Über 130 Jahre ist es her, dass der legendäre Privatdetektiv Sherlock Holmes in Arthur Conan Doyles "Eine Studie in Scharlachrot" das erste Mal das Licht der Welt erblickte. Seit dem Tod von Doyle hat sich der brillante Ermittler zur meist verfilmten menschlichen Romanfigur der Welt gemausert durch Produktionen, in denen man sich aber auch immer wieder jede Menge kreative Freiheiten mit der literarischen Vorlage erlaubte. Man beleuchtete die Jugend von Sherlock ("Das Geheimnis des verborgenen Tempels"), schickte ihn in Rente ("Mr. Holmes"), versetzte ihn in die Neuzeit ("Sherlock"), degradierte ihn zur Witzfigur ("Genie und Schnauze") oder erfand nebenbei noch ein paar zusätzliche Verwandte ("Sherlock Holmes' cleverer Bruder").
In "Enola Holmes", der auf einer erfolgreichen Jugendbuchreihe basiert, bekommt der gute Sherlock nun also auch noch eine kleine Schwester verpasst. Und wird von dieser dann auch gleich zu einer Nebenrolle degradiert. Eigentlich eine nette Idee, um dem reichhaltigen "Sherlock Holmes"-Kanon eine weitere interessante Facette hinzuzufügen. Aber trotz einer durchaus kreativen Inszenierung ist "Enola Holmes" am Ende vor allem für Erwachsene nur ein mäßig unterhaltsames Vergnügen geworden. Denn die wenigen Stärken des Filmes werden leider durch einen durchschnittlichen Kriminalfall, eine banale Liebesgeschichte und eine nur teilweise überzeugende Hauptfigur wieder aufgehoben.
Das Herzstück der Geschichte ist die junge Enola Holmes (Millie Bobby Brown, "Stranger Things"), die in ihrem bisherigen Leben von ihrem berühmten Bruder eigentlich nicht viel mitbekommen hat. Sherlock (Henry Cavill, "Man of Steel", "Codename: U.N.C.L.E.") ist zusammen mit seinem Bruder Mycroft (Sam Claflin "Ein ganzes halbes Jahr", "Snow White & The Huntsman") nämlich schon vor Jahren ausgezogen und hat die 20 Jahre jüngere Enola zurückgelassen. Während Sherlock sich in London zum Meisterdetektiv mauserte, wurde Enola auf dem Land von ihrer Mutter (Helena Bonham Carter, "Alice im Wunderland", "The King's Speech") großgezogen. Als diese eines Tages spurlos verschwindet, kehren Sherlock und Mycroft zurück, um sich des Falls anzunehmen und nebenbei die gute Enola in ein Internat zu stecken. Die aufgeweckte junge Dame rebelliert aber und entscheidet sich zu flüchten, um auf eigene Faust auf die Suche nach der Mutter zu gehen. Mit Sherlock Holmes im Nacken darf man das durchaus als eine ordentliche Herausforderung betrachten.
Genau dieses Katz-und-Maus-Spiel zwischen Sherlock und seiner kleinen Schwester ist der mit Abstand gelungenste Teil des Films. Großen Anteil daran hat vor allem Henry Cavill, dessen erstaunlich menschlich angelegter Holmes es spürbar genießt, wenn er mal wieder von der eigenen kleinen Schwester an der Nase herumgeführt wurde. In diesen Momenten kommt "Enola Holmes" sehr leichtfüßig und verschmitzt daher und zaubert durchaus erfolgreich ein Lächeln auf die Lippen der Zuschauer. Da ist es dann auch verschmerzbar, dass dieses Duell in Sachen Intellekt nicht so clever ausfällt wie man es bei dem Namen Holmes eigentlich erwarten dürfte. Aber Charme schlägt hier Cleverness, und so reicht die gute Chemie zwischen Enola und Sherlock, um in deren gemeinsamen Passagen für eine ordentliche Unterhaltung zu sorgen.
Der Haken an der Sache: Die Rolle von Sherlock ist zeitlich eher limitiert und der größte Teil des Films dreht sich vor allem um Enolas eigene Ermittlungen, die dann im Laufe der Handlung auch noch um eine vorsichtig angedeutete Romanze ergänzt werden. Und genau hier fangen die Probleme des Films dann auch an. Es beginnt mit dem Kriminalfall, in den sich die gute Enola verstrickt. Genauer gesagt sind es sogar zwei Fälle. Beide Fälle sind leider weder sonderlich clever noch spannend geraten, und was unsere gute Enola bei ihren Ermittlungen so an Kombinationsgabe zeigt, haut einen jetzt auch nicht unbedingt vom Hocker. Das ist natürlich nicht gerade das, was man erwartet, wenn man den Namen "Holmes" auf dem Titel stehen sieht. Und ohne Sherlock fehlt diesen Passagen dann auch noch der nötige Charme, um den eher dürftigen Inhalt erfolgreich übertünchen zu können.
