MOH (85): 11. Oscars 1939 - "Alexander's Ragtime Band"
In unserer Serie "Matthias' Oscar History" (MOH) bespricht Matthias in jeder Folge jeweils einen der zwischen den Jahren 1929 und 2000 nominierten Oscar-Beiträge aus der Kategorie "Bester Film".
Die elften Academy Awards wurden am 23. Februar 1939 im Biltmore Hotel in Los Angeles vergeben. Filmreif ging es dabei auch hinter den Kulissen zu: Der lokale Radiosender sollte ursprünglich nur ein kurzes Newsreel am Ende produzieren, entschied sich jedoch kurzerhand und entgegen aller Vorschriften, live zu senden. Radiomoderator George Fisher verschanzte sich dazu in seiner Box, konnte aber nur zwölf Minuten durchhalten, bevor man ihm den Stecker zog. Auf der Bühne ging es hingegen etwas weniger dramatisch zu. Regisseur Frank Capra führte als Moderator durch das Programm und durfte sich am Ende selbst feiern – seine Liebeskomödie "Lebenskünstler" wurde als bester Film des Jahres ausgezeichnet.
Oscar-Geschichte schrieb jedoch auch ein anderer Film: "Die große Illusion", ein Werk des französischen Regisseurs Jean Renoir, war der erste nicht englischsprachige Film, der in der Hauptkategorie nominiert wurde. Ebenso bemerkenswert war die erstmalige Auszeichnung eines Films für dessen Spezialeffekte. Der Abenteuerstreifen "Piraten in Alaska" erhielt zwar für seine Effekte „nur“ einen Ehrenoscar, man hatte aber Blut geleckt. Bereits im darauffolgenden Jahr wurde die Kategorie "Beste Spezialeffekte" fest ins Programm aufgenommen. Was nicht wirklich überrascht, da die Produktionen in Hollywood technisch immer beeindruckender wurden. Bestes Beispiel dafür war das ebenfalls für den besten Film nominierte, kunterbunte Technicolor-Vergnügen "Robin Hood – König der Vagabunden" – die bis dato teuerste Produktion des Filmstudios Warner Brothers.
Bevor wir aber mit "Alexander's Ragtime Band" uns gleich den ersten "Best Picture"-Kandidaten des Jahres 1938 anschauen, blicken wir bei unserem nostalgischen Blick hinter die Kulissen heute kurz auf die Pracht vor der Leinwand. Das goldene Zeitalter Hollywoods brachte nämlich nicht nur einige filmische Meisterwerke, sondern gerade in den USA auch spektakuläre Filmpaläste hervor.
Hintergrund: Filmpaläste eines goldenen Zeitalters
Lust auf eine kleine Tour? Werfen wir doch einen Blick auf einige der bekanntesten Filmpaläste jener Zeit und deren Schicksal. Der Unternehmer und Schauspieler Sid Grauman eröffnete 1922 in Los Angeles das Grauman’s Egyptian Theatre, ein Kino mit über 1700 Sitzplätzen, das als erstes in Hollywood offiziell Filmpremieren ausrichtete. Ursprünglich war das Kino im hispanischen Stil geplant, doch man entschied sich schließlich für einen neuägyptischen Stil – inklusive riesigen Säulen, Sphinx-Skulpturen und einem großen geflügelten Skarabäus. Eine weise Entscheidung, denn kurz nach der Eröffnung löste die Entdeckung des Grabes von Tutanchamun einen weltweiten Ägypten-Hype aus. Wie viele alte Filmpaläste war auch das Egyptian Theatre in der Neuzeit vom Verfall bedroht. Doch 2020 wurde es überraschend von Netflix gekauft. Nach einer umfassenden Renovierung ist das Kino seit 2023 wieder in Betrieb und dient nun als Veranstaltungsort für zahlreiche Film- und Serienpremieren des Streaminganbieters.
Die Restaurierung des Egyptian Theater durch Netflix
Schon wenige Jahre nach dem Bau des Egyptian Theatre legte Grauman mit dem wohl berühmtesten Filmpalast der Stadt nach. Das Grauman’s Chinese Theatre wurde 1927 mit einer Kapazität von 2200 Plätzen nur wenige Straßenblöcke entfernt eröffnet. Erbaut wurde es im chinesischen Stil, mit Originalteilen aus Fernost, in Stein gehauenen Drachen und dem noch heute markanten geschwungenen Bronzedach. Die Besucher dürften sich damals vermutlich noch mehr darüber gefreut haben, dass es das erste Kino mit Klimaanlage war. Zwischen 1944 und 1946 war das Kino Gastgeber der Oscar-Verleihungen, die heute im benachbarten Dolby Theatre stattfinden. Technisch ist das Kino nach einer aufwendigen IMAX-Installation inzwischen wieder auf dem neuesten Stand und beherbergt eine der größten Leinwände der USA – wenn auch nur noch bei knapp 1000 Plätzen. Die meisten Besucher schauen heute allerdings vor allem wegen der Hand- und Schuhabdrücke berühmter Hollywoodstarts im Zementboden des Vorhofs vorbei.
