Irgendwann wollen sie es alle mal beweisen und zeigen, dass sie auch anders können. Schauspieler oder Regisseure, die mit flachen Actionstreifen oder Komödien erfolgreich im Geschäft sind, versuchen sich am ernsthaften und anspruchsvollen Drama und manche schaffen es dabei dann sogar zu einer vorher für kaum möglich gehaltenen Oscarnominierung. Einer, von dem man einen solchen Ausflug in „seriöse“ Gefilde aber so ziemlich als Letztes erwartet hätte, ist sicher Roland Emmerich, seit nun schon gut zwei Jahrzehnten unser Mann fürs eher Grobe und Gewaltige in Hollywood, ein Filmemacher der stets die Unterhaltung des Publikums als oberste Priorität ansieht und ziemlich fest davon überzeugt schien, diese am Besten mit bombastischen Weltuntergangsszenarien zu garantieren. Knapp ein halbes Dutzend Mal führte der Schwabe unsere schöne Erde bereits in den Abgrund oder zumindest bis kurz davor, und von „Independence Day“ über „The Day after Tomorrow“ bis zuletzt „2012“ machte das ja auch meist eine Menge Spaß (und spielte vor allem jede Menge Geld ein). Doch selbst ein Emmerich macht nun also „Ernst“ und taucht mit seinem neuesten Werk tief in die Welt des historischen Kostümdramas und der Literatur ein. Und trotz seines höchst hypothetischen Hauptthemas geht er dabei dermaßen akkurat zur Sache, dass man tatsächlich nur staunen kann.
Die Frage ist nicht neu, sondern wird bereits seit Jahrhunderten immer mal wieder diskutiert: Ist es überhaupt menschenmöglich, dass dem mit einer überschaubaren Schulbildung gesegneten Landei aus Stratford-on-Avon namens William Shakespeare innerhalb weniger Jahre die meistgespielten, meistzitierten und meistverehrten Theaterstücke der Kulturgeschichte gleich dutzendfach aus der Feder flossen? Oder ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass doch jemand anders dahintersteckte, der aus noch zu enträtselnden Gründen nicht seinen eigenen Namen unter die unzweifelhaften Meisterwerke setzte? Kandidaten, der wahre Autor hinter „Hamlet“, „Romeo und Julia“ oder den zahlreichen Königsdramen zu sein, gab es schon viele, lange Zeit galt der Politiker und Wissenschaftler Sir Francis Bacon (der in diesem Film nicht vorkommt) als Favorit, dann war es wieder der jung unter mysteriösen Umständen verstorbene Autor Christopher Marlowe (der hier sehr wohl vorkommt).
Emmerich bewegt sich jedoch auf der Höhe der Zeit und macht den erst in den letzten Jahrzehnten zum Favoriten in der Urheberschaftsdebatte aufgestiegenen Edward de Vere, Earl of Oxford, zum Verfasser der Shakespeare zugeschriebenen Texte. Und wie das mit Verschwörungstheorien so ist, wirkt auch diese in sich ziemlich schlüssig und überzeugend: Der hochgebildete und aufmerksame Eward de Vere (Rhys Ifans) stellt bei einer Theateraufführung beeindruckt fest, welche Wirkung ein Stück mit einer klaren politischen Aussage auf das einfache Volk haben und welche Emotionen für oder gegen die aktuell bei Hofe agierenden Personen es auslösen kann. Da dem englischen Königreich unter Queen Elizabeth I. (Vanessa Redgrave) von verschiedenen Seiten Gefahr droht, entschließt sich Edward einige der seit vielen Jahren unveröffentlicht in seinen Gemächern lagernden Werke auf die Bühne zu bringen und gleichzeitig ein paar gezielt neu zu verfassen.
Titel und Stellung verbieten es freilich dies unter dem eigenen Namen zu tun und so macht der Adlige dem zwar talentierten, aber noch recht unbekannten Autor Ben Johnson (Sebastian Armesto) das Angebot, ihm seine Texte zu überlassen und unter dessen Namen zu veröffentlichen. Die Umstände und vor allem Johnsons Stolz führen jedoch schließlich dazu, dass der eitle Schauspieler William Shakespeare (Rafe Spall) die Gelegenheit beim Schopfe greift und sich für die von Beginn an eminent populären Werke feiern lässt. Hauptangriffsziel von Edward de Vere sind dabei stets Vater und Sohn der Familie Cecil (David Thewlis & Edward Hogg), die als Bürgerliche seit langem die Königin beraten und nach Edwards fester Überzeugung das Land ins Unglück führen werden. Nicht ganz unbedeutend ist dabei allerdings der Hass, der sich in den Jahrzehnten aufgebaut hat, als William Cecil der Ziehvater des jungen Edward war und seine künstlerischen Ambitionen unterdrückte sowie auch sein privates Glück zerstörte.
