Im Jahr 2001 debütierte Regisseur und Autor Todd Field mit "In the Bedroom", dem besten Independent-Film seines Jahrgangs, und demonstrierte darin ein beeindruckendes Einfühlungsvermögen, ein Talent, die Dramatik im Alltäglichen zu finden und die Handlungen ganz normaler Leute von Nebenan als Äußerungen einer hochspannenden Psychologie zu offenbaren. "In the Bedroom" war ein leiser Film der unausgesprochenen Worte, aber dennoch über zwei Stunden packender als die meisten Thriller. Es ist schade, dass es fünf Jahre gedauert hat, bis Field endlich sein Nachfolgewerk fertig hatte. Es ist für jeden Cineasten umso erfreulicher, dass "Little Children" seinem Vorgänger in nichts nachsteht.
Dass es nicht ganz einfach zu beschreiben ist, worum es in "Little Children" eigentlich geht, illustriert schon der offizielle Pressetext zum Film, der zum Inhalt nicht mehr sagt als dies: "'Little Children' handelt von einer Handvoll Menschen, deren Leben sich auf den Spielplätzen, Schwimmbädern und Straßen ihrer kleinen Gemeinde auf überraschende und möglicherweise gefährliche Art kreuzen." Machen wir es mal ein wenig konkreter: Erste Hauptfigur des Films ist die junge Mutter Sarah Pierce (Kate Winslet), die sich nach einem Literaturstudium von Ehe und Kind einfangen ließ und nun dem leisen Schrecken entgegen blickt, in ihrer ruhigen Vorort-Siedlung zu solch einem kleingeistigen, durchorganisierten Muttertier zu werden wie die anderen Hausfrauen, die sie täglich auf dem Spielplatz trifft. Wäre da nicht der attraktive Hausmann Brad Adamson (Patrick Wilson, "Hard Candy"), ebenfalls Stammgast mit Kind auf dem Spielplatz, der von den anderen Frauen nur aus der Ferne angehimmelt wird. Als Sarah aus einer Trotzreaktion heraus auf Brad zugeht, überschreitet sie in den Augen der anderen Mamis eine soziale Grenze, für sie bedeutet die entstehende Freundschaft mit den täglichen Treffen auf dem Spielplatz und im Schwimmbad jedoch neuen Schwung in ihrem Leben - und den stillen Nervenkitzel, mit dem Verbotenen zu flirten.
Der Ehebruch liegt hier von Beginn an in der Luft, und als er passiert,
kann man weder Sarah noch Brad wirklich böse sein. Ihre jeweiligen
Ehen sind Herde der Frustration: Brad hütet nach einem Jura-Studium,
aber ohne Anwaltszulassung Haus und Kind für seine Frau (Jennifer
Connelly), eine erfolgreiche Dokumentarfilmerin, die in ihrer knappen
Freizeit dem gemeinsamen Sohn mehr Liebe und Zuneigung schenkt als
ihrem Gatten. Sarah ist mit einem langweiligen Schlipsträger
verheiratet, der zum Onanieren Internet-Pornoseiten besucht.
Die
Vorstellung dieser Vorort-Hölle fällt flott und sehr amüsant
aus, in der ersten halben Stunde von "Little Children"
gibt es viel zu lachen, sei es über die mütterlichen Spielplatz-Rituale
oder über die Szene, als Sarah ihren Gatten beim Wichsen erwischt.
Die unterschwellige Komik wird dabei unterstützt von den gelegentlichen
Kommentaren eines Off-Erzählers, dessen wortgewandter, unterschwelliger
Witz das Geschehen nicht nur in die richtige Perspektive rückt,
sondern auch als zarter Verweis auf die Wurzeln des Films dient.
"Little Children" ist eine Romanadaption, die Todd Field
gemeinsam mit dem Autor der Vorlage, Tom Perrotta, erarbeitet hat,
wobei sie sich zwar zum Teil signifikant vom Buch entfernt haben,
gleichzeitig jedoch die Charakteristik und Erzähldynamik eines
Romans vorbildlich auf die Leinwand übertrugen. "Little
Children" ist kurzum der Roman-artigste Film, den es seit langem
zu sehen gab, und das ist durchweg positiv gemeint: Obwohl genau
genommen nicht sehr viel passiert, sind die Charaktere so fein beobachtet
und die Dramatik so behutsam aufgebaut, dass man über 130 Minuten
das Geschehen durchgehend gebannt und gefesselt verfolgt.
