
Eigentlich undenkbar, dass ein Filmproduzent heutzutage noch satte 160 Millionen Dollar in ein über dreistündiges Charakterdrama steckt. Doch dank der Oscar-Sehnsucht des Streaming-Anbieters Netflix, und deren (wirtschaftlich motivierten) Umgarnung von Hollywoods talentiertesten Regiegrößen, darf sich nun der große Martin Scorsese sein Herzensprojekt erfüllen: ein letztes großes Mafia-Epos mit einer legendären Schauspielerriege.
Es ist ein Film geworden, bei dem allein ein Blick auf die Besetzungsliste Cineasten Tränen der Nostalgie in die Augen treibt. De Niro, Pacino und Pesci in einem Scorsese-Film – ach, dass man das noch erleben darf. Und so ist "The Irishman" dann auch ein einziger großer nostalgischer Abgesang auf ein ganzes Genre und eine damit verbundene Schauspielergeneration geworden. Ein Film, der das Rad des Genres sicher nicht neu erfindet. Aber das ist auch gar nicht sein Ziel. Stattdessen bekommen wir über drei Stunden ruhiges Charakterdrama geliefert, das statt feuriger Leidenschaft eher mit einer etwas melancholischen Altersweisheit eine letzte nachdenkliche Reise in das Genre unternimmt.
Die Reise startet bezeichnenderweise dann auch in einem Altersheim. Ein kurz vor seinem Lebensende stehender Frank Sheeran (Robert de Niro) beginnt uns hier seine Geschichte zu erzählen: von seinem Aufstieg vom einfachen Lastwagenfahrer bis hin zum Auftragskiller der amerikanischen Cosa Nostra. Eine entscheidende Rolle spielt dabei vor allem das Mafia-Oberhaupt Russell Bufalino (Joe Pesci), der Franks pragmatische Art mit Problemen umzugehen früh zu schätzen lernt. Und da der gute Frank ja auch eine Familie zu ernähren hat, übernimmt dieser nur zu gerne lukrative Handlangeraufgaben für Russell. Die später dann immer blutiger werden, was in dem Milieu aber ja eher ein Plus für das Renommee bedeutet. Also empfiehlt Russell Frank als Leibwächter für den genauso berüchtigten wie korruptionsfreudigen Gewerkschaftsführer Jimmy Hoffa (Al Pacino) weiter. Die beiden Männer beginnen sich anzufreunden, doch schon bald ahnt Frank, dass dieser Job ihn in ein schwerwiegendes Dilemma stürzen könnte...
Vielleicht kann man "The Irishman" am Besten beschreiben, wenn man die dortige Rolle von Joe Pesci mit denen in Scorseses früheren Mafia-Filmen vergleicht. Ob nun in "Goodfellas" oder auch in "Casino", Pesci gab immer den unberechenbaren Vulkan, der jederzeit austicken konnte und seinen Gegenüber auch mal spontan aus einer Laune heraus ins Jenseits beförderte. Oder eben "einfach nur" windelweich prügelte. In "The Irishman" dagegen spielt Pesci Russell Bufalino schon fast als eine Art rationale und fürsorgliche Vaterfigur. Natürlich urteilt er noch immer über Leben und Tod, aber emotionale Ausbrüche liegen ihm fern. Und gegen Ende wird er dann schon fast melancholisch, als er eine sehr folgenschwere Entscheidung treffen muss.
Diese Melancholie zieht sich durch den ganzen Film. Das beginnt schon in der ersten Szene im Altersheim. Es ist bezeichnend, dass der Film Frank als Relikt aus alten Zeiten einführt, das mit protzigem Goldring in einem nach Tod duftenden Altersheim sitzt. Scorsese baut die Hauptgeschichte dabei als eine große Rückblende auf und lässt Frank nachdenklich auf sein früheres Leben zurückblicken. Und so fühlt sich alles in "The Irishman" dann auch irgendwie an. Nämlich ruhig und altersweise, viel weicher und irgendwie auch distanzierter als in Scorseses früheren Gangsterfilmen. Selbst die Gewalt ist zwar noch alltäglich, aber doch in ihrer Brutalität deutlich weniger heftig ausgeprägt.
