Mit „Momentum“ bezeichnet man im Englischen den Schwung des Augenblicks. Eine Fußballmannschaft, die in der 80. Minute das Anschlusstor schießt, kann Momentum bekommen und ein Spiel in den letzten zehn Minuten noch komplett drehen. Und es war Momentum, dank dem „Moonlight“ den diesjährigen Oscar als bester Film gewann (bei einer mehr als denkwürdigen Verleihung).
„Moonlight“ platzte Ende letzten Jahres in die amerikanische Kinolandschaft als Meisterwerk aus dem Nichts. Regisseur und Autor Barry Jenkins ist quasi ein unbeschriebenes Blatt und machte hier einen Indie-Film fernab von Hollywood, dessen Produktion nicht einmal zwei Millionen Dollar kostete. Für gewöhnlich wäre solch ein bemerkenswerter kleiner Film natürlich mit einer Nominierung geehrt worden, aber hätte keine realistische Chance gegen die Prestige-Produktionen der großen Hollywood-Studios gehabt. „Moonlight“ profitierte jedoch auch von einer gewissen Favoritenmüdigkeit. Nach seinem Rekord mit sieben gewonnenen Golden Globes schien „La La Land“ so dermaßen sicher als Favorit für die Oscars, dass viele Academy-Mitglieder sich vermutlich dachten „Der gewinnt ja eh, dann stimme ich doch mal für einen sympathischen Außenseiter“. Doch auch davon gab es mehr als einen.
Dieses Jahr war die Situation allerdings sehr besonders. Nicht nur waren afroamerikanische Themen so stark wie selten zuvor im US-Qualitätskino vertreten, so dass sich mit „Moonlight“, „Fences“ und „Hidden Figures“ gleich drei davon unter den Nominierten wiederfanden. Sondern auch hier spielt der neue amerikanische Präsident eine Rolle, und das Bedürfnis der Kunstschaffenden in Hollywood, ein Zeichen gegen seine Politik der Ausgrenzung zu setzen. Und wie kann das besser gehen, als einem wunderschönen Film über das sexuelle Erwachen eines schwulen, sozial benachteiligten Afroamerikaners den größten Filmpreis des Jahres zu verleihen?
Das alles soll nicht heißen, dass „Moonlight“ diesen Preis nicht verdient hätte. Denn das hat er. Es soll nur heißen, dass in jedem anderen Jahr als 2017 dieser Film niemals diesen Preis gewonnen hätte. Das ist Momentum. Umso schöner, dass damit viel mehr Aufmerksamkeit an einen Film geht, der diese ohne jede Frage auch bekommen sollte.
"Moonlight" erzählt in drei Kapiteln aus dem Leben von Chiron. Zuerst treffen wir ihn als knapp 10-jährigen Jungen unter seinem Spitznamen "Little" und als Opfer der Rowdies in seiner Schule, die den schmächtigen und wehrlosen Knaben gern drangsalieren, auch weil niemand da ist, der ihn verteidigt. Little muss auf sich selbst aufpassen, denn seine alleinerziehende Mutter Paula (Naomie Harris, zurecht Oscar-nominiert als beste Nebendarstellerin), die mit ihm in einem Sozialbau wohnt, ist Crack-abhängig und hat entsprechend andere Prioritäten als sich vernünftig um ihren Sohn zu kümmern. Durch Zufall macht Little die Bekanntschaft des Drogendealers Juan (Mahershala Ali, zurecht mit dem Oscar als bester Nebendarsteller ausgezeichnet) und findet bei ihm und seiner Freundin Theresa (Janelle Monáe) so etwas wie ein zweites Zuhause und elterliche Fürsorge, wie seine Mutter sie ihm nicht geben kann. Little ist noch zu klein um wirklich zu verstehen, warum die anderen Kinder ihn drangsalieren, was mit ihm los ist und was die Wörter bedeuten, mit denen er beschimpft wird. Es ist eine der ergreifendsten Szenen dieses an ergreifenden Szenen wirklich nicht armen Films, als Little bei Juan und Theresa am Esstisch sitzt und ganz leise fragt: "Was ist eine Schwuchtel?".
