Der Eissturm

Originaltitel
The Ice Storm
Land
Jahr
1997
Laufzeit
112 min
Genre
Regie
Release Date
Bewertung
7
7/10
von Frank-Michael Helmke / 14. November 2010
Ein Zug setzt sich in Bewegung. Ganz langsam, unter großer Anstrengung sozusagen, mit lautem Ächzen und Knirschen rollen die Räder an. An der vereisten Oberleitung blitzt es ein paar mal, das Licht im Waggon flackert, aber dann geht die Reise nach Hause weiter. So beginnt Ang Lees "Der Eissturm", einer der unangenehmsten Familienfilme, mit denen uns Hollywood im letzten Jahrzehnt verstört hat. Im Zug sitzt Paul Hood (Tobey Maguire), sechzehnjähriger High-School-Absolvent auf dem Weg nach Hause. Ähnlich schwerfällig rollt auch die Story des Films an, ganz unscheinbar und ohne große Beschleunigung, fast stöhnend - als traue sie sich nicht recht, Paul in den Schoß seiner Familie zu folgen. Dabei hat gerade in diesem Moment das Verhängnis zugeschlagen, alles ist anders geworden - aber das erweist sich erst ganz am Schluss.

Paul scheint ganz zufrieden zu sein, wie er da in der dicken Jacke mit seinem Comic in den Händen gemütlich nach New Canaan, Connecticut, gondelt. Aber dieser erste Eindruck täuscht ziemlich, und Paul stellt das auch sofort klar, als er aus dem Off über den neuesten Band der Fantastischen Vier reflektiert: "Je mehr Macht sie besaßen, desto mehr Leid konnten sie einander zufügen, ohne es zu bemerken." Damit ist das Motto für die kommenden gut anderthalb Stunden vorgegeben: Das Drama zweier amerikanischer Familien irgendwo auf dem platten Lande, das zugleich eine Geschichte vom Esel darstellt, dem es zu wohl ist und der sich deswegen aufs Eis begibt - nicht nur wegen des Titels.

Wer schon immer unbewusst sicher war, dass die siebziger Jahre entgegen der landläufigen Meinung doch total schrecklich waren, dem liefert "Der Eissturm" wertvolles Argumentationsfutter. Das ganze Land ist 1973 im Trauma des Vietnamkriegs gefangen und quält sich zudem mit einer nicht enden wollenden Einbruchs- und Lügenaffäre seines Präsidenten Richard Nixon - "man sollte ihn erschie-ßen", ätzt Pauls Schwester Wendy (Christina Ricci) -, draußen stirbt die Natur ihren herbstlichen Tod, und drinnen zerbrechen die Familien an Nichtigkeiten. Dieses New Canaan ist längst nicht mehr das gelobte Land, die Stadt auf dem Berg, als die es wahrscheinlich von puritanischen Religionsflüchtlin-gen gegründet wurde. Eher ist es ein modernes Babylon der kleinen, dafür um so schmerzlicheren Unachtsamkeiten und entnervenden Gedankenlosigkeiten. Nicht umsonst endet der Film damit, dass jemand vor den Augen seiner Familie in hemmungs- und hilfloses Weinen ausbricht.

Die Familien Hood und Carver, benachbart und befreundet, erfreuen sich nach außen hin eines gere-gelten, freilich auch etwas langweiligen neuenglischen Mittelstandsdaseins. Dabei hintergeht Vater Wood (Kevin Kline) mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks und der Leidenschaft eines Kleider-ständers seine Frau (Joan Allen) mit Janey Carver (Sigourney Weaver), die noch die unkonventio-nellste von allen ist. Mrs. Wood klaut dafür ohne besonderen Anlass, mehr aus Langeweile, im Drug Store - und wird prompt erwischt. Währenddessen ergeht sich der gerade gut zehnjährige Sandy Carver (Adam Hann-Byrd) in Amokphantasien von Sprengstoffanschlägen. Außerdem steckt Wendy Hood mit ihren 14 Jahren mitten in der Pubertät, macht sich an die Nachbarskinder ran und wirft ihrem Vater auch schon mal ein markiges - und ernst gemeintes - "Faschist!" an den Kopf, wenn der sie auffordert, ins Bett zu verschwinden. Und die Ehe ihrer Eltern ist eigentlich nur noch eine Farce oder, schlimmer, reine Gewohnheit.
Regisseur Ang Lee kreiert schon in den ersten Minuten des Films eine unerträgliche Atmosphäre von unterschwelliger Aggression, Feindseligkeit und vor allem fataler Gleichgültigkeit, die dem "Eissturm" bis fast zum Schluss erhalten bleibt. Am Ende gibt's tatsächlich das im Titel enthaltene, beinahe sach-te, aber trotzdem verhängnisvolle Unwetter, und am nächsten Morgen stehen die Woods und die Car-vers vor den Trümmern ihres Lebens, ohne dass viel mehr Material zu Klump gegangen wäre als eine Kühlerhaube.