Es gäbe da noch mindestens eine Handvoll weitere, für die Handlung nicht ganz unbedeutende Figuren, die gern mit wallendem Haupthaar durch die Kulissen schreiten, noch am Ehesten durch ihre klangvollen Namen zu unterscheiden sind und sich daher vorwiegend mit „Essex“ oder „Southampton“ anreden. Doch der Spott ist nicht wirklich angebracht, denn praktisch alle Charaktere sind schließlich historisch verbürgt, wobei der bekannteste Name William Shakespeare hier sogar nur eine Nebenrolle einnimmt. Was dagegen nicht nur angebracht sondern absolut notwendig ist, sind eine erhöhte Aufmerksamkeit und Konzentration auf das Leinwandgeschehen, nicht nur aufgrund der Vielzahl der auftretenden Figuren, sondern auch dank der drei verschiedenen Zeitebenen, in denen die Geschichte erzählt wird (und dabei haben wir den in der Gegenwart gesprochenen Pro- und Epilog noch nicht mal mitgezählt).
Es wird also munter hin- und her gesprungen zwischen dem jungen und dem älteren Edward, der früheren und späteren Königin Elizabeth. Dabei wird dann selbstredend auch gekämpft und gestorben, dass es eine Pracht ist, es werden aber vor allem jede Menge unehelicher Kinder gezeugt und mit einer bemerkenswerten Professionalität entsorgt, beseitigt oder dorthin weitergegeben, wo sie ungestört aufwachsen und dann Jahre später für Ärger sorgen können. Auch das ist zwar nicht ausschließlich der Phantasie des Drehbuchautoren entsprungen, wie jeder weiß, der sich z.B. nur ein wenig mit der Familiengeschichte der Tudors beschäftigt hat; es ist aber trotzdem der einzige Handlungsstrang, in dem sich Emmerichs Film einige Freiheiten nimmt, offensichtlich mit dem Ziel die emotionale Verbindung unter den Charakteren zu verstärken.
Ansonsten arbeitet man jedoch mit einer Genauigkeit, die zu verblüffen weiß, wer ein wenig nachschlägt wird für nahezu jede Szene einen entsprechenden Vermerk in den Geschichtsbüchern finden: Seien es die etwas bedeutenderen Vorkommnisse wie die einzelnen Feldzüge, zu denen die diversen Earls geschickt werden; sei es der recht dramatisch und konstruiert wirkende Plan, das aufgebrachte Volk mittels einer Theateraufführung zielgenau zur Revolution zu leiten; oder eine Petitesse wie das Eindringen eines zornigen Feldherrn in die Gemächer der noch nicht vollständig bekleideten Königin – alles historisch verbürgt und alles irgendwie mit untergebracht in diesem etwas mehr als zwei Stunden langen Epos.
Das ist beachtlich, führt aber ohne Zweifel dazu, an dieser Stelle jetzt das Adjektiv „überfrachtet“ einzufügen. Es ist allerdings keinesfalls so, dass der Film deshalb nun ungenießbar wäre - er ist im Gegenteil trotzdem sehr spannend geraten, entwirft eine ziemlich faszinierende Geschichte und ist zudem mit einer Riege ausgezeichneter, vorwiegend britischer Darsteller besetzt. Mit leichten Abstrichen vielleicht bei Edward Hogg als Robert Cecil, der gelegentlich etwas zu gewollt sinister und böse in die Kamera schaut, hat das Gebotene hier durchweg schauspielerische Oberklasse, aus der die berührende und würdevolle Darstellung des vielseitigen Rhys Ifans als Edward de Vere herausragt, einem Mann, der Zeit seines Lebens seine wahren Lieben, sowohl in künstlerischer wie in privater Hinsicht unterdrücken musste und gerade deshalb (vielleicht) einige der großartigsten Werke der Weltliteratur verfasst hat.
Ach ja, auf eine Sache muss vielleicht auch noch hingewiesen werden: Wenn ein Roland Emmerich davon spricht, jetzt zur Abwechslung mal einen „ganz kleinen Film in der Heimat “ gemacht zu haben („Anonymus“ wurde fast vollständig für rund 30 Millionen Dollar in den traditionsreichen Studios in Potsdam-Babelsberg gedreht), dann gilt das aber wirklich nur für die Maßstäbe des notorischen Gigantomanen mit Hauptwohnsitz Hollywood. Denn auch dieser „kleine“ Film bietet mehr an aufwändigen Kulissen, Schauplätzen und Massenszenen als so ziemlich jede andere bisher im Elisabethanischen Zeitalter angesiedelte Produktion. Und es wäre natürlich nicht Emmerich, wenn es ihm nicht kurz vor Schluss noch gelingen würde, auch ein paar Explosionen in der Handlung unterzubringen.
Doch auch das ist kein ernsthafter Grund zur Kritik, wie man überhaupt Respekt zollen muss für diesen Ausflug in die Hochkultur: Die Geschichte ist stark, die Schauspieler sind erstklassig und die Umsetzung sehr ambitioniert. Das bemerkenswerte Ergebnis: Ein Roland Emmerich-Film, der sein Publikum zwar ausgezeichnet unterhält, aber es auch fordert. Können Sie sowas eigentlich auch, Michael Bay?
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