Vor über 30 Jahren schenkten uns Richard Gere und Julia Roberts in “Pretty Woman“ eine zuckersüße Liebesgeschichte zwischen einer Prostituierten und einem reichen Geschäftsmann – das perfekte Hollywood-Märchen. Im Jahr 2024 trifft in “Anora“ eine moderne Sexarbeiterin auf ihren vermeintlichen Traumprinzen aus reichem Hause. Doch wer die Filme von Regisseur Sean Baker (“The Florida Project“) kennt, weiß, dass seine Sicht auf eine solche Beziehung weit weniger kitschig ausfallen dürfte. Statt der großen Liebe steht hier die verzweifelte Sehnsucht der weiblichen Hauptfigur nach einem besseren Leben im Vordergrund. Wie Baker die damit verbundene Tragik mit den typischen Feel-Good-Momenten einer romantischen Komödie kombiniert, ist besonders in der ersten Hälfte schlichtweg großartig. Das Ergebnis ist ein wilder, emotionaler Ritt, der – trotz einer Schwächephase im Mittelteil – einen am Ende positiv erschöpft zurücklässt und “Anora“ zu einem der interessantesten Filme des Kinojahres macht.
Wie in einem kitschigen Märchen fühlt sich die junge Stripperin Ani (Mikey Madison, “Scream“), als sie eines Tages den Oligarchensohn Ivan "Vanya" Zakharov (Mark Eydelshteyn) trifft. Dass Vanya zum Ärger seiner Eltern in Russland nicht arbeitet, sondern in der großen Familienvilla in den USA Videospiele zockt und wilde Partys feiert? Geschenkt – schließlich zeigt Vanya sich für Anis Dienste stets äußerst spendabel. Als er jedoch beginnt, Gefühle für Ani zu entwickeln, wittert diese ihre große Chance auf ein sorgenfreies Leben. Und diese will sie sich von niemandem nehmen lassen, auch nicht von Vanyas Patenonkel Toros (Karren Karagulian). Der hat die Aufsicht über den verwöhnten jungen Mann und sieht sich bald gezwungen einzugreifen – doch Ani zeigt unerwarteten Kampfgeist.
Dass wir es hier nicht mit einer märchenhaften Traumprinz-Romanze zu tun haben, wird schnell klar, wenn wir unsere beiden zentralen Protagonisten kennenlernen. Anis Arbeit als Sexarbeiterin wird nämlich in keiner Weise romantisiert; die erst 23-Jährige wird als abgebrühter und kühler Profi dargestellt, der ungeschönt flucht und lästert und nicht darauf angelegt ist, “weichgespült“ schnell Sympathien zu gewinnen. Das ist jedoch noch harmlos im Vergleich zu ihrem männlichen Gegenpart. Unser verzogener Oligarchensohn Vanya scheint außer der Fähigkeit, Partys zu feiern, Drogen zu nehmen und Computerspiele zu zocken, über keinerlei Qualitäten zu verfügen und wirkt nicht nur oberflächlich, sondern fast abstoßend.
Und diese beiden Menschen wollen wir nun bei ihrem Kennenlernprozess begleiten und uns davon unterhalten fühlen? Das kann doch nicht funktionieren. Tut es aber, denn Sean Baker, der hier Regie und Drehbuch beisteuert, gelingt so etwas wie die Quadratur des Kreises. Die ersten 45 Minuten von “Anora“ entpuppen sich trotz erschwerter charakterlicher Bedingungen als mitreißende cineastische Tour de Force. Entscheidend hierfür ist, dass Vanya weniger als romantischer Gegenpart (dafür ist er denkbar ungeeignet), sondern mehr als Symbol für Anis einmalige Chance auf ein besseres Leben dient. Einen Traum, den jeder trotz der Oberflächlichkeit ihrer Figur ziemlich gut nachvollziehen und vor allem nachfühlen kann. Das liegt wiederum mit an einer wirklich beeindruckend spielenden Mikey Madison, die erst das hoffnungsvolle Leuchten in den Augen und später die Angst vor dem Verlust ihrer großen Chance einfach phantastisch auf die Leinwand bringt. Ihre Figur wirkt unglaublich tough und fragil zugleich, und das ist so eine packende Mischung, dass man von ihr schnell fasziniert ist.
Diese Doppeldeutigkeit spiegelt sich auch in der Regie wider, die realistische Stilmittel mit aufbrausendem Kitsch verbindet. Kurze ruhige Charaktermomente weichen wilder Romantik, untermalt von energiegeladenen und visuell spannenden Bildern und einem treibenden Popsoundtrack, der perfektes Feel-Good-Kino suggeriert – bis einem wieder bewusst wird, dass dies kein Märchen ist und es wohl kaum gut ausgehen kann. Im zweiten Teil des Films wird das "Glück" des ungleichen Paars dann auch auf eine harte Probe gestellt – allerdings fast nur für Ani, die schließlich ein ganz neues Leben zu verlieren hat. Dieser Abschnitt ist im Vergleich zum herausragenden ersten Teil weniger fesselnd geraten. Anis verzweifelter Versuch, ihren Traum am Leben zu halten, ist zwar überzeugend dargestellt, doch driftet die Handlung teilweise zu stark ins Komödiantische ab. Auch wenn das Duell zwischen Ani und Vanyas Patenonkel Toros seine Momente hat, wirken die auf uns hier stakkatoartig einprasselnden Beschimpfungen manchmal etwas repetitiv, was das Tempo des Films deutlich ausbremst. Bei einer Laufzeit von über zwei Stunden hätte eine Kürzung um zwanzig Minuten der Erzählung hier gutgetan – ohne die Kernaussage zu schmälern.
Dieser Abschnitt nutzt jedoch die Gelegenheit, eine weitere Figur einzuführen, in der sich spannende Parallelen zu Ani andeuten. Baker, der sich auch in seinen bisherigen Filmen gerne auf die Seite von Außenseitern und Randgruppen schlug, legt hier geschickt das Fundament für ein intensives Finale. Dieser letzte Akt ist ein ruhiger aber effektiver Schlag in die Magengrube, bei dem sich viele unterdrückte Gefühle von Ani entladen und klar wird, wie großartig und überzeugend diese Figur über die ganze Laufzeit geschrieben und gespielt ist. Wenn der finale letzte Charakterpunch so gut sitzt und soviel Wucht entfaltet, dann muss man schon verdammt viel richtig gemacht haben. Und da viel zu wenig Filmen so etwas gelingt, treten die Schwächen des Mittelteils dann doch schnell in den Hintergrund.
Das sah auch die Jury von Cannes so und verlieh dem Film dieses Jahr die begehrte Goldene Palme. Für die Höchstwertung reicht es hier zwar nicht, eine dickes Lob für ein wirklich intensives Filmerlebnis möchten wir aber auf jeden Fall aussprechen. Wer also mal wieder wirklich etwas fühlen möchte ist hier sehr gut aufgehoben – nur ein Märchen, das kriegt man mit “Anora“ eben nicht.
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