Das Dilemma mit den sozialen Medien

Originaltitel
The Social Dilemma
Land
Jahr
2020
Laufzeit
94 min
Release Date
Streaming
Bewertung
8
8/10
von Frank-Michael Helmke / 14. September 2020

Wer das ungute Gefühl mit sich herum trägt, eventuell zu viel Zeit mit sozialen Medien zu verbringen, und ein gutes Argument sucht, damit aufzuhören, der braucht nur 94 Minuten investieren und sich diese Dokumentation ansehen. Wer danach keinen starken Drang verspürt, sämtliche Social-Media-Apps von seinem Smartphone zu löschen, dem ist definitiv nicht mehr zu helfen. 

Warum "The Social Dilemma" (um den etwas ungelenk geratenen deutschen Titel der Kürze halber zu ignorieren) so effektiv geworden ist, hängt maßgeblich damit zusammen, wer hier zur Sprache kommt: Die von Regisseur Jeff Orlowski interviewten Gesprächspartner sind allesamt "mitschuldig" an all den vielschichtigen gesellschaftlichen Problemen, in die die sozialen Medien uns hineinmanövriert haben. Es handelt sich um ehemalige führende Mitarbeiter von Facebook, Instagram, Twitter, Pinterest, Google etc., die hier quasi zur Beichte antreten. Sie alle eint, dass sie erschrocken darüber sind, zu was für Monstern sich ihre eigene Schöpfung entwickelt hat. Und dass sie ebenso ratlos sind, wie man diesem Monster noch einhalten gebieten soll. Aber: Was genau ist eigentlich das Problem?

Jeff Orlowski montiert gleich zu Beginn seines Films die Reaktionen seiner Interviewpartner auf diese schlichte Frage zusammen, und die allseits sprachlose Reaktion darauf macht deutlich, welche Aufgabe "The Social Dilemma" sich selbst stellt. Denn es ist eben nicht kurz und knackig in einem Satz auf den Punkt zu bringen, was das Problem mit den sozialen Medien ist. Dafür sind ihre Funktionen und Auswirkungen zu vielschichtig, zu weitgreifend, zu komplex. Orlowski versucht trotzdem, in 90 Minuten möglichst die ganze Bandbreite unterzubringen. Und er macht einen herausragenden Job. 

"Unterhaltsam" und "kurzweilig" sind Adjektive, die bei solch einer Dokumentation ziemlich deplatziert wirken, macht "The Social Dilemma" doch mehr als deutlich, dass sich die ganze Menschheit mit jedem Tippen auf irgendeinen Like-Button tiefer in einen Höllenschlund manövriert, aus dem es keinen erkennbaren Ausweg mehr gibt. Nichtsdestotrotz rasen die 94 Minuten dieses Films nur so vorbei, während Orlowski einen schwierigen Aspekt nach dem anderen auffächert und schließlich ein ebenso komplexes wie glasklares Bild entwirft, was genau alles das Problem ist. Die Tatsache, dass das Einheimsen eines "Likes" für einen eigenen Post im Gehirn einen Belohnungsreflex auslöst und die einhergehende Dopamin-Ausschüttung ziemlich schnell zu einem faktischen Sucht-Verhalten führt, ist dabei ja schon ein alter Hut. Und auch die Weisheit "Wenn das Produkt nichts kostet, bist du selbst das Produkt" ist ein derart abgegriffener Allgemeinplatz, dass er für Orlowski nur ein Sprungbrett ist, um weitaus tiefergehend zu erläutern, was das eigentliche Produkt von Facebook und Co. ist, und wer seine besten Kunden sind. Kleiner Spoiler: An sehr prägnanter Stelle des Films fällt in Zusammenhang mit der Manipulation der letzten amerikanischen Präsidentenwahl der Schlüsselsatz: "Russland hat Facebook nicht gehackt. Russland hat Facebook genutzt." 

