Filmkritikern wird von Anhängern des konventionellen Mainstreams gerne vorgehalten, dass sie einen Film schon dann als grandios gelungen hochjubeln, wenn er sich nur abseits der ausgetretenen Pfade bewegt, frei nach dem Motto: Alles was anders ist, ist gut. Es steckt durchaus ein Körnchen Wahrheit in diesem Vorwurf, denn natürlich konsumiert man als Rezensent teilweise unverantwortliche Mengen an standardisiertem "Middle of the Road"-Kram und ist für ein bisschen Abwechslung wirklich dankbar. Doch als Verteidigung kann man ebenso gut (und wesentlich wirksamer) das Argument heranziehen, dass dieses etwas andere Kino schlichtweg mehr zu bieten hat: Weil es Sachen ausprobiert, an die sich konventionelle Filmemacher gar nicht erst herantrauen, und Themen anfasst, die für Otto Normalzuschauer von vornherein als viel zu komplex und schwierig angesehen werden, glaubt man den Marketing-Experten in Hollywood.
Ein Paradebeispiel für dieses andere Kino ist ganz sicher der Drehbuchautor Charlie Kaufman, der sich mit wenigen Filmen zum neuen Schutzheiligen aller Leute entwickelt hat, die nach Frische und Innovation im Kino dürsten. Dabei hatte er aber auch Regisseure an seiner Seite, deren Anspruch in eine ganz ähnliche Richtung geht. Jüngst inszenierte der sehr experimentierfreudige George Clooney Kaufmans Skript zu "Geständnisse - Confessions of a Dangerous Mind", zuvor begeisterten vor allem die Kaufman-Adaptionen von Videoclip-Legende Spike Jonze, der mit "Being John Malkovich" und "Adaption" zwei der schrägsten aber auch besten Filme der letzten Jahre kreierte. Beim neuesten Kaufman-Streich sitzt nun ebenfalls ein innovativer Videoclip-Veteran auf dem Regiestuhl: Der Franzose Michel Gondry inszenierte bereits das bisher schwächste Kaufman-Skript "Human Nature" (in Deutschland noch unveröffentlicht), und bringt seine Talente nun in kongenialer Form für die Adaption von "Vergiss mein nicht" ein - eine Story über Liebe, Beziehungen und den Wert von Erinnerungen - mit dem ganz speziellen Kaufman-Twist.
Und der bedeutet vor allem eins: Abstruse Story-Ideen. So lernen wir zu Beginn des Films den traurig-antriebslosen Joel Barish (Jim Carrey) kennen, der am Valentinstag aus einer Laune heraus nicht zur Arbeit geht und stattdessen ans Meer fährt, wo er die flippige Clementine Kruczynski (Kate Winslet) kennen lernt. Was sie und er nicht (mehr) wissen: Bis vor wenigen Tagen waren die beiden noch ein Paar, doch nach der schmerzhaften Trennung hatte sich Clementine von dem Gehirn-Spezialisten Dr. Howard Mierzwiak (Tom Wilkinson, "In the Bedroom") gezielt alle Erinnerungen an Joel entfernen lassen - eine Prozedur, die auch Joel durchführen ließ, nachdem er von Clementines Aktion erfuhr. In einem ausgedehnten Flashback bezeugt der Zuschauer nun Joels "Behandlung" durch Dr. Mierzwiak und seine drei Assistenten (Mark Ruffalo, "You can count on me";"Spiderman"-Freundin Kirsten Dunst und "Frodo" Elijah Wood), und begibt sich dabei mit Joel in seine Erinnerungen, die chronologisch rückwärts gelöscht werden. Während man so die Beziehung von Joel und Clementine quasi im Schnellrücklauf vorgespielt bekommt, versucht der ob seiner Entscheidung unsicher gewordene Joel verzweifelt, den Löschvorgang von innen heraus aufzuhalten.
Klingt das schräg genug? Das erste Urteil zu "Vergiss mein nicht" steht jedenfalls schon nach knapp der Hälfte der Laufzeit fest: Ja, sie haben's auch diesmal wieder geschafft. Aus Kaufman's verrückten Ideen strickt der visuell unglaublich begabte Gondry einen Film, der mühelos seinen Platz in der Schublade "So etwas hat man noch nie im Kino gesehen" findet und dabei einen flotten Stepptanz aufführt. Während der Film vom optischen Eindruck her leicht körnig und abgenutzt wirkt und so geschickt ein Gefühl von realistisch-bodenständigem Independent-Kino vermittelt, galoppiert das gebündelte Einfallsreichtum von Kaufman/Gondry in die andere Richtung davon. Gerade die ersten paar Minuten im Kopf von Joel entbehren jeglicher Beschreibung, mit solcher Rasanz werden hier visuelle Tricksereien serviert und Diskontinuität als Grundphilosophie hochgehalten. Da ist es dann völlig normal, wenn eine Person auf der einen Seite aus dem Bild rausgeht und auf der anderen wieder auftaucht, und mindestens die Hälfte der Zeit kann man sich nur staunend fragen: Wie zur Hölle haben die das jetzt wieder hingekriegt?
