er einem etwa 80-jährigen
Mann, im Geiste ist er jedoch noch ein Kind. Prognostizieren die
Ärzte anfangs noch, er sei in äußerst kritischer
Verfassung und werde bald sterben, stellt sich allmählich doch
heraus, dass es etwas Besonderes mit Benjamin auf sich hat. Er lernt
laufen, wird kräftiger und bald dämmert es auch Queenie,
dass Benjamins körperliche Entwicklung der von anderen Menschen
entgegengesetzt verläuft.
Eines
Tages lernt Benjamin Daisy, die sechsjährige Enkelin einer
der Heimbewohnerinnen kennen. Trotz ihrer äußerlichen
Unterschiede freunden sich die beiden sofort miteinander an, da
Daisy erkennt, dass sich hinter Benjamins Äußeren die
Seele eines Kindes verbirgt. Als Benjamin schließlich das
Greisenalter hinter sich gelassen hat (und nun von Brad Pitt gespielt
wird), beschließt er, das Altersheim zu verlassen und hinaus
in die Welt zu ziehen. Im Laufe seines Lebens lernt er die unterschiedlichsten
Menschen kennen, doch immer wieder zieht es ihn zurück zu Daisy
(Cate Blanchett), die als Balletttänzerin Karriere macht.
Soweit also zur Handlung. Doch worum es in "Benjamin Button"
genau geht, mag für jeden Cineasten erst einmal zweitrangig
sein, schließlich lässt hier allein die Kombination aus
Regisseur und Hauptdarsteller aufhorchen. David Fincher und Brad
Pitt haben zusammen mit "Sieben"
und "Fight Club" Kinogeschichte
geschrieben und die Sehgewohnheiten des Publikums gehörig umgekrempelt.
Da liegt die Messlatte für das dritte gemeinsame Werk doch
verdammt hoch, ja eigentlich: unerreichbar hoch. Ob Fincher nun
diesen Druck gespürt haben mag oder nicht, mit "Benjamin
Button" hat er jedenfalls einen Film gedreht, der auf den ersten
Blick so gar nicht zu seinen bisherigen Werken zu passen scheint.
Der Mann, von dem wir bisher dachten, er sei zuständig fürs
Düstere, Pessimistische und in dessen Filmen selten die Sonne
schien, aber dafür umso mehr Regen auf die Straßen prasselte,
dieser Herr Fincher also wagt sich nun an ein episches Drama mit
einer gehörigen Portion Romantik? Ja, das tut er und sichert
sich damit als äußerst willkommenen Nebeneffekt auch
noch die Aufmerksamkeit
der Filmschaffenden Hollywoods in dem Maße, wie es die weniger
massentauglichen Filme "Sieben" und "Fight Club"
eigentlich auch schon verdient gehabt hätten. Die überraschend
hohe Anzahl von 13 Oscar-Nominierungen für "Benjamin Button"
- unter anderem in den Kategorien Regie, Hauptdarsteller und als
bester Film - entschädigt vielleicht ein bisschen dafür,
dass Finchers Meisterwerke in den 90ern bei den Verleihungen so
kläglich übergangen worden sind.
Aber nicht nur die Grundstimmung des Films ist dieses Mal wie erwähnt
eine andere, sondern auch Finchers Inszenierungsstil. Der ist nämlich
erstaunlich zurückhaltend, konventionell und geradlinig - auch
wiederum verglichen mit früheren Werken, die technische Spielereien
wie eine dank CGI-Unterstützung den Gesetzen der Physik trotzende
Kameraführung zu Finchers Markenzeichen werden ließen.
Bereits in "Zodiac" schien der Regisseur sich von derartigen
Mätzchen weitgehend abzuwenden, und in "Benjamin Button"
kommt zwar auch wieder reichlich der Computer zum Einsatz, doch
dieses Mal hauptsächlich um Brad Pitt nach und nach jünger
aussehen zu lassen, was wirklich fantastisch gelungen ist. Man muss
wohl auf die DVD warten, um herauszufinden, inwieweit Pitts Verjüngung
den Maskenbildnern und inwieweit sie den Tricktechnikern zu verdanken
ist, aber fest steht, dass auf dem Gelingen dieses Effekts die Glaubwürdigkeit
der ganzen Geschichte fußt. Eine solche handwerkliche Perfektion
darf man bei einem Fincher-Film ruhig erwarten und es gibt wie gewohnt
von technischer Seite her überhaupt nichts zu meckern.
Auch die Alterung der anderen Figuren erscheint absolut glaubwürdig,
Kameramann Claudio Miranda liefert wunderschöne Bilder und
vor allem die Set- und Kostümdesigner könnten allein anhand
dieses Films demonstrieren, worin ihr Beruf besteht. Nicht nur die
handelnden Personen wandeln sich hier über die Jahre, sondern
auch die Schauplätze altern über die Jahrzehnte und jede
Epoche wird mit den für sie typischen Mode- und Designelementen
in akribischer Detailarbeit auf die Leinwand gebracht.
