In Orlando, Florida existiert nur wenige Meter neben dem Vergnügungspark von Disney World ein ganz eigener Kosmos, der nichts mit der glamourösen Kunstwelt in der Nachbarschaft zu tun hat. Dort haben sich in den von Touristen nur selten genutzten Motels entlang der Landstraße einige Dauerbewohner eingerichtet, die oft Mühe haben ihre täglich neu zu entrichtende Miete aufzubringen. Unter ihnen auch die junge Mutter Halley (Bria Vinaite), die sich mit nicht immer ganz legalen Gelegenheitsjobs über Wasser hält. Trotz dieser Umstände genießt ihre kleine Tochter Moonee (Brooklynn Prince) das Leben in der immer sonnigen Anlage und verwandelt diese gemeinsam mit ihren Freunden in einen großen Abenteuerspielplatz. Unter den Streichen der Kinder hat vor allem der Motelmanager Bobby (Willem Dafoe) immer wieder zu leiden, doch der nimmt das meistens locker und versucht einfach nur seinen Laden am Laufen zu halten.
Klingt nicht sonderlich spektakulär, oder? Doch genau dieser Realismus-Ansatz ist es, mit dem der US-amerikanische Regisseur Sean Baker sich in der Szene einen Namen gemacht hat. Baker hat sein Auge und seine Kamera bereits auf die Pornobranche oder das Leben Transsexueller in Los Angeles gerichtet und dabei mit „Tangerine“ den ersten, komplett mit einem iPhone gedrehten Kinofilm abgeliefert. Für sein „Florida Project“ wechselt er nun aber auf die eher altmodische 35 mm-Technik und auch damit gelingen ihm fantastische Einblicke, die man eben vor allem mit einem Wort beschreiben kann: Realismus.
Das ist es worum der Filmemacher Baker sich in erster Linie bemüht und diesen erreicht er mit einer bemerkenswerten Präzision in der Inszenierung. Kleine Kinder, die naseweise Sätze formulieren, die ihnen nur ein Hollywood-Drehbuchschreiber vorgegeben haben kann? Nicht bei Baker, wo auch die jüngsten Darsteller jederzeit natürlich wirken, wo Sechsjährige sich auch tatsächlich wie Sechsjährige benehmen, was nicht ausschließt gelegentlich auch einfach mal das wiederzukäuen was sie von den Erwachsenen gerade aufgeschnappt haben. Wo die Kinder eher nicht über ihre triste Lage und Umgebung nachdenken, sondern einfach das Aufregendste und Spannendste daraus machen. Wo dann auch aus einer Motel-Anlage samt angeschlossenen Geschäften ein riesiger Abenteuerspielplatz werden kann, auf dem man andere Leute ärgert oder mit ein paar Schwindeleien ein Eis schnorrt. Wo Spielkameraden auch mal ziemlich rücksichtslos ausgetauscht werden, wenn sich etwas interessanteres Neues ergibt.
So gibt es dann auch gleich mehrere Entdeckungen zu feiern in diesem Film, von denen naturgemäß Brooklynn Prince als junge Hauptdarstellerin am meisten Aufmerksamkeit abgreift. Aber auch alle weiteren Kinderdarsteller machen ihre Sache sehr gut, gerade weil man bei ihnen eben nicht das Gefühl hat, sie würden hier überhaupt etwas bewusst „machen“. Das zu erreichen ist eine hohe Kunst und muss dann wohl wirklich etwas mit der Herangehensweise des Verantwortlichen im Regiestuhl zu tun haben.
Aber auch Mooneys Mutter Halley ist eine faszinierende Figur, die zwar auf den ersten Blick durchaus einige Punkte auf der Checkliste der allgemein als „White Trash“ bezeichneten Bevölkerungsschicht erfüllt: Diverse Tattoos und bunte Haare, eine frühe Schwangerschaft und reichlich Männerbesuche auf dem Zimmer, dazu ein aufbrausendes Temperament, bei dem der Stinkefinger schnell mal oben ist. Doch trotzdem ist diese Halley deshalb keine „schlechte“ Mutter, sondern versucht ihrer kleinen Tochter wirklich ein möglichst unbeschwertes, fröhliches Leben zu ermöglichen – mit allen Einschränkungen, die vor allem ihre finanzielle Situation immer wieder mit sich bringt. Darstellerin Bria Vanaite stammt zwar nicht aus einem vergleichbaren sozialen Umfeld, hatte zuvor aber ebenfalls keinerlei Schauspielerfahrung und erregte das Interesse der Filmemacher mit ihrem Instagram-Profil. Nun ja, es war wohl was dran, denn auch Miss Vanaite bietet hier eine herausragende, oft auch berührende Leistung.
Dass der einzig bekannte Name innerhalb der Besetzung die medial größte Aufmerksamkeit bekam und sogar mit einer Oscar-Nominierung belohnt wurde, hat dem Film zwar sicherlich geholfen, wirkt aber fast ein wenig ungerecht, da Willem Dafoes gutherziger Bobby im Grunde zu zurückhaltend angelegt ist um ähnlich stark im Gedächtnis zu bleiben wie seine beiden Neu-Kolleginnen – nichtsdestotrotz ist aber auch sein geplagter Motelmanager eine sehr schöne Rolle.
Eine richtig stringente Geschichte mit einer typischen Charakterentwicklung gibt es hier allerdings nicht zu sehen, es bleibt bei dem Gefühl einfach für eine bestimmte Zeit dieser durch die Umstände zusammengekommenen Gruppe dabei zuzuschauen wie sie ihren Alltag bewältigt, ab und zu mit schönen Momenten belohnt wird, aber eben auch immer wieder persönliche Rückschläge erleidet. Der Kontrast, den die nur durch die bunt angemalten Häuserwände nicht ganz so triste Motelumgebung zu der künstlichen Märchenwelt auf der anderen Seite des Highways bildet, ist natürlich augenfällig und auch beabsichtigt, eine Anklage oder Abrechnung mit der Konsumwelt des Disney-Konzerns stellt „The Florida Project“ aber dennoch nicht dar. Regisseur Baker stellt hier einfach zwei im Grunde unvereinbare Lebenswelten gegenüber und vereint diese mit einem nahezu perfekten Schlussbild dann schließlich doch noch - was die Wirkung seines Films nur weiter verstärkt.
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