Wenn überhaupt, könnte eine Kritik hier ansetzen: Ja, es ist eine ausgelutschte Idee, dass schließlich wieder die Natur herhalten muss, um die Story zuzuspitzen und zu einem dramatischen Ende zu brin-gen. Aber Ang Lee macht aus dieser häufigen Unart in diesem Fall tatsächlich eine Tugend. Die scheinbar ausweglose Anspannung, die die erste Hälfte des Films aufbaut, muss sich irgendwie ent-laden, und dafür sind die Wetterkapriolen gerade richtig. Das wirkt nicht einmal gekünstelt oder ge-sucht, vielleicht auch, weil die schauspielerischen Leistungen eines erlesenen Ensembles billige Tricks völlig überflüssig machen (und nicht zuletzt die ebenfalls exzellente Romanvorlage von Rick Moody das kathartische Unwetter ohnehin vorgab).
Vor allem Kevin Kline (der sich im gleichen Jahr unverständlicherweise für die peinliche, weil pseudo-tolerante Schwulen-Schmonzette "In and Out" hergab) als überforderter Familienvater und Elijah Wood als Mikey Carver können bei Lee zeigen, was in ihnen steckt: Elijah Wood konnte schon mit 16 viel mehr als nur ein besorgtes Frodo-Gesicht machen - sein enormes Talent könnte man über den "Herrn der Ringe" glatt vergessen. Christina Ricci spielt das, was sie offenbar am besten kann: die verführerische Lolita von nebenan - "American Beauty" wirft hier bereits deutlich seine noch etwas unscheinbaren Schatten voraus. Tobey Maguire, charmant und zugleich gekonnt farblos wie eh und je, bildet in seiner Person und als Erzähler den Rahmen des Ganzen, und Sigourney Weaver schließ-lich als nonchalante Nachbarin scheint neben Tobey die einzige zu sein, die nicht ständig in der Gummizelle der eigenen Obsessionen gefangen ist. Aber auch dieser Eindruck täuscht auf Dauer. Ang Lee legt darüber hinaus den ganzen Film sehr geschickt an: Man merkt lange Zeit gar nicht, dass der größte Teil eine Rückblende ist; aber in solchen netten Details hinterlässt der wahre Meister seine Signatur.

Vor allem die minderjährigen Hauptdarsteller sorgen also für eine drückende Grundstimmung des Films - und machen die Peinlichkeiten geradezu körperlich fühlbar, in die sie die erbarmungslose Story treibt. Die teilweise grotesken Situationen sind aber keineswegs brüllkomisch, sondern nur un-endlich frustrierend. Überhaupt könnte man die ganze verworrene kollektive Gemütslage im "Eissturm" am ehesten mit dem Bild des Knotens beschreiben, der irgendwann platzen muss.
Das scheinen auch die erwachsenen Protagonisten zu fühlen: Man liest Sartre und Camus, debattiert gepflegt über existenzialistische Philosophie, das Sein und das Nichts, beschwafelt sich im Jargon der modischen Systemtheorie, lässt die Ehepaar-Therapie über sich ergehen und lebt insgesamt in der diffusen und unsinnigen Erwartung einer nicht näher bestimmten kommenden Revolution.
Die einzige reale kleine Revolution, die man sich traut, ist dann aber schließlich nur der letzte Schrei der Gesellschaftsspiele: Schlüsselpartys, also Partnertausch per Zufallsprinzip, mit Autoschlüsseln als Los-Ersatz. Wer sich auf solche Rituale einlässt, muss tatsächlich schon sehr angeödet sein vom Leben. Oder hilflos in seiner Bewältigung. Vielleicht trifft es das eher, denn hier schafft es niemand mehr, wirklich mit dem anderen zu sprechen: Eltern nicht mit ihren Kindern, Ehepartner nicht mehr miteinander. Das Geknutsche der Kids im leeren Pool ist da noch die ehrlichste Kommunikationsform, und die Erwachsenen wissen das nur zu gut. Kein Wunder also, dass unter diesen Umständen das traditionelle Familienfest Thanksgiving zu einer realsatirischen Farce wird, die trotzdem keine Sekun-de lang zum Lachen ist.

Seit einigen Jahren können wir jenseits des Atlantiks eine Tendenz beobachten, die Familie als christ-liche Keimzelle der Gesellschaft und als Fundament des amerikanischen Traums zunehmend in den Mittelpunkt einer als moralisch bezeichneten Politik zu stellen. Man mag davon halten, was man will: Die Familien in diesem Film sind es jedenfalls nicht, die Amerika groß gemacht haben. Diese Familien zerstören sich offenen Auges selbst und den amerikanischen Traum gleich dazu. Und was das Schlimmste ist: Sie tun das nicht - was wenigstens noch tragisch wäre - aus irgendwelchen Zwängen oder Notwendigkeiten heraus. Unausweichlich ist nichts, was die Protagonisten dieses Films sich einfallen lassen. Die Wahrheit ist einfacher, aber auch peinlicher und leider Gottes nicht nur für das Amerika der Siebziger gültig: Sie tun es, weil es ihnen viel zu gut geht. Aus purem Desinteresse. Und das ist erst richtig bitter.

 


Sorry, aber in American Beauty hat Thora Birch mitgespielt, nicht Christina Ricci!!!!!

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10
10/10

Eindeutig einer der besten amerikanischen Dramen (der 1990er). "Der Eissturm" gehört zur Sorte von Filmen, die es wirklich schaffen, etwas über 'die Gesellschaft' auszusagen. Dass dies hier quasi im Rückblick auf die frühen 70er passiert, spielt einerseits keine große Rolle - viele Aspekte sind heute nicht viel anders. Andererseits ist dies aber doch wichtig, insbesondere was die 'sexuelle Befreiung' im besonderen und Sexualität in unserer Gesellschaft im allgmeinen angeht. Die heute Über-Sexualisierung nahm damals ihren Anfang - und ich weiss immer noch nicht (ohne dabei illiberal sein zu wollen), ob die für Kinder und Jugendliche heute eine gute Entwicklung ist.

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10
10/10

Super !!! Einer der besten Filme die ich je gesehen habe !!
ganz klar, 10 von 10 Punkten.

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8
8/10

Wunderbar verstörender Film für Menschen die wunderbar verstörende Filme lieben.

Ich glaube, der Song "House of cards" von Radiohead hatte die Handlung des Films als Grundlage.

Throw your keys in the bowl...kiss your husband goodnight.

The infrastructure will collapse...voltage spikes...

Und noch so ein paar.

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