Technisch
also in jeder Hinsicht brillant, darf man auch auf erzählerischer
Ebene Großes von "Benjamin Button" erwarten, stammt
das Drehbuch doch von Eric Roth, einem der verlässlichsten
Schreiber Hollywoods, der für "Forrest Gump" auch
schon einen Oscar im Schrank stehen hat. Ähnlichkeiten zwischen
beiden Filmen sind kaum von der Hand zu weisen; ferner erinnert
die Handlung von "Benjamin Button" - ein sympathischer
Sonderling schlägt sich durch die Weltgeschichte und lernt
einen Haufen skurriler Persönlichkeiten kennen - auch an "Big
Fish" oder die großen Romane von John Irving. Roth
scheint Spezialist für Drehbücher zu sein, die die Schicksale
von Einzelpersonen mit Zeitgeschichte und gesellschaftlichen Veränderungen
in Beziehung setzen ("Der gute Hirte"),
was ihm auch hier wieder hervorragend gelingt, auch wenn die Geschichte
sich in der Filmmitte dann doch ein wenig in die Länge zieht.
Kurioserweise erweist sich der zentrale Clou der Geschichte - Benjamins
umgekehrter Alterungsprozess - auf der Handlungsebene als gar kein
so großer und man kann sich zumindest fragen, ob denn der
insgesamt ohne große Überraschungen auskommende Film
mit einer normal alternden Hauptfigur nicht ganz ähnlich funktioniert
hätte. Immerhin scheint sich hier die Verbindung zu früheren
Fincher-Filmen zu finden: Wieder einmal geht es in "Benjamin
Button" um eine Person, der die Kontrolle über das eigene
Leben entzogen ist.
Aus dieser eigentlich tragischen Ausgangslage haben Eric Roth und
David Fincher aber keine tieftraurige, pessimistische Erzählung
gemacht, sondern einen Film, in dem sich Komik und Tragik immer
wieder die Hand reichen - von der Rahmenhandlung, in der eine im
Sterben liegende Daisy sich von ihrer Tochter (Julia Ormond) aus
Benjamins Tagebuch vorlesen lässt bis hin zum wirklich witzigsten
Running-Gag eines Films in den letzten Jahren. Die Darsteller überzeugen
dabei alle auf ganzer Linie, was bei Cate Blanchett, deren Schauspiel
wie gewohnt beeindruckt, keine so große Überraschung
darstellt, bei Brad Pitt aber vielleicht schon eher. Pitt legt die
Gestaltung seiner Figur äußerst subtil und zurückhaltend
an und erlangt gerade dadurch Glaubwürdigkeit; auch auf darstellerischer
Ebene wird hier also großer Wert auf Realismus gelegt und
überladen wirkende Gefühlsausbrüche vermieden, was
dem Film wirklich gut tut.
Tilda Swinton hat eine kleine, aber in Erinnerung bleibende Rolle
als Benjamins Geliebte auf Zeit; davon abgesehen beeindrucken vor
allem Taraji P. Henson als Queenie und die Kinderdarstellerin Elle
Fanning, die Daisy als Sechsjährige spielt und bei der es sich
um die Schwester von Dakota Fanning ("Krieg
der Welten") handelt, in deren Familie das Gen für
die Schauspielbegabung wohl äußerst großzügig
verteilt worden ist.
"Der seltsame Fall des Benjamin Button" bietet also auf allen Ebenen Hollywood-Handwerk auf höchstem Niveau. Dennoch, ein Grenzen sprengendes Werk wie seinerzeit mit "Sieben" oder "Fight Club" ist David Fincher dieses Mal nicht gelungen. Das kann und muss natürlich auch nicht immer wieder der Fall sein, aber es wirkt fast ein bisschen so, als sei dieser Film Finchers bewusste Anlehnung an den Mainstream. Im Gegensatz zu den genannten Vorgängern bietet nämlich "Benjamin Button" nichts, was man nicht schon anderswo gesehen hat (abgesehen vielleicht von Brad Pitts wundersamer Verjüngung) und ist damit sicherlich der bislang massenkonformste und kommerziellste Film des Regisseurs. Das dürfte auch erklären, warum David Fincher dieses Mal die volle Aufmerksamkeit der Academy zuteil wurde. Wollen wir diese Tatsache hier mal zum Anlass nehmen, ihm zum einen viel Erfolg bei der Oscarverleihung zu wünschen, zum anderen aber auch, dass sein nächster Film inhaltlich wieder etwas mehr Kompromisslosigkeit zeigt.
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