Ein Zug setzt sich in Bewegung. Ganz langsam, unter großer Anstrengung sozusagen, mit lautem Ächzen und Knirschen rollen die Räder an. An der vereisten Oberleitung blitzt es ein paar mal, das Licht im Waggon flackert, aber dann geht die Reise nach Hause weiter. So beginnt Ang Lees "Der Eissturm", einer der unangenehmsten Familienfilme, mit denen uns Hollywood im letzten Jahrzehnt verstört hat. Im Zug sitzt Paul Hood (Tobey Maguire), sechzehnjähriger High-School-Absolvent auf dem Weg nach Hause. Ähnlich schwerfällig rollt auch die Story des Films an, ganz unscheinbar und ohne große Beschleunigung, fast stöhnend - als traue sie sich nicht recht, Paul in den Schoß seiner Familie zu folgen. Dabei hat gerade in diesem Moment das Verhängnis zugeschlagen, alles ist anders geworden - aber das erweist sich erst ganz am Schluss.
Paul scheint ganz zufrieden zu sein, wie er da in der dicken Jacke mit seinem Comic in den Händen gemütlich nach New Canaan, Connecticut, gondelt. Aber dieser erste Eindruck täuscht ziemlich, und Paul stellt das auch sofort klar, als er aus dem Off über den neuesten Band der Fantastischen Vier reflektiert: "Je mehr Macht sie besaßen, desto mehr Leid konnten sie einander zufügen, ohne es zu bemerken." Damit ist das Motto für die kommenden gut anderthalb Stunden vorgegeben: Das Drama zweier amerikanischer Familien irgendwo auf dem platten Lande, das zugleich eine Geschichte vom Esel darstellt, dem es zu wohl ist und der sich deswegen aufs Eis begibt - nicht nur wegen des Titels. Wer schon immer unbewusst sicher war, dass die siebziger Jahre entgegen der landläufigen Meinung doch total schrecklich waren, dem liefert "Der Eissturm" wertvolles Argumentationsfutter. Das ganze Land ist 1973 im Trauma des Vietnamkriegs gefangen und quält sich zudem mit einer nicht enden wollenden Einbruchs- und Lügenaffäre seines Präsidenten Richard Nixon - "man sollte ihn erschie-ßen", ätzt Pauls Schwester Wendy (Christina Ricci) -, draußen stirbt die Natur ihren herbstlichen Tod, und drinnen zerbrechen die Familien an Nichtigkeiten. Dieses New Canaan ist längst nicht mehr das gelobte Land, die Stadt auf dem Berg, als die es wahrscheinlich von puritanischen Religionsflüchtlin-gen gegründet wurde. Eher ist es ein modernes Babylon der kleinen, dafür um so schmerzlicheren Unachtsamkeiten und entnervenden Gedankenlosigkeiten. Nicht umsonst endet der Film damit, dass jemand vor den Augen seiner Familie in hemmungs- und hilfloses Weinen ausbricht. Die Familien Hood und Carver, benachbart und befreundet, erfreuen sich nach außen hin eines gere-gelten, freilich auch etwas langweiligen neuenglischen Mittelstandsdaseins. Dabei hintergeht Vater Wood (Kevin Kline) mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks und der Leidenschaft eines Kleider-ständers seine Frau (Joan Allen) mit Janey Carver (Sigourney Weaver), die noch die unkonventio-nellste von allen ist. Mrs. Wood klaut dafür ohne besonderen Anlass, mehr aus Langeweile, im Drug Store - und wird prompt erwischt. Währenddessen ergeht sich der gerade gut zehnjährige Sandy Carver (Adam Hann-Byrd) in Amokphantasien von Sprengstoffanschlägen. Außerdem steckt Wendy Hood mit ihren 14 Jahren mitten in der Pubertät, macht sich an die Nachbarskinder ran und wirft ihrem Vater auch schon mal ein markiges - und ernst gemeintes - "Faschist!" an den Kopf, wenn der sie auffordert, ins Bett zu verschwinden. Und die Ehe ihrer Eltern ist eigentlich nur noch eine Farce oder, schlimmer, reine Gewohnheit. Wenn überhaupt, könnte eine Kritik hier ansetzen: Ja, es ist eine ausgelutschte Idee, dass schließlich wieder die Natur herhalten muss, um die Story zuzuspitzen und zu einem dramatischen Ende zu brin-gen. Aber Ang Lee macht aus dieser häufigen Unart in diesem Fall tatsächlich eine Tugend. Die scheinbar ausweglose Anspannung, die die erste Hälfte des Films aufbaut, muss sich irgendwie ent-laden, und dafür sind die Wetterkapriolen gerade richtig. Das wirkt nicht einmal gekünstelt oder ge-sucht, vielleicht auch, weil die schauspielerischen Leistungen eines erlesenen Ensembles billige Tricks völlig überflüssig machen (und nicht zuletzt die ebenfalls exzellente Romanvorlage von Rick Moody das kathartische Unwetter ohnehin vorgab). Vor allem die minderjährigen Hauptdarsteller sorgen also für eine drückende Grundstimmung des Films - und machen die Peinlichkeiten geradezu körperlich fühlbar, in die sie die erbarmungslose Story treibt. Die teilweise grotesken Situationen sind aber keineswegs brüllkomisch, sondern nur un-endlich frustrierend. Überhaupt könnte man die ganze verworrene kollektive Gemütslage im "Eissturm" am ehesten mit dem Bild des Knotens beschreiben, der irgendwann platzen muss. Seit einigen Jahren können wir jenseits des Atlantiks eine Tendenz beobachten, die Familie als christ-liche Keimzelle der Gesellschaft und als Fundament des amerikanischen Traums zunehmend in den Mittelpunkt einer als moralisch bezeichneten Politik zu stellen. Man mag davon halten, was man will: Die Familien in diesem Film sind es jedenfalls nicht, die Amerika groß gemacht haben. Diese Familien zerstören sich offenen Auges selbst und den amerikanischen Traum gleich dazu. Und was das Schlimmste ist: Sie tun das nicht - was wenigstens noch tragisch wäre - aus irgendwelchen Zwängen oder Notwendigkeiten heraus. Unausweichlich ist nichts, was die Protagonisten dieses Films sich einfallen lassen. Die Wahrheit ist einfacher, aber auch peinlicher und leider Gottes nicht nur für das Amerika der Siebziger gültig: Sie tun es, weil es ihnen viel zu gut geht. Aus purem Desinteresse. Und das ist erst richtig bitter. |
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