Das soll jetzt aber nicht heißen, dass wir hier keine klassische Mafiastory serviert bekommen. Wie schon in "Goodfellas" begleiten wir auch in "The Irishman" unsere Hauptfigur bei ihrem Ein- und Aufstieg in die Mafiakreise, obgleich Frank jetzt nie wirklich Ambitionen auf einen großen Posten hat und dieser Aspekt dann auch später, zugunsten der Jimmy Hoffa-Storyline, deutlich an Gewicht verliert. Genrefreunde dürfen sich hier trotzdem an vielen nur zu vertrauten Storyelementen erfreuen. Da werden Todesurteile beim Kochen gefällt, Begriffe wie Ehre und Respekt gerne überstrapaziert und in manchen Szenen hört man mehr italienische Familiennamen fallen als auf einem Marktplatz in Rom. Und bei all dem Testosteron-Overkill ist natürlich auch kein Platz für eine starke Frauenrolle.
Nein, so richtig Neues hat "The Irishman" inhaltlich jetzt nicht zu bieten. Dass die Gewerkschaften in den USA früher viel Dreck am Stecken hatten ist hinreichend bekannt und deren unrühmliche Rolle in der Blütezeit von Las Vegas ja auch schon von Scorsese selbst in "Casino" einmal aufgegriffen worden. Der Versuch, zusätzlich eine politische Komponente ins Spiel zu bringen, indem Ereignisse wie die Kubakrise, der Mord an Kennedy oder Watergate kurz aufgegriffen werden, ist im Film leider auch nur etwas halbgar geraten.
Aber egal wie vertraut uns viele Szenen auch erscheinen mögen, langweilig wird "The Irishman" nie. Das liegt auch daran, dass den Film oft eine gewisse Leichtigkeit durchzieht. Immer wieder streut das Drehbuch kleine Prisen Ironie und Witz mit ein, die man in diese Quantität bei Scorseses Mafia-Filmen bisher nicht wirklich kannte. So wird ein brutaler Auftrag schon einmal von einer herrlich sinnlosen Diskussion über Fischgeruch begleitet oder ein Jimmy Hoffa freut sich wie ein kleines Kind, wenn er in Reimform vor versammelter Mannschaft seine Lebensweisheiten zur Selbstverteidigung präsentiert.
Es sind diese kleinen Charaktermomente, die "The Irishman" in seiner ganzen Pracht zelebriert. Die größte Leistung von Scorsese ist dann auch, wie er trotz der langen Laufzeit den Film stets im Fluss hält und mit seiner Inszenierung den Schauspielern die perfekte Spielwiese gibt, um ihre Figuren mit Leben zu füllen. Ein Meister seines Fachs eben, der dafür natürlich aber auch die richtigen Darsteller benötigt. Die überzeugen dann alle auch durch die Bank weg, auch wenn man von manchen, zum Beispiel Harvey Keitel, gerne noch etwas mehr gesehen hätte.
Am Ende ist es aber vor allem das Zusammenspiel von De Niro und Pacino, bei dem der Film seine größte emotionale Wucht entfaltet. Endlich haben diese beiden Schauspiellegenden einmal ein gemeinsames Projekt, das sie wirklich fordert (die überhypte Restaurantszene aus "Heat" und den gruseligen Streifen "Righteous Kill" ignorieren wir hier mal). Diese Chance nutzen sie eindrucksvoll. Insbesondere die gemeinsamen Abende der beiden im Hotelzimmer gehören zu den stärksten und emotionalsten Momenten des Films. Vor allem die Figur des Jimmy Hoffa tut dem Film dabei richtig gut. Hoffa bringt, durch sein Temperament und seinen unbändigen Machtdrang, richtig Leben in die Bude. Es ist aber vor allem die Tragik dieser Figur, die einem als Zuschauer so nahegeht. Hoffa ist ein klassischer Charakter aus einem Shakespeare-Stück, der im Machtwahn einfach nicht erkennen will, wann er den eigenen Zenit überschritten hat – grandios gespielt von einem der besten Schauspieler seiner Generation.
