Parasite

Originaltitel
Gisaengchung
Land
Jahr
2019
Laufzeit
132 min
Regie
Release Date
Bewertung
10
10/10
von Frank-Michael Helmke / 23. Juni 2020

Es war im vergangenen Jahr wohl das eindeutigste Symptom dafür, dass wir hier bei Filmszene es nicht mehr schaffen, mit allen maßgeblichen Ereignissen des aktuellen Kinogeschehens mitzuhalten (was ja der Grund für unseren Relaunch war): Da passiert etwas absolut Historisches und eine fremdsprachige Produktion gewinnt zum ersten Mal den Oscar als bester Film - und wir haben dieses Werk nicht einmal besprochen. Dabei war der Oscar für den besten Film (und die für Regie, Drehbuch und natürlich den besten internationalen Film) nur die Krönung eines Triumphzugs, der im Mai 2019 mit dem Gewinn der Goldenen Palme in Cannes begonnen hatte. Jetzt, da Bong Joon Hos Meisterwerk "Parasite" für Abonnenten von Amazon Prime Video seit dem 17. Juni kostenlos zu sehen ist, wird es darum allerallerhöchste Zeit, dass wir eine Würdigung nachholen. 

Dabei gibt es auch gar nichts zu relativieren, denn "Parasite" hat jeden seiner Preise (und vielleicht noch ein paar mehr) absolut verdient, auch und vor allem den Oscar als bester Film, und dass trotz sehr starker Konkurrenz durch meisterhafte Filme wie "1917", "Once upon a time in Hollywood", "The Irishman" oder "Marriage Story". Was "Parasite" so herausragend macht, ist nicht nur seine handwerkliche Brillanz - wobei man die messerscharfe Präzision in Bong Joon Hos Regie schon kaum hoch genug loben kann. Seine Strahlkraft bezieht er vor allem aus seiner formalen Furchtlosigkeit, mit der er Genre-Grenzen pulverisiert, sein Publikum immer wieder zu überraschen weiß und mit beeindruckender Konsequenz seine Haltung durchzieht. 

"Parasite" beginnt dabei als eine bissige Gesellschaftssatire mit fast schon überzeichneter Komik: Im Zentrum steht die bettelarme südkoreanische Familie Kim (Vater, Mutter, Tochter, Sohn), die in einer erbärmlichen Kellerwohnung leben und sich irgendwie durchs Leben schlagen. Das WLAN wird von den Nachbarn in den oberen Stockwerken geklaut, und wenn die Stadtreinigung vorbeifährt und in der Straße Insektengift versprüht, dann werden die Fenster aufgelassen, um die lästigen Schädlinge in den eigenen vier Wänden zu bekämpfen. Bewegung kommt in dieses triste Dasein, als Sohnemann Ki Woo durch einen Kumpel den Job als Englisch-Nachhilfelehrer für die Teenager-Tochter der wohlhabenden Familie Park vermittelt bekommt. Damit er von den Parks für voll genommen wird, bedarf es bereits einiger Tricksereien. Doch so richtig schön absurd wird es erst, als die Kims sich gemeinsam ins Zeug legen und es nach und nach schaffen, sich alle einen Job im Haushalt der Parks zu erschleichen. 

Bis hierhin funktioniert "Parasite" als eine herrlich unterhaltsame schwarze Komödie mit beißendem Sozialkommentar. Denn die gewieften Manöver, mit denen die Kims sich das Vertrauen der Parks ermogeln und sich in deren Leben einzecken, sind nicht nur höchst amüsant anzusehen. Sie kehren zugleich eine ziemlich rücksichtslose Grundhaltung bei den Kims heraus, die wenig Skrupel zeigen wenn es darum geht, sich ein stabiles Einkommen zu erschummeln. Dabei sind die naiven Parks in ihrer Gutgläubigkeit auch leichte Opfer: Einerseits in der typischen Egozentrik der reichen Oberschicht völlig auf sich und die optimale Förderung ihrer Kinder fokussiert, andererseits so freundlich und höflich, dass es fast schon weh tut.

Mehr als einmal reflektieren die Kims darüber, was für nette Leute die Parks doch sind, so dass es ihnen fast leid tut, sie so auszunutzen. Aber auch nur fast. "Nett sein muss man sich leisten können", mit dieser zentralen Moral bringt "Parasite" die Gegensätzlichkeit seiner zwei Protagonisten-Familien messerscharf auf den Punkt. Die Parks und die Kims funktionieren als repräsentative Gegenpole für die gesellschaftliche Schere zwischen Arm und Reich, und die enorme Kraft dieser Metapher zeigt sich darin, dass sie zwar sehr spezifisch aus den Strukturen der südkoreanischen Gesellschaft heraus erzählt ist, aber allgemeingültig auch auf zahllose andere Länder projizierbar ist (inklusive unserem). 