Die Renovierung des Chinese Theatre durch IMAX
Eines der schönsten Beispiele für Kino-Extravaganz findet man aber fernab von Hollywood. Mit 4665 Sitzen wurde 1929 in Atlanta im Bundesstaat Georgia das Fox Theatre eröffnet. Und was für ein Filmpalast das war! Das Originaldekor mischte islamische mit ägyptischen Einflüssen, und sein riesiges Auditorium ist einer arabischen Hofanlage nachempfunden. Es gibt einen eigenen Sternenhimmel und projizierbare Wolken, die über den Nachthimmel ziehen. Und einen nach einem Tempel von Ramses dem Zweiten designten Ballsaal noch obendrauf. Man hatte sich hier aber finanziell tatsächlich ein wenig übernommen und musste schon nach wenigen Monaten Insolvenz anmelden. Das Kino blieb jedoch erhalten, der Komplex schließlich lange Jahre ebenfalls als Tanzpalast und wurde später stets durch eifrige Unterstützer vorm drohenden Abriss gerettet. Heute finden in dem noch immer spektakulären Bau vor allem Musikkonzerte und Theateraufführungen statt – unter anderem hatte Prince hier seinen letzten Live-Auftritt.
Ein Drohnenflug durch "The Fox Theatre" in Atalanta
Zugegeben, abseits der großen Städte sahen die Kinos in den USA natürlich deutlich unspektakulärer aus – oft waren sie in Lagerhallen oder alten Theatersälen untergebracht. Ein klein wenig nostalgisch wird man bei den oberen Videos aber schon. Stellen wir uns also jetzt am besten vor, wie wir in einem dieser großen Filmpaläste in einem mit Samt überzogenen Sessel sitzen und die zehn Oscar-Kandidaten des Jahres 1938 genießen dürfen: "Alexander's Ragtime Band", "Die Zitadelle", "Teufelskerle", "Vater dirigiert", "Jezebel – Die boshafte Lady", "Der Testpilot", "Robin Hood – König der Vagabunden", "Der Roman eines Blumenmädchens", "Die große Illusion" und den Gewinner "Lebenskünstler". Los geht es heute mit unserer Kritik zu "Alexander's Ragtime Band".
Alexander's Ragtime Band
Mit Biografien ist das manchmal so eine Sache. Wenn die "Vorlage" für die Hauptfigur noch am Leben und möglicherweise sogar direkt in den Film involviert ist, entsteht schon mal leicht ein zu glattgebügeltes Werk. Genau so verhält es sich mit dem Film "Alexander's Ragtime Band". Lose basierend auf dem Leben des Musikers Irving Berlin, der auch die Idee zum Drehbuch beisteuerte, begleiten wir hier einen aufstrebenden jungen Komponisten auf seinem Weg zum Ruhm. Angesichts zahlreicher schwungvoller Songs hätte das durchaus ein launiger Film werden können, doch die Handlung bleibt so flach und konfliktarm, dass "Alexander's Ragtime Band" die meiste Zeit lieblos vor sich hinplätschert.
Dabei ist unsere Hauptfigur ja eigentlich hochmotiviert. Entgegen der Wünsche seiner Eltern möchte der talentierte Geiger Roger Grant (Tyrone Power, "Chicago") nämlich Anfang des 20. Jahrhunderts keine klassische Musikerlaufbahn einschlagen, sondern viel lieber mit Freunden eine moderne Ragtime-Band gründen. Sein Ziel: möglichst bald in den angesagtesten Clubs von San Francisco aufzutreten. Der Plan hat Erfolg, allerdings nur, weil die Sängerin Stella Kirby (Alice Faye) bei einem Probeauftritt spontan die Bühne kapert und an seiner Seite mit ihrer Stimme das Publikum verzaubert. Richtig warm wird Roger, der sich von nun an Alexander nennt, mit Stella zwar nicht, doch sie ist ab nun ein fester Bestandteil von "Alexanders Ragtime Band". Sehr zur Freude von Alexanders Freund und Bandkollegen Charlie (Don Ameche), der ein Auge auf die junge Dame geworfen hat. Aber schlummern bei Alexander nicht vielleicht doch auch versteckte Gefühle für Stella?
Natürlich tun sie das – schließlich sind wir in Hollywood. Klingt aber schon ziemlich kitschig für eine Biografie, und genau da liegt ein wichtiger Punkt: Mit dem echten Lebenslauf von Irving Berlin hat der Film nicht viel zu tun. Berlin, einer der bedeutendsten und produktivsten Songwriter der US-Geschichte, schrieb Klassiker wie "White Christmas", "God Bless America" und "Cheek to Cheek". Letzteren Song hatten wir bereits in unserer Oscar-Reihe im Film "Ich tanz' mich in dein Herz hinein" gehört. Warum nicht mehr davon, dachte sich Filmproduzent Darryl F. Zanuck, Vizepräsident von 20th Century Fox. Er hatte die Idee, aus Berlins Leben einen unterhaltsamen Film zu machen. Berlin selbst war zwar interessiert, wollte aber tunlichst keine allzu persönlichen Details preisgeben – also entwickelte er seine eigene, stark verfremdete Version einer Biografie.