Unterstützt werden Pacino und de Niro dabei von modernster CGI-Technik, mit der unsere beiden Hauptdarsteller für Szenen aus ihrer Vergangenheit digital verjüngt wurden. Das Ergebnis ist ziemlich beeindruckend, auch wenn es ein klein wenig Zeit benötigt, bis man sich an die jüngeren Versionen der beiden gewöhnt hat. Einen kleinen Haken gibt es hier aber dennoch. Während die Gesichter erfolgreich verjüngt wurden, stecken Pacino und De Niro eben doch immer noch in den Körpern von fast 80jährigen. Das fällt dann ins Gewicht, wenn die beiden sich schneller bewegen. So ist man sich sicher, dass ein 40jähriger de Niro den Gemischtwarenhändler vom Block nebenan sicher deutlich "agiler" zusammengeschlagen hätte als sein digital verjüngtes 76jähriges Pendant. Aber irgendwie passt diese Trägheit der Figuren dann doch auch wieder ganz gut zur melancholischen Grundstimmung des Films.
Digitale Hilfestellungen hin oder her, es ist aber schon allein die reine Präsenz dieser alten Schauspielrecken, die "The Irishman" ein besonderes Flair verleiht. Man spürt einfach in jedem Bild, dass hier gefühlt eine ganze Schauspielergeneration ein letztes Mal ihr ganzes Herzblut für eine finale Best-of-Tour in die Waagschale wirft. Wie besonders gerade für diese Darsteller das Verhältnis zum Genre des Mafiafilms ist, lässt sich am Besten wieder anhand des Beispiels von Joe Pesci zeigen. Über den hat die deutsche Kameralegende Michael Ballhaus einmal eine wundervolle Anekdote erzählt. Während gemeinsamer Dreharbeiten Anfang der 80er Jahre in New Jersey hätte ein Konflikt mit der örtlichen Gewerkschaft nur dadurch gelöst werden können, dass Pesci mal eben zum Telefon griff und einen ihm bekannten Mafiaboss im Gefängnis anrief. Der wiederum schickte einen dicken Mann mit zwei Knarren ans Set, der dann dafür sorgte, dass die Gewerkschaft die Crew brav weiterdrehen ließ.
Ja, es ist schon eine ganz besondere Truppe, die sich hier verabschiedet. Auch Scorsese wuchs ja einst in Little Italy auf (in der Kindheit war Scorseses bester Freund übrigens der Sohn des dortigen Mafiabosses). Kaum jemand kennt dieses Metier so gut wie er, und so wird "The Irishman" für Scorsese auch zu einem ganz persönlichem Rückblick auf die eigene Filmkarriere. Ein würdevolles Charakterdrama, das als nachdenklicher und sanfter Abgesang auf die Welt der Mafiosi im letzten Jahrhundert dient. Gegen Ende sitzt dann auch der gealterte Frank vor der eigenen Tochter und versucht verzweifelt sein damaliges Verhalten irgendwie zu rechtfertigen und für Verständnis zu werben. Natürlich vergeblich. Es wird deutlich, dass diese alte Generation ausgedient hat und eine neue jetzt das Ruder übernimmt.
Scorsese findet noch ein weiteres wundervolles Bild, mit dem er die alte Garde in den Ruhestand verabschiedet. Es ist ein grauer und trister Moment in einem Gefängnis, der einem fast ein bisschen das Herz bricht. Ein letztes melancholisches Goodbye, das den Zuschauer mit Wehmut zurücklässt. Ja, Scorsese mag mit "The Irishman" vielleicht nicht seinen besten Film gedreht haben, aber sicher einen seiner persönlichsten. Verneigen wir uns also vor dem alten Haudegen und einer legendären Schauspielertruppe, dank der wir im Jahre 2019 in den leider viel zu seltenen Genuss von purem Charakterkino kommen. Und es bleibt zu hoffen, dass vielleicht gerade irgendwo beim Italiener ein junger Filmemacher sitzt, der eines Tages den Stab übernehmen und dem Mafiagenre mit ähnlicher Leidenschaft eine ganz neue Facette abgewinnen wird.
"The Irishman" ist auf Netflix zum Stream verfügbar und läuft noch in wenigen ausgewählten Kinos auch auf der großen Leinwand.
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