"The King's Speech" sieht fantastisch aus und riecht sehr deutlich nach Oscar (die zwölf Nominierungen, die der Film eingefahren hat, wundern entsprechend wenig). Doch auch wenn er im Vergleich zu seinem Haupt-Oscarrivalen "The Social Network" ein eher traditioneller Film ist, ist dies beileibe kein altbackenes, konservatives Königshauskostümfilmchen, sondern wartet auf mit einem fantastischen Drehbuch, hervorragenden Schauspielern, moderner und ungewöhnlicher Inszenierung und ganz privaten Momentaufnahmen des britischen Königshauses á la "The Queen". Eine grandiose Mischung, dank der man "The King's Speech" wirklich jedem vom Teenie bis zur Urgroßmutter empfehlen kann. Und dabei ist die Geschichte hinter dem Film fast so schön wie die, die der Film selbst erzählt.
Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs beginnt ein kleiner englischer Bub namens David Seidler zu stottern. Sein Vorbild wird darum ein Mann, den er im Radio hört: der englische König George VI., Vater der späteren Queen Elizabeth II., auch er ein Stotterer wie David. Der kleine David wächst heran, wird Drehbuchautor und nimmt sich vor, die Geschichte dieses Königs zu erzählen, die selbst viele seiner Landsleute nicht kennen, da King Georges Vorgänger auf dem Thron als erster König in der englischen Geschichte zu Lebzeiten abdankte, um eine geschiedene amerikanische Bürgerliche zu heiraten - so etwas zieht dann doch eher die Aufmerksamkeit auf sich.
Wer schreibt angesichts solch eines Skandals schon über den vergleichsweise uninteressanten Nachfolger, dessen größtes Problem sein Sprachfehler war? David Seidler tut es, der Stotterer. Gerüstet mit viel Hintergrundmaterial aus der Familie des Sprachtherapeuten von King George VI., gibt es nur noch ein Hindernis: Er benötigt die Erlaubnis der Witwe des Königs, Queen Mum. Diese gibt ihm ihre Einwilligung jedoch nur unter der Bedingung, dass er mit der Entwicklung des Drehbuchs warten möge bis nach ihrem Tode, zu nah gehe ihr diese Geschichte.
Queen Mum wurde 101. David Seidler wartete fast 30 Jahre mit der Umsetzung seiner Idee für diesen Film. Er hat gut daran getan. "The King's Speech" erntet zwar nur ein lahmes Gähnen, wenn man jemandem die Handlung zusammenfasst, ist aber von so großem Witz, pointiert und trotz der wenig überraschenden Story durchgehend spannend, dass man Seidler für dieses bravouröse Kunststück bewundern muss.
Das Wembley Stadion im Jahre 1925. Prince Albert, der Duke of York, zweitgeborener Sohn des britischen Königs, steht vor einem Mikrofon und soll die Abschlussrede der Empire-Ausstellung halten. Per Radio wird diese live um den Globus übertragen, ein Viertel der Weltbevölkerung gehört zu diesem Zeitpunkt zum britischen Imperium. Alberts Kopf wird puterrot, die Worte bringen ihn fast zum Platzen, aber er bringt nichts heraus. Er stottert und schweigt. Jeder Redeversuch wird schlimmer. Die Peinlichkeit ist fast unerträglich.
Fortan versucht der von seiner Familie "Bertie" genannte Duke alles, um seiner Stimme Herr zu werden. Doch niemand scheint ihm helfen zu können. Da findet seine Ehefrau (Helena Bonham Carter) einen Sprachtherapeuten, der für seine untypischen modernen Methoden berühmt-berüchtigt ist: den Australier Lionel Logue (Geoffrey Rush, "Fluch der Karibik"). Logue besteht darauf, Albert nur in seiner eigenen Praxis zu empfangen und ihn als Gleichberechtigten mit "Bertie" anzusprechen. Der Duke ist "not amused". Doch um das Stottern zu überwinden, muss sich Albert mehr unterziehen als nur einem körperlichen Training. Und am Horizont lauert als sein neuester und wichtigster politischer Gegner ausgerechnet Adolf Hitler, einer der charismatischsten Redner des 20. Jahrhunderts.
Das Pech des Prince Albert war, dass er genau zu der Zeit König wurde, als es nicht mehr reichte, nur auf Fotos imposant auszusehen und dem Volk zuzuwinken. Das Radio brachte den Monarchen in jedes Haus und die Stimme des Königs sprach in Echtzeit zu seinen Untertanen, da die Technik es noch nicht erlaubte, die Reden zeitversendet und geschnitten zu senden. Kein britischer König vorher oder nachher war gezwungen, alle seine Ansprachen live übertragen zu lassen, für einen Stotterer eine so wahrlich bittere Ironie des Schicksals. Um es mit den Worten des Duke of York zu sagen: "Alles, was ein König früher machen musste, war respektabel auszusehen und nicht vom Pferd zu fallen". Nun war es an ihm, seinem Volk Kraft, Mut und Vertrauen zu geben im Duell mit einem so sprachmächtigen wie furchteinflößenden Demagogen.