Womöglich um davon abzulenken hat sich Regisseur Harry Bradbeer für eine kreative Herangehensweise bei der Inszenierung entschieden. Mit liebevoll gemachten Animationen werden hier Schlussfolgerungen verdeutlicht oder Hintergrundwissen vermittelt, was einen spürbar frischen Wind in die eher überraschungsarme Handlung bringt. Dazu wendet sich Enola oft direkt an das Publikum, um das Geschehen teilweise ironisch zu kommentieren, und durchbricht damit regelmäßig die sogenannte vierte Wand (ein Stilmittel, das Bradbeer auch sehr erfolgreich in der Serie "Fleabag" praktizierte).
Hier ist das Ergebnis aber nur teilweise befriedigend. Das liegt an der Figur der Enola, die einfach einen Ticken zu selbstverliebt und besserwisserisch daherkommt. Nun könnte man meinen, dass dies ja in der Familie liegt. Aber im Gegensatz zu Sherlock hat sich Enola dieses Verhalten nicht wirklich durch Leistung verdient. Ein paar nette Kampftricks, ein paar kleinere Rätsel lösen - sie ist dann doch eigentlich nur halb so cool wie sie tut. Manch selbstbewusster Kommentar in Richtung Publikum lässt die Figur sogar hin und wieder schon fast etwas unsympathisch erscheinen.
Auch wenn sich Millie Bobby Brown leidenschaftlich in die Rolle wirft, so richtig warm wird man mit der Hauptfigur nicht. Dank des hohen Tempos, der kreativen Inszenierung und des gelegentlichen Charme-Auftritts des großen Bruders weiß "Enola Holmes" in seiner ersten Hälfte aber durchaus noch ordentlich zu unterhalten. In der zweiten Hälfte verliert der Film dann aber deutlich an Kraft. Einmal, weil die kreative Inszenierung zur Gewohnheit wird und der Fokus des Zuschauers nun stärker auf die Geschichte fällt, die sich nie wirklich aus ihrer Banalität befreien kann. Weiterhin, weil eine sich anbahnende Romanze zwischen Enola und einem komplett Charisma-befreiten Jungen so unglaublich trivial ausfällt, dass man sich an ganz schlechte Jugendromane der Kindheit erinnert fühlt.
Die Ironie an der Sache: Lange Zeit betont "Enola Holmes" nicht nur die Eigenständigkeit der Hauptfigur, die ganze Story ist auch über weite Strecken ein leidenschaftliches Plädoyer für die dringend nötige Emanzipation der Frau. All das wird aber ad absurdum geführt, wenn Enola am Ende geradezu schmachtend auf den Handkuss ihres Lovers reagiert. Als ob das selbstbewusste Mädchen in Wahrheit ja doch nur auf der Suche nach einem formidablen Mann wäre. Das passt irgendwie so gar nicht zu der Figur und der bisherigen Botschaft des Films und leider ist auch die sonst ordentlich spielende Millie Bobby Brown mit dieser Szene schauspielerisch komplett überfordert.
So ist es am Ende eigentlich nur die gut funktionierende Beziehung zwischen Enola und Sherlock, die den Film immer wieder gerade so über Wasser hält. Was interessant ist, denn eigentlich hat dieser so sensibel und fast väterlich agierende Sherlock charakterlich kaum noch Ähnlichkeiten mit der kühlen und beziehungsunfähigen Figur aus der Originalvorlage. Für "Enola Holmes" ist dies zwar ein Segen, kann die Schwächen des Films aber eben leider nur bedingt kaschieren. Ein junges Publikum, mit Sicherheit die Hauptzielgruppe des Films, mag vielleicht die triviale Romanze und die Banalität des Falles noch eher verzeihen. Aber sollte Netflix sich hier in Zukunft eine eigene kleine Franchise bauen wollen, dann muss schon deutlich mehr kommen, damit "Enola Holmes" zu einem wirklich erwähnenswerten Teil des großen "Sherlock Holmes"-Kanons avanciert.
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