Arrietty - Die wundersame Welt der Borger

Originaltitel
Karigurashi no arrietty
Land
Jahr
2010
Laufzeit
94 min
Genre
Release Date
Bewertung
8
8/10
von Margarete Prowe / 18. Juli 2011

Studio Ghibli ist das japanische Pendant zur Animationsschmiede Pixar, war genau genommen sogar das Vorbild für die Animationsmeister aus Emeryville, und ist mittlerweile fast ebenso bekannt wie Pixar durch Meisterwerke wie "Prinzessin Mononoke", "Chihiros Reise ins Zauberland" und "Das wandelnde Schloss". Für beide Studios gilt, dass Fans monatelang auf das nächste Werk warten und die Vorfreude schließlich in dem großartigen Gefühl endet, dass sich die Geduld gelohnt hat. Doch nicht immer wird das Publikum mit Geniestreichen verwöhnt. Gelang Studio Ghibli lange Zeit eine Punktlandung nach der nächsten, so riss die famose Filmszene-10-Punkte-Reihe mit "Ponyo" jäh ab. Der nun anlaufende "Arrietty - Die wunderbare Welt der Borger" richtet sich glücklicherweise auch wieder an ein älteres Publikum, erreicht aber immer noch nicht die emotionale Wucht früherer Ghibli-Werke.

Der Junge Sho zieht für eine Weile ins Haus seiner Großtante Sadako, um sich auszuruhen vor einer bevorstehenden Herzoperation. Im Garten bemerkt er ein etwa zehn Zentimeter großes Mädchen, das sich unter Blättern versteckt und wegläuft. Das Teenagermädchen Arrietty lebt mit ihren Eltern Pod und Homily unter dem Haus. Sie sind Borger und "borgen" sich von den Menschen das, was sie brauchen. Sie leben nach drei Grundsätzen: Nimm nur das, was du wirklich brauchst. Nimm nur so viel, dass die Menschen den Schwund nicht bemerken. Und lasse dich nie von den Menschen sehen. Denn sonst müssen Borger ihr Haus verlassen und ein neues Heim weit weg finden. Nur so können sie überleben. Sho und Arrietty jedoch freunden sich trotz Größenunterschieden und Verboten an. Und so beginnt eine wundersame, aber auch dramatische Geschichte.

"Arrietty" basiert auf der Kinderbuchreihe "Die Borger" der britischen Autorin Mary Norton. Dieser Stoff wurde schon zwei Mal umgesetzt: 1992 als BBC-Serie "The Borrowers" und als gleichnamiger Film mit John Goodman und Jim Broadbent - beide eher mäßige Werke. Der Stoff wurde nun vom England der 50er Jahre in das Japan von 2010 verlegt, nach Koganei (im Westen von Tokio), wo sich das Studio Ghibli seit 1992 befindet. Die Leiter des Studio Ghibli, Hayao Miyazaki und Isao Takahata wollten den Borger-Stoff schon seit 40 Jahren umsetzen und ließen nun doch einen anderen Regisseur das Ruder übernehmen, da sie beide nicht mehr die Jüngsten sind und ihre Energien nicht für so viele Stoffe gleichzeitig ausreichen, wie sie bei Ghibli entwickelt werden.
Miyazaki wurde 1941 geboren, Takahata sogar 1935. Beide beginnen derzeitig, an ihrer Nachfolge zu arbeiten. So wurden zum Beispiel Miyazakis Sohn Goro Miyazaki, gelernter Landschaftsarchitekt, und der Chefzeichner Hiromasa "Maro" Yonebayashi nun Regisseure von Langfilmen, auch wenn dies nicht immer reibungslos vonstatten ging. Eine Rolle spielt dabei die geringe Erfahrung der neuen Regisseure. Hiromasa kam anfänglich mit jeder Frage zu seinem Meister Hayao, der auch das Drehbuch geschrieben hatte, und machte diesem somit mehr Arbeit, anstatt ihn zu entlasten. Eine Legende wie Miyazaki möchte man natürlich auch nicht enttäuschen.

Die Figurenzeichnung ist in "Arrietty" etwas klischeeartiger geraten, als man dies von Studio-Ghibli-Produktionen kennt, besonders die Haushälterin von Shos Tante wirkt albern und in ihrer Motivation nicht glaubwürdig. Von Sho wüssten wir gern mehr, erfahren aber nur sehr wenig und auch Arriettys Mutter scheint mit ihrer hysterischen Ader arg überzeichnet. Doch dafür gibt es fantastische Szenen, in denen die Borger zum Beispiel die Küche der Menschen mit Seilen und Haken besteigen wie eine Gebirgskette, um ein einziges Stück Würfelzucker zu ergattern (für sie eine Monatsration). Auf sehr viele Feinheiten wurde in "Arrietty" geachtet: Sogar die Geräusche in einer menschlichen Behausung sind für die Borger unbeschreiblich laut. Besonders die Umsetzung des wilden Gartens zeugt von viel Liebe zum Detail und verdeutlicht wieder einmal, wie sehr das Studio Wert auf die Natur legt.
Der Zauber von "Arrietty" erklärt sich auch mit dem feinen Sinn für Realität, der diese magische Welt dennoch durchzieht. Als Teil der Lebenswirklichkeit wird hier der mögliche Herztod von Sho weder verharmlost noch verkitscht. Die Realität ist hier kein für Kinder zurechtgestutzter Kuschelplatz, sondern ein Platz voll Schönheit und Leben, aber auch von Krankheit und Verlust von Heimat, in dem auch der Tod nicht ausgeblendet wird. Die Borger sind ihren Traditionen verhaftet und diese werden nicht einfach außer Kraft gesetzt - wie es in einem amerikanischen Animationsmärchen der Fall sein könnte nach dem Credo "Alles Alte muss weg." In einer Welt geprägt durch Massenkonsum und Wegwerfen wirkt hier die Reduktion auf das Borgen dessen, was man zum Überleben braucht, und der Erfindungsreichtum der Borger fast aktueller, als es zum Erscheinen von "Die Borger" 1952 der Fall war (Erfindungsreichtum war natürlich auch in der Zeit so kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in England sehr nötig).