Und dann kommt zur Halbzeit ein zentraler Twist, und "Parasite" verwandelt sich in einen anderen Film, der mit strikten Genre-Begriffen kaum noch einzufangen ist. Irgendwo zwischen Thriller, Farce und Tragödie entspinnt sich nun ein Szenario, das die von der ersten Hälfte gesetzten Themen und Motive mit erbarmungsloser Konsequenz weiterdreht und die unterliegenden Spannungen zwischen Arm und Reich zu einem Pulverfass zusammendrückt, das nur darauf wartet, zu explodieren.

Was sich hier ereignet und wie es dazu kommt soll natürlich nicht verraten werden - die entscheidende Wendung der Handlung ist zu gut und kommt zu überraschend, um auch nur ansatzweise gespoilert zu werden. Es ist jedenfalls ein so unerwarteter Haken, den die Handlung hier schlägt, um dann ohne einen Blick zurück in eine völlig neue Tonalität loszusprinten, dass es im ersten Moment schon etwas irritierend wirkt. Die wenigen Stimmen, die man so hört, die mit "Parasite" insgesamt nicht viel anfangen konnten, reiben sich vor allem an dieser zweiten Hälfte - und zeigen damit lediglich, dass sie den Film einfach nicht verstanden haben. Denn je mehr sich "Parasite" zu seinem unvermeidlichen Showdown hin zuspitzt, desto mehr wird offensichtlich, dass die vermeintlich so leichtfüßige, absurd-komische erste Hälfte nur die Ouvertüre war, der Vorbau für all das, worum es hier eigentlich geht, und was der Film uns wirklich erzählen möchte.

Erst, wenn "Parasite" sein Ende erreicht hat, beginnt der Film sich in der anschließenden Reflexion in den Köpfen seines Publikums noch einmal neu zusammenzusetzen. Erst jetzt wird deutlich, mit welch feiner Nadel er seine Motive von Anfang an bereits in seine Handlung und Inszenierung hineingestrickt hat, und was für eine genial-subtile Gesamtkomposition er eigentlich ist.

Man könnte noch sehr viel über diesen Film schreiben und zahlreiche weitere Aspekte mit hochverdientem Lob überschütten, vom enorm effektiven Soundtrack über die grandiose Kameraarbeit, die in ihren ästhetischen Einstellungen beizeiten wie ein Bildband mit Großstadt-Fotografie wirkt, bis hin zur absolut triumphalen Ausgestaltung des Hauses der Parks, dem zentralen Handlungsort von "Parasite" und fast so etwas wie sein heimlicher Hauptdarsteller. Oder man lässt die lange Rede sein und kommt auf den kurzen Sinn: "Parasite" ist einer der besten Filme des letzten Jahrzehnts, und wer ihn noch nicht gesehen hat, sollte das wirklich spätestens jetzt nachholen.            

Bilder: Copyright

6
6/10

Ich schätze euch sehr, aber wenn ihr Gedanken habt, wie in den letzten 2-3 Absätzen, dann führt diese auch aus und verfangt euch nicht in nichtssagendem pseudo-elitärem Geschwafel. Was will der Film wirklich erzählen oder wie ordnet er sich nach vorausgegangener Reflexion neu? Wenn ihr solche Thesen raus haut, dann führt sie auch konkret aus. Das sollte auch Spoiler-Frei funktionieren.

Den Film an sich empfinde ich als sehr überbewertet. Aber vielleicht habe ich ihn einfach nur nicht verstanden.

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6
6/10

Ja, Parasite ist ein interessanter Film, der definitiv keine Zeitverschwendung darstellt. Aber das soll der beste Film des Jahres gewesen sein? Dann doch eher weil die Konkurrenz eben gerade nicht stark war, 1917 zu wenig tief, Irishman zu langatmig und was Tarantino mit seinem Film genau wollte, weiss man auch ned.
Zugegeben, der Twist ändert die Stimmung extrem und dann wirds turbulent, aber mir zu wenig für nen Oscar. Aber das find ich jetzt schon seit Shape of Water 2017, von daher liegts wohl an mir...

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4
4/10

Für die wirklich gelungene 1. Hälfte des Films würde ich tatsächlich 8 Augen vergeben. Dass der Streifen in der 2. Halbzeit dann aber so dermaßen abkackt, ja geradezu grotesk und lächerlich wird, konnte ich dem ach so hochgelobten "Meisterwerk" dann nicht mehr verzeihen. Was haben sich die Macher dabei nur gedacht? Ganz ganz schlimm !