Nun war Irving Berlin aber nunmal Komponist und kein Drehbuchautor. Auch wenn man ihm in der Form von Kathryne Scola professionelle Unterstützung an die Seite stellte, das Ergebnis kann wirklich nicht überzeugen. Zumindest in der ersten Hälfte des Films bemüht sich das Drehbuch wenigstens noch, eine zusammenhängende Geschichte zu erzählen. Aber schon hier fällt die Handlung banal und vorhersehbar aus, ohne irgendwelche cleveren Einfälle oder emotionalen Höhepunkte. Lieblose Reißbrettarbeit trifft es wohl am besten. Dabei wirkt vor allem die Charakterentwicklung und die Motivation der Figuren platt. Einmal kurz in die Augen geschaut und schon revidiert Alexander seine Abneigung gegenüber Stella – so leicht darf man es seinen Figuren nicht machen.
Noch gravierender ist aber, wie fahrlässig hier mit Konfliktpotenzial umgegangen wird. Bestes Beispiel ist Alexanders Freund Charlie, der erst von Stella hin und weg ist, diese aber mit einem lächelnden Schulterzucken ohne Zögern für seinen Kumpel aufgibt. Ach, nimm du sie, passt schon. Diese Momente gibt es im Film immer wieder, und wenn den Figuren schon alles irgendwie egal zu sein scheint, warum sollte es dann das Publikum kümmern oder gar berühren? In der zweiten Hälfte wird die bis dato maue Handlung aber nahezu komplett eingedampft. Statt einer fortlaufenden Erzählung begleitet der Film Alexander nun einfach auf großer Welttournee – eine lose Aneinanderreihung von Musikauftritten, verbunden durch ein Minimum an wirklich interessanten Ereignissen. Vielleicht hatte man einfach auch gemerkt, dass die Story ja inzwischen sowieso keinen mehr interessieren dürfte.
Das schadet aber leider vor allem den Figuren, denn gerade Alexander wird ganz auf seine Rolle als Dirigent des Orchesters reduziert. Er steht in der zweiten Hälfte des Films gefühlt einfach die meiste Zeit im Hintergrund und schwenkt stumm den Taktstock. Und grinst hier und da mal in die Kamera. Keine Ahnung, wann ich das letzte Mal so wenig über eine Hauptfigur erfahren habe wie in diesem Film. Das Schauspielensemble kann leider auch nicht viel retten. Tyrone Power (dessen Tochter Romina in den 1970er- und 1980er-Jahren zur Pop-Ikone aufstieg) galt über Jahre als Darling Hollywoods. Wie schon in "Chicago" kann man ein gewisses Charisma bei ihm nicht leugnen, allerdings scheint dieses im Nichts zu verpuffen. Eine echte Chemie mit den Schauspielkollegen kommt nicht wirklich zustande. Dabei hatte man eigentlich gerade erst genug Zeit gehabt, diese einzuüben. Mit Alice Faye und Don Ameche stand Power nämlich in "Chicago" gerade noch gemeinsam vor der Kamera. Auch hier fällt das Ergebnis ähnlich blass aus, wobei gerade Power mit seinen komplett belanglosen Dialogen natürlich auch ziemlich gestraft ist.
Womit uns am Ende eigentlich nur die Musik, ein paar nette Setdesigns und eine ordentliche Inszenierung bleiben. Die Auftritte der Band sind nämlich wirklich schwungvoll und nett anzuhören, durch ständig wechselnde Locations und schöne Sets bekommt immerhin das Auge etwas Futter, und hier und da lässt sich auch Regisseur Henry King ("Jahrmarktsrummel") was Kreatives einfallen – wenn die Kamera zum Beispiel aufzieht und erst nachträglich offenbart, dass man sich inmitten einer Live-Performance in einem großen Musiksaal befindet. Wir haben es hier aber leider immer noch mit einem Spielfilm und keinem Konzertfilm zu tun. Und so ist das einfach zu wenig, um einen auch nur halbwegs an den Bildschirm zu fesseln, und "Alexander's Ragtime Band" damit ein enttäuschender Start in das neue Oscar-Jahr.
"Alexander's Ragtime Band" ist aktuell als DVD auf Amazon in Deutschland verfügbar.
Trailer zu "Alexander's Ragtime Band"
Ausblick
In unserer nächsten Folge begrüßen wir gleich zwei Hollywoodlegenden bei deren erstem Auftritt in unserer kleinen Oscar-Reihe.
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