Es zeigt von großem Können aller Beteiligten, dass aus diesem Stoff kein sentimentaler Kitsch entstand und dass der stotternde König nie der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Regisseur Tom Hooper ("The Damned United" und die mit dem Golden-Globe ausgezeichnete Mini-Serie "John Adams") setzt das Drehbuch wunderbar um und beweist als Halb-Engländer und Halb-Australier das richtige Fingerspitzengefühl, um sowohl die steife Förmlichkeit des Königshauses als auch die anarchische Natur des als unzivilisiert geltenden Australiers Logue filmisch umzusetzen.
Colin Firth, der schon letztes Jahr in "A Single Man" eindrucksvoll unter Beweis stellte, wozu er fähig ist, spielt hier noch nuancierter. Er "verkörpert" die Qualen des angehenden Königs mit jeder Faser seines Körpers und ohne Worte. Wie ein Verdammter vor dem Galgen steht er vor dem Mikrofon. Zwischen den Zeilen sieht man ganze Welten des Leidens und fühlt die Last, die auf diesem eher scheuen Mann liegt. Eigentlich hätte Firth schon 2010 beste Chancen auf einen Academy Award gehabt, verlor aber gegen den als Preisträger längst überfälligen Jeff Bridges. Somit ist es nur fair, wenn Firth dieses Jahr zu seinem Golden Globe für "The King's Speech" auch noch den Oscar ins Regal stellen kann.
Dabei begeistert nicht nur Firth allein, sondern auch die Chemie mit seinem Co-Star Geoffrey Rush. Ihre Dialoge erinnern an ein Tennismatch und beide scheinen sich gegenseitig zu immer besserem Spiel zu reizen. Rush spielt den Therapeuten wie einen Hofnarren, er frotzelt und veräppelt alle Autoritäten und Hierarchien und schafft es dabei, seine häufigen Oneliner immer perfekt zu timen. Wie eine umgedrehte Form von "My Fair Lady" oder "Pygmalion" muss hier der Therapeut seinen Patienten zum Fluchen bringen, um dessen innere Blockaden zu lösen und seine Stimme zu befreien.
Wenn man sich den Rest der Besetzung anschaut, so beschleicht einen schnell das Gefühl, "The King's Speech" spiele in Hogwarts. Helena Bonham Carter (Harry Potters verrückte Feindin Bellatrix Lestrange), Michael Gambon (Dumbledore) und Timothy Spall (Peter Pettigrew) sind hier wieder vereint. Gambon spielt den Vater des Duke, König George V., erwartet gut und Helena Bonham Carter ist wundervoll in der Rolle der Ehefrau. Nach vielen Rollen als durchgeknalltes Weib ist es erfrischend, sie kühl und kontrolliert zu sehen. Eine erhobene Augenbraue ist manchmal alles, was sie benötigt. Man versteht durch ihr Spiel, warum Queen Mum von ihrem Volke so geliebt wurde, und ihre Oscarnominierung ist mehr als angebracht. Timothy Spall hingegen scheint nicht Winston Churchill, sondern Alfred Hitchcock zu imitieren. Hier scheint tatsächlich etwas schiefgelaufen zu sein.
Kameramann Danny Cohens ("This is England") für ein Kostümdrama untypische Bilder erinnern beizeiten an Filme von Terry Gilliam oder Baz Luhrmann. Die Nahaufnahmen werden mit Weitwinkelobjektiv aufgenommen, was ungewöhnliche Bilder erzeugt. So betonen Aufnahmen mit der Fischaugenlinse zum Beispiel die Lächerlichkeit der kruden Behandlungsmethoden gegen das Stottern. Doch erst das Set schafft hier die perfekten Bedingungen für außergewöhnliche Bilder. Ausstatterin Eve Stewart ("Elizabeth") ist es gelungen, mit nur zwei Hauptinterieurs (Logues Praxis und den Räumen im Buckingham Palace) das Innenleben der Figuren visuell umzusetzen. Bei Logue fallen die wilden Tapetenfetzen an den Wänden auf, die seinem unhierarchischem Denken und der Beschäftigung mit der Psyche entsprechen, während die Wohnräume von Berties Familie zeigen, was für ein warmherziger Familienvater er ist.
So ist "The King's Speech" auf visueller Ebene tatsächlich ein Film aus einem Guss und wirkt jederzeit stimmig auf den Zuschauer. Der mit klassischen Kompositionen von Mozart, Beethoven und Brahms angereicherte Soundtrack von Alexandre Desplat lässt den Film dabei nie in die Kitschigkeit abdriften, hebt ihn im Gegenteil zu noch größeren Höhen empor: Die Unterlegung der wichtigsten Ansprache des Films mit dem zweiten Satz von Beethovens siebter Sinfonie erweist sich als perfekte Wahl und erzeugt eine unglaubliche Wirkung.
Lionel Logue und Bertie waren befreundet bis zu Berties Tod 1952. Auch Firth und Rush scheinen sich gefunden zu haben. Als Firth den Golden Globe überreicht bekam, dankte er seinem Freund Geoffrey Rush. Bald kann er dies wieder tun. Diesmal mit einem Oscar in der Hand.
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