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7
7/10

Ich empfinde "Parasite" auch als überbewertet, obwohl ich solche Filme eigentlich mag. Lange sehr witzig, steigert sich sogar in Slapstick, dann ziemlich plötzlich ziemlich krass – und meiner Meinung nach am stärksten im Moment der Rückkehr zum überfluteten Haus der Familie. Das Ende empfand ich dann aber als grobes Logikloch, das mich sehr gestört hat, weil es die emotionale Ebene überschattet.
Generell schienen mir die Wechsel ein bisschen zu gewollt und der Film hat es sich da auch ein bisschen einfach gemacht (indem er sich nach dem Bruch quasi Narrenfreiheit erlaubt hat). Klar, das asiatische Kino geht anders an die Dinge heran als Hollywood, aber das heißt ja nicht, dass klassische Erzählstrukturen nicht auch ihren Sinn haben können.
Es kommt mir ein bisschen so vor, als hätten die Oscars "Parasite" für Ideen und Eigenarten jenseits typischer Hollywood-Formate gefeiert, die feinsinnige Filmemacher aus Asien schon oft und gut eingesetzt haben. Nur dass die bisher als Arthaus-DVDs im Regal verstauben mussten und halt nicht zufällig gepusht wurden.
Klingt negativ, deshalb nochmal: Ich fand "Parasite" gut, aber eben einfach nicht genial. Muss aber auch sagen, dass ich anscheinend nicht ganz auf einer Linie mit Bong Joon-ho laufe, da ich ähnliche Probleme mit "Okja" und "Snowpiercer" hatte.

Übrigens hab ich "Parasite" im Kino neben einer Rentnertruppe gesehen. Die, die nicht eingeschlafen sind, waren dann vielleicht etwas verstört. Trotzdem ließen sie es sich nicht nehmen, Kommentare wie "da schneit es also auch" oder "die haben aber viele O's in den Namen" lautstark abzulassen – damit hätte ich meinen Beweis, dass sich nicht nur "die jungen Leute" respektlos im Kino verhalten.

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8
8/10

Wenn ich den Film als Kunstwerk betrachte empfinde ich ihn auch als 10 von 10. Einfach weil er seine Aussage toll in Bilder und Geschichte fasst. Am Ende hatte ich auch einiges zum Nachdenken und interpretieren.
Wenn ich ihn als reinen Unterhaltungsfilm sehe, dann komme ich auf etwas weniger. Persönlich habe ich so meine Probleme mit Genre-Hybriden. Auch wenn die Übergänge zwischen den Einzelteilen nahtlos und fließend sind, so ist der Film am Ende eben weder Komödie noch Thriller. Mir fehlt da die Eindeutigkeit.

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Antwort auf von Rizzo
10
10/10

Lieber Rizzo,

ich kann verstehen, dass du die Andeutungen in den letzten Absätzen unbefriedigend findest. Aber ich sehe keine Möglichkeit, die dort gemachten Aussagen so zu konkretisieren, wie du das wünschst, ohne dabei zu spoilern. Deswegen jetzt eine ganz fette SPOILER-WARNUNG, da ich auf zentrale Wendungen des Films und das Ende eingehen muss. 

Der eigentliche Belang von "Parasite", also was er in meinen Augen wirklich erzählen will, ist eben keine unterhaltsame schwarze Komödie über eine bauernschlaue Unterklasse-Familie, die es sich auf Kosten einer Oberklasse-Familie gut gehen lässt. Viel mehr illustriert der Film die ebenso unsichtbaren wie unüberwindlichen Grenzen zwischen diesen beiden sozialen Klassen, und wie diese Grenzen letztlich dazu führen, dass die Mitglieder der Unterklasse sich nur noch gegenseitig zerfleischen in ihrem Überlebenskampf um die wenigen Brosamen, die vom Tisch der Reichen runterfallen. "Nett sein muss man sich leisten können" zeigt sich hier schon von Anfang an dadurch, dass die Mitglieder der Unterschicht sich nie gegenseitig helfen, sondern nur um den eigenen Vorteil bedacht sind (siehe die Chefin des Pizza-Lieferdienstes, die eine Ausflucht sucht um den Kims nicht den vollen Preis für die gefalteten Kartons zahlen zu müssen). 