Als gut 15-jähriger Teenager ist Chiron deutlich größer, immer noch sehr schmal und fast noch stiller, als er es als Junge sowieso schon war. Für seine Ausgrenzung in der Schule sorgt er jetzt fast schon selbst, ein typischer Außenseiter-Teenager, der seine Jugend nur irgendwie zu überleben versucht. Und der doch, ganz unverhofft und unerwartet, zu seiner ersten sexuellen Erfahrung kommt. Ein Erlebnis, das Barry Jenkins in derart zarten, poetischen und wunderschönen Bildern einfängt, dass sie der Bedeutung dieses Augenblicks für Chirons Leben mehr als gerecht werden. Auch wenn das Glück, dass sich hier für einen Moment andeutet, sich schon am nächsten Tag auf bittere Weise wieder zerschlägt.
Als junger Erwachsener mit dem Spitznamen Black scheint aus Chiron schließlich ein völlig anderer Mensch geworden zu sein. Der Kontrast zwischen seiner Körperlichkeit bis hierhin und seinem Erscheinungsbild in diesem letzten Drittel des Films könnte kaum größer sein. Doch schnell wird klar, dass sein muskelgestählter Körper nicht etwa ein Zeichen neuen Selbstbewusstseins ist, sondern ein noch dickerer Schutzschild, hinter dem Chiron sein wahres Ich versteckt.
Über diese drei Stationen zeichnet "Moonlight" die Geschichte des Heranwachsens und sexuellen Erwachens von Chiron nach und erzählt dabei eine Geschichte, die zugleich ganz individuell und doch auch allgemeingültig ist. Er vermittelt, was es bedeutet, sich der eigenen Homosexualität gewahr zu werden in einer sozialen Umgebung, in der Männlichkeit ganz klar definiert ist und Schwulsein ein noch größeres Tabu darstellt als anderswo in der Gesellschaft. Er tut dies so bedächtig und unaufgeregt, dass man im Nachhinein nur staunen kann, was dieser Film einem alles erzählt hat in Szenen, die beim ersten Betrachten oft fast banal wirken in ihrer Alltäglichkeit, doch allesamt enorme Bedeutung tragen.
"Moonlight" ist ein Film, der sich langsam entfaltet, der sich Zeit lässt und doch in jeder Sekunde ganz genau weiß, wo er hin möchte. Der seine Zuschauer von Beginn an zu packen weiß, obwohl er auf jegliche künstliche Dramatisierung verzichtet. Der gerade deshalb unglaublich wahrhaftig und authentisch erscheint und das klare Gefühl vermittelt, dass ihm viel zu wichtig ist, was er zu erzählen hat, um darum irgendeine große Show zu veranstalten. Er ist ein Film, im dem das, was nicht gesagt wird, fast noch wichtiger ist als das, was gesagt wird. Ein Film, der genauso leise und zurückhaltend daherkommt wie sein Protagonist, und genauso wenig um Aufmerksamkeit buhlt.
Umso ein größeres Wunder ist es, dass dieser Film so viele Preise gewonnen hat, und vor allem den größten von allen. Denn nichts an "Moonlight" ist im herkömmlichen Sinne spektakulär. Man kann für diesen Film keinen griffigen Werbespot zusammenschneiden, keinen aufsehenerregenden Trailer, seine Darsteller können nicht mit großen Gesten und Theatralik glänzen, denn die Regie verlangt von ihnen ganz und gar, dass sie ihr Spiel genauso subtil und leise anlegen, wie der Film es selber ist. Alles an "Moonlight" ist durch und durch außergewöhnlich. Herausragend. Besonders. Er ist eine so kunstfertige, so meisterhafte Erzählung, dass er wie ein Stück große Literatur wirkt, nur eben auf Zelluloid. Ein ganz kleiner, ganz großer Film. Und wohl in der Tat das beeindruckendste cineastische Erlebnis dieses Jahres.
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