Es war im vergangenen Jahr wohl das eindeutigste Symptom dafür, dass wir hier bei Filmszene es nicht mehr schaffen, mit allen maßgeblichen Ereignissen des aktuellen Kinogeschehens mitzuhalten (was ja der Grund für unseren Relaunch war): Da passiert etwas absolut Historisches und eine fremdsprachige Produktion gewinnt zum ersten Mal den Oscar als bester Film - und wir haben dieses Werk nicht einmal besprochen. Dabei war der Oscar für den besten Film (und die für Regie, Drehbuch und natürlich den besten internationalen Film) nur die Krönung eines Triumphzugs, der im Mai 2019 mit dem Gewinn der Goldenen Palme in Cannes begonnen hatte. Jetzt, da Bong Joon Hos Meisterwerk "Parasite" für Abonnenten von Amazon Prime Video seit dem 17. Juni kostenlos zu sehen ist, wird es darum allerallerhöchste Zeit, dass wir eine Würdigung nachholen.
Dabei gibt es auch gar nichts zu relativieren, denn "Parasite" hat jeden seiner Preise (und vielleicht noch ein paar mehr) absolut verdient, auch und vor allem den Oscar als bester Film, und dass trotz sehr starker Konkurrenz durch meisterhafte Filme wie "1917", "Once upon a time in Hollywood", "The Irishman" oder "Marriage Story". Was "Parasite" so herausragend macht, ist nicht nur seine handwerkliche Brillanz - wobei man die messerscharfe Präzision in Bong Joon Hos Regie schon kaum hoch genug loben kann. Seine Strahlkraft bezieht er vor allem aus seiner formalen Furchtlosigkeit, mit der er Genre-Grenzen pulverisiert, sein Publikum immer wieder zu überraschen weiß und mit beeindruckender Konsequenz seine Haltung durchzieht.
"Parasite" beginnt dabei als eine bissige Gesellschaftssatire mit fast schon überzeichneter Komik: Im Zentrum steht die bettelarme südkoreanische Familie Kim (Vater, Mutter, Tochter, Sohn), die in einer erbärmlichen Kellerwohnung leben und sich irgendwie durchs Leben schlagen. Das WLAN wird von den Nachbarn in den oberen Stockwerken geklaut, und wenn die Stadtreinigung vorbeifährt und in der Straße Insektengift versprüht, dann werden die Fenster aufgelassen, um die lästigen Schädlinge in den eigenen vier Wänden zu bekämpfen. Bewegung kommt in dieses triste Dasein, als Sohnemann Ki Woo durch einen Kumpel den Job als Englisch-Nachhilfelehrer für die Teenager-Tochter der wohlhabenden Familie Park vermittelt bekommt. Damit er von den Parks für voll genommen wird, bedarf es bereits einiger Tricksereien. Doch so richtig schön absurd wird es erst, als die Kims sich gemeinsam ins Zeug legen und es nach und nach schaffen, sich alle einen Job im Haushalt der Parks zu erschleichen.
Bis hierhin funktioniert "Parasite" als eine herrlich unterhaltsame schwarze Komödie mit beißendem Sozialkommentar. Denn die gewieften Manöver, mit denen die Kims sich das Vertrauen der Parks ermogeln und sich in deren Leben einzecken, sind nicht nur höchst amüsant anzusehen. Sie kehren zugleich eine ziemlich rücksichtslose Grundhaltung bei den Kims heraus, die wenig Skrupel zeigen wenn es darum geht, sich ein stabiles Einkommen zu erschummeln. Dabei sind die naiven Parks in ihrer Gutgläubigkeit auch leichte Opfer: Einerseits in der typischen Egozentrik der reichen Oberschicht völlig auf sich und die optimale Förderung ihrer Kinder fokussiert, andererseits so freundlich und höflich, dass es fast schon weh tut.
Mehr als einmal reflektieren die Kims darüber, was für nette Leute die Parks doch sind, so dass es ihnen fast leid tut, sie so auszunutzen. Aber auch nur fast. "Nett sein muss man sich leisten können", mit dieser zentralen Moral bringt "Parasite" die Gegensätzlichkeit seiner zwei Protagonisten-Familien messerscharf auf den Punkt. Die Parks und die Kims funktionieren als repräsentative Gegenpole für die gesellschaftliche Schere zwischen Arm und Reich, und die enorme Kraft dieser Metapher zeigt sich darin, dass sie zwar sehr spezifisch aus den Strukturen der südkoreanischen Gesellschaft heraus erzählt ist, aber allgemeingültig auch auf zahllose andere Länder projizierbar ist (inklusive unserem).
Und dann kommt zur Halbzeit ein zentraler Twist, und "Parasite" verwandelt sich in einen anderen Film, der mit strikten Genre-Begriffen kaum noch einzufangen ist. Irgendwo zwischen Thriller, Farce und Tragödie entspinnt sich nun ein Szenario, das die von der ersten Hälfte gesetzten Themen und Motive mit erbarmungsloser Konsequenz weiterdreht und die unterliegenden Spannungen zwischen Arm und Reich zu einem Pulverfass zusammendrückt, das nur darauf wartet, zu explodieren.
Was sich hier ereignet und wie es dazu kommt soll natürlich nicht verraten werden - die entscheidende Wendung der Handlung ist zu gut und kommt zu überraschend, um auch nur ansatzweise gespoilert zu werden. Es ist jedenfalls ein so unerwarteter Haken, den die Handlung hier schlägt, um dann ohne einen Blick zurück in eine völlig neue Tonalität loszusprinten, dass es im ersten Moment schon etwas irritierend wirkt. Die wenigen Stimmen, die man so hört, die mit "Parasite" insgesamt nicht viel anfangen konnten, reiben sich vor allem an dieser zweiten Hälfte - und zeigen damit lediglich, dass sie den Film einfach nicht verstanden haben. Denn je mehr sich "Parasite" zu seinem unvermeidlichen Showdown hin zuspitzt, desto mehr wird offensichtlich, dass die vermeintlich so leichtfüßige, absurd-komische erste Hälfte nur die Ouvertüre war, der Vorbau für all das, worum es hier eigentlich geht, und was der Film uns wirklich erzählen möchte.
Erst, wenn "Parasite" sein Ende erreicht hat, beginnt der Film sich in der anschließenden Reflexion in den Köpfen seines Publikums noch einmal neu zusammenzusetzen. Erst jetzt wird deutlich, mit welch feiner Nadel er seine Motive von Anfang an bereits in seine Handlung und Inszenierung hineingestrickt hat, und was für eine genial-subtile Gesamtkomposition er eigentlich ist.
Man könnte noch sehr viel über diesen Film schreiben und zahlreiche weitere Aspekte mit hochverdientem Lob überschütten, vom enorm effektiven Soundtrack über die grandiose Kameraarbeit, die in ihren ästhetischen Einstellungen beizeiten wie ein Bildband mit Großstadt-Fotografie wirkt, bis hin zur absolut triumphalen Ausgestaltung des Hauses der Parks, dem zentralen Handlungsort von "Parasite" und fast so etwas wie sein heimlicher Hauptdarsteller. Oder man lässt die lange Rede sein und kommt auf den kurzen Sinn: "Parasite" ist einer der besten Filme des letzten Jahrzehnts, und wer ihn noch nicht gesehen hat, sollte das wirklich spätestens jetzt nachholen.
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