Hiromasa (geb. 1973) ist der jüngste Regisseur bei Ghibli, der je einen abendfüllenden Animationsfilm übernehmen durfte. Leider sieht man ihm eine persönliche Handschrift noch nicht an (es sieht erwartungsgemäß eher aus, als hätte jemand mit großem Respekt soweit wie möglich Miyazaki zu imitieren versucht), doch ist nach diesem hübsch anzuschauenden Debüt anzunehmen, dass er zukünftig eigene Visionen entwickeln und filmisch umsetzen wird. Wir wünschen Hayao Miyazaki natürlich noch ein langes Leben und uns als Kinopublikum noch viele seiner an bezaubernden Schöpfungen reichen Filme, doch wäre es natürlich auch schön, wenn die nachwachsende Ghibli-Generation sich demnächst auch ihre vollen zehn Filmszene-Augen verdient und eine große Tradition noch lange fortgeführt wird.


10
10/10

Ich bin für die Kritik sehr dankbar (auch weil ohne Kritik der Film vollkommen unsichtbar wäre, da Universum partout nicht dafür werben will), nur der Einordnung des Films möchte ich widersprechen.

Dies ist kein Miyazaki-Film, erst recht kein Imitat. Es ist bereits ein Yonebayashi-Film, auch wenn die charakteristische Signatur erst klar werden wird, wenn man mehrere seiner Filme vergleichen kann. So sehr ich Miyazaki's Filme mag, nach "Chihiro" hat er merklich seine Balance verloren (in anderen Bereichen ist er immer noch brilliant und kann noch Neues schaffen, aber den Verlust der Balance kann das nicht ausgleichen), während diesmal wieder alles zusammenpasste - aber anders als bei Miyazaki.

Wie ich vor kurzem gelesen habe, lief es in den Kritiken nach Miyazaki's "Nausicaa" (Produzent: Isao Takahata) ähnlich - oft ging es um die berühmten Serien, bei denen Isao Takahata Regie geführt hatte, während Miyazaki sein Chefzeichner war - war er schon bereit für ein eigenes Projekt? Heute dagegen gilt Nausicaa als eins von Miyazaki's Meisterwerken.

Wenn es um "Schwäche der Charaktere" geht, dann fiele mir vor allem Homily ein, die doch allzusehr hysterisch und überbesorgt herüberkommt (eben das Gegenteil von Arrietty, und deshalb wohl beabsichtigt). Haru, die ihren guten Ruf als Haushälterin wiederherstellen will, indem sie ihrer Arbeitgeberin Sadako die wahren Schuldigen (die Borger) präsentiert, ist bei weitem nicht so schlimm (und in anderen Borger-Varianten ist der Gegenspieler ein Zigeuner, oder ein Grundstücksspekulant, oder ein in Ungnade gefallener Professor).

Wenn man "Arrietty" mit Filmen der verschiedenen US-Animationsstudios vergleicht, dann spielt es ganz oben mit, und hat es meiner Meinung nach verdient, in die Endrunde des Animations-Oscars kommen, wenn nicht gar ihn zu gewinnen, deswegen gebe ich 10 von 10 Augen. (Und Goro Miyazaki's "Erdsee"-Versuch kann immer noch mit den B-Filmen mithalten, die in Deutschland trotzdem groß in die Kinos gebracht werden. Sein zweiter Film kommt übrigens im Juli in die japanischen Kinos)

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5
5/10

Meiner Meinung nach einer der schwächsten Ghibli-Filme. Ich fürchte, dass sie nicht mehr an die guten alten Tage herankommen und solche Meisterwerke wie Kiki und Nausicaa produzieren werden. Seit das Wandelnde Schloss hat Ghibli nur noch höchst mittelmäßige Filme herausgebracht. Technisch ist Arrietty allerdings wie immer nicht zu beanstanden. Die Story ist angenehm einkehrend, teilweise aber zu langsam, fast schon erlahmt, um dann später wichtige Passagen geradezu zu überspringen. Das Ende gefällt mir nicht. Ich finde das Verhalten der Personen auch höchst unlogisch, scheint mir aber für japanische Verhältnisse in Ordnung zu sein. Also 5/10 Augen sind drin, aber nicht mehr.

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