"The Social Dilemma" führt mit bedrückender Präzision vor, warum die Algorithmen von Facebook und Konsorten maßgeschneidert dafür sind, um Desinformation zu verbreiten, Meinungsbilder zu radikalisieren und gesellschaftliche Gräben zu zementieren. Er führt allerdings nicht nur die ganz großen Konsequenzen vor Augen, sondern auch die zahllosen kleinen, privaten Tragödien, die durch den Einfluss sozialer Medien befeuert werden und die vor allem die jüngsten Nutzer betreffen - die erste Generation, die schon in frühester Pubertät Social Media nutzt und dadurch beeinflusst wird. So ist zum Beispiel in den letzten zehn Jahren (also seit der massiven Verbreitung von Smartphones) die Rate von Depressionen, Selbstverletzungen und Suiziden unter amerikanischen Teenagern und jungen Erwachsenen massiv in die Höhe geschnellt und hat sich vor allem in der jüngsten Altersgruppe teilweise vervielfacht. Und in der Psychologie gibt es seit kurzer Zeit das neue Krankheitsbild der "Snapchat Dysmorphia" - für Patienten, die zum plastischen Chirurgen gehen, um mehr so auszusehen wie die durch digitale Filter optimierten Fotos in ihren Social-Media-Feeds. 

Der einzige Aspekt von "The Social Dilemma", der nicht so richtig gelungen ist, ist Orlowskis Entscheidung, die Auswirkungen der sozialen Medien anhand fiktiver Spielszenen zu illustrieren. Eine typische Mittelschichtsfamilie mit drei Kindern zwischen 12 und 18 Jahren darf hier beispielhaft verdeutlichen, zu welchen Verheerungen der schleichende Einfluss von Social Media führen kann. Das wirkt oft etwas gewollt und stellenweise auch übertrieben in der Inszenierung. Andererseits schaffen es diese Spielszenen aber auch, die Mechanik in den programmierten Algorithmen all dieser Apps sehr plastisch zu verdeutlichen: In Szenen, die ein bisschen an Pixars "Alles steht Kopf" erinnern, schauen wir quasi in die interne Schaltzentrale der Facebook-App, wo die in drei Persönlichkeiten aufgespaltene künstliche Intelligenz ihrem Handwerk nachgeht - nämlich alles daran zu setzen, ihren Nutzer zurück in die App zu locken und dort dann seine Aufmerksamkeit möglichst lange zu binden, um diese Aufmerksamkeit dann in automatisierten Blitz-Auktionen an Werbekunden zu verkaufen. So anschaulich zu sehen, mit welcher kühlen, maschinellen und von jedem menschlichen Moralempfinden abgekoppelten Logik diese Prozesse ablaufen, kann einem schon mehr als einen Schauder den Rücken runterjagen. 

"The Social Dilemma" ist nicht gerade ein Film, der Mut macht, gerade weil hier die ganze Zeit Menschen zu Wort kommen, die bei der Erschaffung dieser Monster an zentraler Stelle mit dabei waren. Wenn diese Leute erzählen, dass sie tagsüber im vollen Bewusstsein über ihr Handeln an süchtigmachenden Algorithmen geschraubt haben, und dann abends zuhause trotzdem nicht in der Lage waren, selbst ihr Smartphone aus der Hand zu legen; oder dass sie ihren eigenen Kindern niemals erlauben würden, soziale Medien zu nutzen; oder dass sie ganz reale Angst vor einem baldigen Bürgerkrieg haben -  dann ist es schwierig, hier noch Optimismus und Hoffnung auszumachen. Weil der Film eben auch deutlich macht, dass es keine klar zu benennenden, menschlichen Bösewichte gibt, die dahinter stecken. Niemand der Interviewten hier würde Mark Zuckerberg persönlich die Schuld dafür geben, was sein Unternehmen verursacht hat. Die Kombination aus einem Geschäftsmodell und einer künstlichen Intelligenz, die darauf programmiert wurde, dieses Geschäftsmodell umzusetzen und zu optimieren, hat sich schon längst verselbständigt. 

"The Social Dilemma" ist sich bewusst, dass die einzige Waffe in diesem eigentlich nicht mehr zu gewinnenden Krieg gegen dieses Monstrum darin besteht, Aufmerksamkeit und Wissen darum zu verbreiten, was eigentlich wirklich mit uns passiert, wenn wir diese Apps öffnen. Man muss sie deswegen vielleicht nicht zwingend löschen. Aber nachdem man "The Social Dilemma" gesehen hat, wird man ganz sicher ein neues Bewusstsein dafür haben, was man da eigentlich auf seinem Handy tut. Beziehungsweise genauer gesagt: Was da eigentlich mit dir getan wird.            