Die Familie Kim sieht sich zunächst selbst als erfolgreicher, titelgebender Parasit, weil es ihnen gelingt, sich ins Haus der Parks reinzuzecken. Allerdings gelingt ihnen das nur, indem sie die bereits vorhandenen Nutznießer (und Mitglieder ihrer sozialen Klasse) verdrängen (der Chauffeur, die Haushälterin). Zwischen den Kims und der Haushälterin (sowie ihrem Ehemann, dem verborgenen Parasiten im Keller) eskaliert in der zweiten Filmhälfte ihr Revierkampf so sehr, dass die Unterschichtler beginnen sich gegenseitig umzubringen. Im Überlebenskampf der Unterschicht gibt es hier keine Gewinner, weil es für ihre soziale Schicht in der Gesellschaft allgemein nichts zu gewinnen gibt. 

Dass Vater Kim am Ende Vater Park tötet, ist wiederum Resultat der fortwährenden, unterschwelligen Erniedrigung der Unterklasse durch die Oberklasse, versinnbildlicht durch den immer wieder so prägnant angesprochenen "Geruch der Armut", der den Kims so sehr anhaftet, dass sie ihn nicht loswerden können. Dass Kim das Messer gegen Park erhebt, ist gleichzeitig die ultimative Grenzüberschreitung - wiederum ein Motiv, das im Film immer wiederkehrt und mehrfach im Dialog erwähnt wird, wenn Herr Park klar stellt, dass ein guter Angestellter sich für ihn vor allem dadurch auszeichnet, dass er "die Grenze nicht überschreitet". Auch wenn nie klar gesagt wird, welche Grenze er eigentlich meint, so ist offensichtlich eben jene unausgesprochene Grenze zwischen den verschiedenen sozialen Klassen gemeint.

"Parasite" rückt diese Grenze in seiner Inszenierung immer wieder ins Bild, indem er zwischen den Mitgliedern von Unter- und Oberschicht visuelle Linien zieht (sehr schön knapp auf den Punkt gebracht zum Beispiel hier: https://www.facebook.com/cinematogr/videos/640643746698158/). Diese Grenze, die nicht überschritten werden darf, suggeriert auch, dass die Menschen oben in der Gesellschaft sich letztlich für mehr wert halten als die Menschen unten. Am Verräterischsten zeigt sich diese Wahrnehmung am Höhepunkt, nachdem der Mann der Haushälterin die Gartenparty stürmt und Tochter Kim ersticht. Der Fokus der Oberschichtler ist in diesem Augenblick nicht auf dem sterbenden Unterschichten-Mädchen, sondern einzig auf dem vor Schreck ohnmächtig gewordenen Sohn der Parks (dem eigentlich nichts wirklich Schlimmes passiert ist). 

Jeder Unterschichtler, der die Grenze eben doch überschreitet (und sei es nur, indem man die Hausherrin aus ihrem Mittagschläfchen aufweckt; siehe Link), wird dafür bestraft. Vater Kim muss seinen Grenzübertritt damit bezahlen, dass er selbst zum heimlichen Bewohner des Kellerbunkers wird, und damit zur niedersten Form eines Parasiten - einer, dessen Existenz nicht einmal mehr bemerkt werden darf, um überhaupt noch überleben zu können. 
Entsprechend ist es auch offensichtlich, dass die Vision von Sohn Kim, die er am Ende im Brief an seinen Vater aufmacht (studieren gehen, tollen Job kriegen, in Windeseile reich werden, das Haus kaufen und seinen Vater befreien) nur ein Wunschtraum ist und niemals wahr werden wird - denn das würde bedeuten, dass er die soziale Grenze tatsächlich durchbrechen kann. 

Das meiste, was in der zweiten Filmhälfte passiert, ist im Rahmen dieser Themen und Motive metaphorisch gemeint (was der Film über die Dialoge von Sohn Kim ziemlich konkret selbst ausspricht) und sollte entsprechend auch so gelesen werden. Dann erscheinen die Ereignisse auch längst nicht mehr so absurd bzw. grotesk, wie NIKE sie oben bezeichnet hat. 

Wie gesagt: Ich habe keine Ahnung, wie ich das alles hätte konkretisieren sollen, ohne zu spoilern. :-)

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Antwort auf von Frank-Michael Helmke
10
10/10

Generell danke für eure Kritiken hier in all den Jahren.

Parasite fand ich im Kino schon genial. Man findet auf YouTube auch einiges zum Film. Nachdem ich das gesehen hatte, finde ich den Film noch besser. Man hat dabei wirklich an alles gedacht. Selbst die Architektur des Hauses wurde komplett für den Film gemacht, damit zB. Kamerafahrten sich exakt ausgehen. Wer also mehr zum Film wissen will findet auf YouTube zahlreiche Hintergrundinformationen.

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