Man muss ein paar Minuten warten, bis es endlich soweit ist. Eigentlich hatte man schon früher damit gerechnet, schließlich steigt der Agententhriller “Atomic Blonde“ gleich zu Beginn bereits mit Peter Schillings Major Tom ein. Aber es dauert dann doch noch ein bisschen, bis schlussendlich Nenas Stimme ertönt. Ende der 1980er in Berlin – wie könnten amerikanischen Filmemacher bei diesem Setting auch auf "99 Luftballons" verzichten? Es ist wirklich nicht die kreativste Idee - und das spiegelt die Schwachstellern der Story dieses Films wider. So gut wie jedes Agentenklischee wird hier nämlich in die 115 Minuten Leinwandzeit gepackt. Prinzipiell kein Problem, wenn dabei Logik und Verstand nicht zu oft auf die Ersatzbank verbannt würden. Dass man aber trotz der halbgaren Story noch durchaus seinen Spaß mit “Atomic Blonde“ haben kann, liegt am gelungenen Look des Films und einer stellenweise tollen Inszenierung, die uns eine der packendsten Action-Sequenzen des Jahres beschert.
Schauplatz für das hiesige Katz-und-Maus-Spiel ist Berlin kurz vor der Wende. Ein Pulverfass, in das Eric Grey (Toby Jones) vom englischen MI6 nun seine beste Agentin schickt. Irgendwie passt es dabei ganz gut, dass die eiskalte und kampferprobte Lorraine Broughton (Charlize Theon) ausgerechnet im frostigen Winter nach Berlin fahren darf, um dort den Tod eines befreundeten Geheimagenten und das Verschwinden einer Liste mit Geheiminformationen aufzuklären. Ihr Kontaktmann vor Ort ist der nicht gerade für seine Vernunft bekannte David Percival (James McAvoy, “Split“), dessen draufgängerische Art für Undercover-Ermittlungen allerdings nicht wirklich hilfreich zu sein scheint. Bei ihrer Ankunft muss Lorraine dazu auch noch feststellen, dass andere Geheimdienste und Organisationen ebenfalls auf der Suche nach der Liste sind. Während die CIA in Person des Agenten Emmet Kurzfeld (John Goodman) ihr dabei wohlgesinnt scheint, kennen andere weniger Skrupel und versuchen die gute Lorraine möglichst schnell aus dem Weg zu räumen.
Es ist schon ein ziemlich tristes Berlin, welches uns die Macher von “Atomic Blonde“ hier präsentieren. Die trübe Winterstimmung draußen wird durch den spärlichen Einsatz von Farben nur noch verstärkt, während in Innenräumen auch mal oft kräftig in die Farbpalette gelangt wird um einen möglichst coolen Look zu erhalten. Funktioniert prima und so generiert der Film eine Grundstimmung, die sehr gut zu seinen eiskalt agierenden Figuren passt. Die Atmosphäre ist dann auch eine der Stärken des Films, wobei hier auch das Setdesign seinen Beitrag leistet. Die Szenen in Lorraines stylischem Apartment sind beispielsweise durch die Bank weg visuelle Leckerbissen. Die stilistisch überhöhte Inszenierung hängt dabei sicher auch mit der visuellen Kraft der Vorlage zusammen, beruht “Atomic Blonde“ doch auf der Comicromanreihe “The Coldest City“ von Antony Johnston.
Ja, das Ganze ist wirklich eine frostige Angelegenheit, und am Besten zeigt sich das an der Hauptfigur. Lorraine ist eine kaltblütige Killerin, die nur ganz selten kleine Anzeichen von Emotionen zeigen darf. Das macht es zugegebenermaßen etwas schwierig mit dieser Figur so richtig “warm“ zu werden. Viel erfährt man nicht über sie, und die wenigen persönlichen Momente, wie die vom Film angedeutete Liebesbeziehung zu dem am Anfang ermordeten Geheimagenten, bleiben dann doch zu oberflächlich.
Oscar-Gewinnerin Charlize Theron bekommt so leider kaum die Gelegenheit mit ihrer Figur eine emotionale Verbindung zum Zuschauer aufzubauen. Glücklicherweise wirft sie dafür physisch alles in die Waagschale und es ist schon beeindruckend, mit welcher Intensität und Leidenschaft sie ihre zahlreichen Kampfszenen angeht. Wer aber sehnsüchtig einen vielschichtigen Charakter erwartet hat, wird leider enttäuscht werden, auch wenn es Theron schafft, zumindest hin und wieder eine gewisse Komplexität ihrer Figur anzudeuten.