Bilder: Copyright

8
8/10

Eines der Probleme ist doch, dass ausnahmslos alle erfolgreichen Social Media Platformen kommerzielle Interessen verfolgen.
Das kann man ihnen ja auch nicht vorwerfen, in einer freien Marktwirtschaft. Aber diese Platformen sind nunmal "von Natur aus" so aufgebaut, dass sie Ihren Nutzern nur genau das zeigen, was sie sehen wollen. Konträre Beiträge die nicht zur persönlichen Filterblase passen werden nicht angezeigt, weil sie ja nicht zum verweilen anregen.
Zudem sind die Platformen durchsetzt von Werbung und sonstigen Manipulationen, verschiedenster Interessensgruppen.

Warum aber schafft es niemand, eine öffentlich-rechtliche Platform, ohne kommerzielle Interessen aufzubauen?
Eine solche Platform sollte sich der Werbefreiheit verpflichten und über diverse Kontrollinstanzen / Gremien sicherstellen, dass kein Algorithmus bestimmte Inhalte bevorzugt oder dafür sorgt, dass Menschen in ihren Filterblasen untergehen. Das ganze sollte auch grundsätzlich open source sein, was zusätzlich gegen Manipulation schützt. Dafür würde ich sogar gerne die GEZ bezahlen.

Klar, das ganze müsste auch angenommen werden und attraktiv sein, sicherlich kein einfaches Unterfangen. Aber einen tatsächlich ernsthaften Versuch habe ich auch noch nie gesehen.

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Definitiv ein Interessanter Film der vieles "was wir ja eigentlich schon längst wussten" mal in klare Bilder packt und mit einigen unerwarteten aber recht intelligenten Kommentaren versieht.
Der Film versucht auch ein wenig, den Aufruhr, in dem sich unsere Gesellschaften befinden zumindest teilweise auf die "Informationsblasen-Mechanismen", die die einzelnen Menschen zugleich isolieren und durch KI-Algoritmen, die Screentime und Aufmerksamkeit maximieren sollen und gleichzeitig dem Bewußtseinszustand entsprechende bezahlte Botschaften präsentieren zurück.
Sicherlich sehr interessante und aufschlußreiche Gedanken - allerindgs ist die Beweißführung dabei etwas lückenhaft, und so scheint der Film ein wenig in seine eigene Falle zu tappen, indem man sich - ähnlich wie bei den (unbeanbsichtigterweise ?) radikalisierenden Botschaften auch hier die Beweiskette nicht ganz lückenlos ist, sondern eben eher eine "Geschichte", wegen der man auch wieder auf die Straße gehen kann.

Ich persönlich bin mit des Dilemmas aber schon von Stunde 1 bewußt gewesen, dass es hier um einen automatisierten Kampf um unser Bewußtsein und unsere Aufmerksamkeit geht und letztlich jeder Zugang zu Sozialkontakten mit einem Zollhäuschen versehen ist, wo etwas abgezweigt und zu Geld gemacht wird, wie ein Vampir, der einem beim ganz ganz langsamen Blutsaugen noch eine Heroindosis verpasst und einen so nach den Bissen süchtig macht.

Natürlich ist der Film auch eine Plattform für Autoren, die mit Büchern und Publikationen über das Thema sehr viel Geld verdienen wie Shoshana Zuboff und Tristan Harris.
Das ist ein wenig ein weiteres Problem unserer Zeit, dass Intellektualität so oft mit Publizistik und Aufmerksamkeitsökonomie zusammen hängt.
Die Vernunft ist gerade von überall her unter Attacke.

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3
3/10

Erkenntnisgewinn fast Null. Banalitäten, die jeder weiß. Ein als Doku getarnter, reißerischer Film, der den Zuschauer genauso in eine ganz bestimmte Richtung manipulieren möchte wie die verteufelten Plattformen. Die einzig interessante, wenn auch nicht neue Information: social media erschwert den Diskurs, spaltet die Gesellschaft und kann auf junge, naive oder dumme Menschen einen enormen Einfluss ausüben - was früher Medien wie Zeitungen, Bücher, Agitatoren, Priester, Steintafeln oder Höhlenmalereien genauso vermochten - nur nicht in diesem gigantischen Ausmaß. Ich hatte mir mehr erwartet.

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