Sich zu sehr mit dem Hinterfragen des "Wie" aufzuhalten ist indes nicht empfehlenswert, statt dessen sollte man diesen einmaligen Bilderrausch in voller Wucht auf sich wirken lassen, denn nur höchst selten wird man in den nächsten Monaten pure Kinomagie in solch gebündelter Form serviert bekommen. Es gehört zu den größten Leistungen von Kaufman und seinen Kollaborateuren Jonze und Gondry, dem Publikum nachhaltig aufzuzeigen, was für Möglichkeiten das Medium Kino bereit hält, was sein visueller Zauber tatsächlich leisten kann, ohne dabei den Kontakt zu grundsätzlich menschlichen Dingen zu verlieren.
Denn hinter all den vor Phantasie fast überbordenden Spielereien der Kreativabteilung verbirgt sich eine Geschichte, die auf ganz prinzipielle Art und Weise den Wert von Erinnerungen und Erfahrungen (auch und vor allem der schlechten) hinterfragt und sich so dem Thema Identität fast schon existenzphilosophisch nähert. Wie schon in "Being John Malkovich" ist der abstruse Story-Ansatz (den es in all seiner Unglaublichkeit vorbehaltlos zu schlucken gilt, wenn man den Film genießen und begreifen will) letztlich nur kongeniales Mittel zum Zweck, um Antworten auf ganz universelle Fragen der menschlichen Psyche zu finden. Kaufman, der mit seinen abgefahrenen Ideen zunächst weiter weg von Normalität zu sein scheint als jeder andere zeitgenössische Drehbuchautor, erweist sich bei näherer Betrachtung als einer der intimsten Kenner des Menschseins: Er ist nicht nur beim Zuschauer, er ist in seinem Kopf.
Dass die Adaption auch dieses verrückten Kaufman-Skripts entscheidend mitgetragen wird von einem brillant aufspielenden Ensemble muss schon angesichts der vertretenen Namen kaum weiter erwähnt werden. Einen besonderen Lichtblick bietet indes einmal mehr der großartige Jim Carrey: Nach der "Truman Show" und dem "Mondmann" beweist der einstige Superclown hier erneut, dass er zu den besten Darstellern seiner Generation gehört und in seinen massentauglichen Komödien einfach nur chronisch unterfordert wird. Uns soll auch ein 20-Millionen-Gehaltsscheck für Schnellschuss-Ware wie "Bruce Allmächtig" recht sein, wenn Carrey dadurch die Möglichkeit bekommt, uns zwischendurch in Filmjuwelen wie diesem zu erfreuen.
Bei all den hochlobenden Worten soll indes nicht verschwiegen werden, dass auch "Vergiss mein nicht" an denselben Schwächen kränkelt wie die meisten Kaufman-Skripts. Da ist zum einen die Frage der allgemeinen Verträglichkeit: Kaufmans Anspruch, alles anders zu machen, ist für das konventionelle Kinoauge nur schwer verdaubar, und auch wenn der Kritiker und passionierte Filmfreak hier regelmäßig begeistert jauchzt, so muss man doch eingestehen, dass es für Mainstream gewohnte Kinofreunde doch ein bisschen viel Input auf einmal sein kann. Zum anderen beweist Kaufman auch bei "Vergiss mein nicht" sein ständiges Problem mit dem dritten Akt, also der Auflösung seiner Geschichten: Er ist genial im Aufbau und der Ausarbeitung einer Storyidee, doch wenn er erst mal in seiner Geschichte drin ist, will er nicht wieder raus - muss er aber. Ähnlich wie bei "Being John Malkovich" merkt man auch hier, dass die Macher am liebsten ewig so weiter machen würden wie im Mittelteil. Der Ausweg aus ihren wilden Phantasien erweist sich da bisweilen als etwas bemüht. "Deus ex Machina" sagt man im dramaturgischen Fachchinesisch zu einem Storyelement, dass kurz vor Schluss einzig zu dem Zweck eingeführt wird, um die verworrene Handlung auf die Zielgerade zu steuern. Einen solchen "Gott aus der Maschine" leistet sich Kaufman auch hier, was deutlich macht, dass selbst für die Werke eines Genies seiner Größenordnung ein bisschen mehr Struktur manchmal keine schlechte Idee wäre.
So bleibt "Adaption" zwar weiterhin die beste Kaufman-Verfilmung (auch weil sich dort der "Deus ex Machina" kongenial ins Gesamtkonzept des Films eingliederte und seine ganz eigene Aussagekraft entwickelte), "Vergiss mein nicht" reiht sich jedoch mühelos ein ins nach wie vor außergewöhnliche Gesamtwerk des Autors, das unser zeitgenössisches Kino immer wieder mit einer wertvollen Frischzellenkur bereichert und all jene Lügen straft, die denken, es gäbe nichts Neues mehr auf der großen Leinwand. Und jawohl, das allein macht ihn schon zu einem der besten Filme des Jahres, denn neue Abenteuer kann man nur abseits der ausgetretenen Pfade finden.
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