Trotzdem ist Lorraine noch die mit Abstand gelungenste Figur von "Atomic Blonde". Deutlich schlechter ist es nämlich um die Nebenfiguren bestellt. So sehr sich James McAvoy auch spürbar bemüht, sein hipper und durchgeknallter Percival ist einfach zu eindimensional angelegt um mehr als nur oberflächlich interessant zu wirken. Ähnlich verhält es sich mit Delphine (Sofia Boutella, “Die Mumie“), so etwas wie dem Bond-Girl des Films, als auch mit dem obligatorischen Gastauftritt eines deutschen Schauspielers. Til Schweigers Porträt eines mysteriösen Uhrmachers, den alle Agenten für spezielle Dienstleistungen aufsuchen, funktioniert leider überhaupt nicht, da die Rolle einfach nach einem anderen Typ Darsteller verlangt. Das Ergebnis ist eine unglaubwürdige Figur, womit wir dann auch zu einem der Hauptprobleme der Story kommen.
Die Art und Weise nämlich, wie Agenten in diesem Film auftreten, ist einfach eine ganze Ecke zu naiv und unglaubwürdig. Das Percival mit seinem Verhalten auch nur eine Sekunde auf dem “freien Markt“ überleben würde ist kaum vorstellbar, ähnlich verhält es sich mit der naiven Delphine. Aber auch viele andere agieren eher so wie es das Drehbuch gerade braucht, anstatt vielleicht einmal kurz den Kopf einzuschalten. Da geht beispielsweise ein Agent auf der Flucht mal eben zu dem einzigen Ort, an dem die Gefahr am größten ist auf andere Agenten zu treffen. Was folgt kann man sich denken, doch bei solch billig erkauften Wendungen schlägt man als Zuschauer dann doch die Hände über dem Kopf zusammen.
Natürlich gibt es viele Filme, die mit so etwas durchkommen. Aber für einen Agententhriller, der eben auch viel von seinen Wendungen lebt, ist solch ein Verhalten nicht gerade hilfreich. Da braucht es dann schon ein hohes Tempo und tolle Action um von solchen Logiklücken ablenken zu können. Das mit dem hohen Tempo ist aber so eine Sache, da die Zeit in Berlin eigentlich eine einzige große Rückblende ist. Lorraine erzählt die Geschehnisse nämlich rückwirkend in einem Verhör in London, bei dem der MI6-Mann Grey und der CIA-Agent Kurzfeld die blutigen Ereignisse aufarbeiten möchten. Als Stilmittel hat diese Art des Erzählens durchaus seine Reize, nur leider zieht das Drehbuch von Kurt Johnstad (“300“) daraus vor allem zu Beginn zu wenig Spannung. Erst gegen Ende gerät Lorraine hier so wirklich ins Kreuzfeuer der beiden Geheimdienstler, davor kosten die Zeitsprünge zurück in den Verhörraum eher wichtiges Momentum.
So ist “Atomic Blonde“ ein zwar gutaussehendes, aber storytechnisch doch sehr wackliges Kartenhaus, dass eigentlich unter der Last seiner hanebüchenen Geschichte und eindimensionalen Figuren zusammenbrechen sollte. Tut es aber nicht und das liegt an Regisseur David Leitch. Der ehemalige Stuntman war bereits für die grandios inszenierten Action-Sequenzen in “John Wick“ verantwortlich und genau diese Stärke kommt “Atomic Blonde“ hier nun zugute. Ähnlich wie bei “John Wick“ ist Kämpfen hier eine ziemlich anstrengende Angelegenheit, bei der Figuren eben durchaus auch mal außer Atem kommen und sich oft schwer gezeichnet gerade noch so zum nächsten Fight schleppen können. Während andere Regisseure mit wilden Schnitten den Kämpfen künstlich Hektik und Energie verleihen wollen, vertraut Leitch seinen Kampfchoreographien und lässt die Kamera “einfach“ durchlaufen.
Das Ergebnis sind ein paar gute und eine alles überragende Kampfsequenz. Es ist nicht zu übertrieben zu sagen, dass der Fight im Treppenhaus gegen Ende des Films eigentlich schon alleine den Eintrittspreis für Kinoticket rechtfertigt. Wie sich Theron und ihre Gegner hier auf engstem Raum bekriegen ist einfach großes Kino. Draufhauen, verschnaufen, weitermachen, wieder Wunden lecken, neu angreifen – viel intensiver wird es im Action-Bereich dieses Jahr sicher nicht mehr oft zugehen.
So holt sich “Atomic Blonde“ in nur wenigen Minuten soviel Lorbeeren ab, dass man trotz des uninspirierten Drehbuchs doch noch relativ milde gestimmt das Kino verlässt - auch wenn uns die Macher am Schluss wieder mit einem an den Haaren herbeigezogenen Twist beglücken. Der mündet aber auch direkt in der nächsten netten Action-Sequenz, was dann auch die wahren Stärken der Filmemacher noch einmal offenbart. Hätte man doch, insbesondere in der ersten Hälfte, nur einen noch stärkeren Fokus auf die Action gelegt und weniger auf die dilettantischen Versuche eine clevere Spionage-Geschichte zu etablieren - “Atomic Blonde“ hätte ein kleines Genre-Juwel werden können. So ist es aber am Ende ein Agenten-Abenteuer, das seine wahren Stärken leider etwas zu spät erkennt, um für mehr als eine herausragende Sequenz im Gedächtnis zu bleiben.
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