Das liegt nicht zuletzt an einem omnipräsenten Gefühl
der Vorahnung, ein Unwohlsein, das selbst während des amüsanten
Anfangs in jeder Ecke lauert, und sich in der Person von Ronnie
McGorvey (Jackie Earle Haley) manifestiert. Ronnie saß zwei
Jahre im Gefängnis für Entblößung
vor einer Minderjährigen, und versteckt sich nun im Haus seiner
Mutter (Phyllis Somerville) vor der durch den Ex-Polizisten Larry
(Noah Emmerich, Jim Carreys bester Freund aus der "Truman Show")
aufgewiegelten Öffentlichkeit. Während Larry mit einer
Hetzkampagne Ronnie als gefährlichen Triebtäter und Gefahr
für die Kinder der Nachbarschaft hinstellt, ist Ronnies Mutter
beharrlich darum bemüht, ihren Sohn zu einem neuen, unbescholtenen
Leben zu animieren.
Man ahnt, dass das nicht funktionieren wird, nicht zuletzt dank
des meisterhaften Schauspiels von Jackie Earle Haley, der Ronnie
als Gefangenen seiner eigenen Triebe zeigt und es trotzdem schafft,
ihm Menschlichkeit zu verleihen. Die Würdigung mit einer Oscar-Nominierung
als bester Nebendarsteller war mehr als angebracht, die im Übrigen
auch Noah Emmerich verdient gehabt hätte. Und dass Kate Winslet
für ihre Vorstellung hier vollkommen berechtigt bereits ihre
fünfte Oscar-Nominierung erhielt, unterstreicht nur nochmals,
dass sie wohl die weltbeste Schauspielerin unter 30 ist.
Zur Beruhigung aller potentiellen Zuschauer sei an dieser Stelle
übrigens verraten, dass es nicht zu dem kommt, was man angesichts
des Filmtitels, der bedrohlichen Stimmung und Ronnies Sexualtrieb
eventuell vermutet - und deswegen diesen Film fälschlicherweise
meidet. Es geht hier nicht um Kindesmissbrauch (Ronnie ist Exhibitionist,
kein Vergewaltiger), und es wird auch nichts in der Art geschehen.
Und
auch wenn der Filmtitel zunächst auf die kleinen Kinder verweist,
die das Leben der Hauptcharaktere als ihre Schutzbefohlenen bestimmen,
so wird im Verlauf des Films doch langsam klar, dass der Titel sich
ebenso sehr (wenn nicht sogar vor allem) auf die Erwachsenen bezieht.
Wenn die Erzählung nach und nach die Schichten der Persönlichkeiten
von Sarah und Brad abschält und die Motivation ihrer Handlungen
immer mehr aus dem Licht der Sympathie herausrückt, erkennt
man schließlich, dass die beiden eben nicht zwei Gefangene
ihrer Lebensumstände (und somit quasi verständliche Ehebrecher)
sind, sondern schlicht trotzige Kinder, die den Schritt aus ihren
vermeintlichen Träumen hinein ins verantwortungsvolle Erwachsenen-Dasein
nicht machen wollten und sich in die Rolle des Kinderhüters
flüchteten, um weiterhin ihren jugendlichen Träumen nachhängen
und die Schuld für deren Nicht-Erfüllung bei jemand anders
suchen zu können.
Solche wirklichkeitsgetreue Feinheiten in der Zeichnung von Figuren
findet man für gewöhnlich nicht im Kino, weil die meisten
(Hollywood-)Filme es nicht einmal versuchen; stattdessen belassen
sie ihre Charaktere in vorgezeichneten und für die beabsichtigte
Geschichte nützlichen Rollenfunktionen. Darum wohl auch das
nach wie vor gängige Vorurteil, dass die Erzeugung tiefgründiger
und komplexer (und darum faszinierender) Figuren, die eine Geschichte
durch sich allein tragen können und keinen spektakulären
Plot brauchen, der Romanwelt vorbehalten und für einen Film
nicht möglich ist.
"Little Children" beweist (wie es auch schon "In
the Bedroom" getan hat), dass das nicht stimmt. Ohne plakative
Schockmomente und Plotwendungen, dafür mit herausragend konstruierten
Figuren, durch die Bank großartigen Darstellern und einer
atemberaubend brillanten Inszenierung fesselt der Film sein Publikum
über zwei Stunden in den Kinosessel und setzt sich auch danach
so nachhaltig im Kopf fest, wie es sonst eigentlich nur ein wirklich
guter Roman schafft. Es gibt solche Filme nicht oft, leider sogar
viel zu selten. Umso mehr ist zu hoffen, dass Todd Field nicht wieder
fünf Jahre braucht, bis er den nächsten fertig hat.
Neuen Kommentar hinzufügen