MOH (94): 11. Oscars 1939 -"Lebenskünstler"
In unserer Serie "Matthias' Oscar History" (MOH) bespricht Matthias in jeder Folge jeweils einen der zwischen den Jahren 1929 und 2000 nominierten Oscar-Beiträge aus der Kategorie "Bester Film".
In unserer letzten Folge hatte ein Priester die Unterstützung der Armen und Schwachen zu seiner Lebensaufgabe auserkoren. Nun zieht Frank Capra (wer auch sonst) in Punkto Idealismus nach und plädiert mit dem Oscar-Gewinner "Lebenskünstler" dafür, dass angesichts von Freundschaft, Liebe und Lebensfreude finanzielle Motive doch bitten stets hinten anstehen sollten.
Lebenskünstler

Eine idealistische Botschaft, etwas exzentrische Nebenfiguren und das konstante Gefühl jemand legt einem eine warme Decke an einem kalten Winterabend über die Schultern – Frank Capra ist wieder da. Auch "Lebenskünstler" enthält wieder alle typischen Trademarks des Regisseurs ("Es geschah in einer Nacht", "Lady für einen Tag") und mit James Stewart auch noch den Auftritt eines aufstrebenden neuen Stars, der wenige Jahre später mit Capra einen der ganz großen Filmklassiker ("Ist das Leben nicht schön") produzieren sollte. Auch "Lebenskünstler" kommt mit jeder Menge Charme und wundervollen kleinen Momenten daher, doch angesichts einer etwas zu ausufernden Geschichte und der teils sehr plakativen Botschaft ist der Gewinn des Oscars in dem Jahr sicher auch mit dem damaligen Zeitgeist zu erklären.
Im Einklang mit dem Zeitgeist befindet sich Familienpatriarch Martin Vanderhof (Lionel Barrymore, "Menschen im Hotel", "Manuel") in "Lebenskünstler" eher weniger. Er hat seine Familie und eine bunte Schar von Freunden unter seinem Dach versammelt, um ein Leben nach eigenen Regeln zu führen – mit möglichst viel Spaß, ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Konventionen und frei von kapitalistischen Zwängen. Doch das ist leichter gesagt als getan. Denn ausgerechnet Vanderhofs Haus ist das letzte in einer Straße, das der New Yorker Banker Anthony P. Kirby (Edward Arnold) für ein wichtiges Projekt noch nicht in seinen Besitz bringen konnte. Verkompliziert wird der Konflikt der zwei auch noch dadurch, dass sich ausgerechnet Kirbys Sohn Tony (James Stewart) in Vanderhofs Enkelin Alice (Jean Arthur, "Mr. Deeds geht in die Stadt") verliebt hat. So prallen zwei völlig gegensätzliche Welten aufeinander, was schon bald eine sehr grundsätzliche Frage aufwirft: Was ist denn nun eigentlich wirklich wichtig im Leben?

Ganz schön was los hier. Dass Capra ein Faible für etwas exzentrische Nebenfiguren hat, ist uns aus seinen bisherigen Filmen ja bereits bekannt – aber selten war sein Figuren-Universum so überfüllt wie hier. Im Haus der Vanderhofs ist immer etwas los: Während im Keller mit Feuerwerkskörpern experimentiert wird, tanzt man im Wohnzimmer Ballett, präsentiert neueste Erfindungen, verfasst Manuskripte oder philosophiert einfach über das Leben. Da Capra, wie immer in seinen Filmen, seine Figuren mit viel Wärme und Humor ausstattet, aber nie herablassend behandelt, sorgt das für einen ganzen Haufen wundervoller Momente. Allen voran, wenn "normaler" Besuch bei Vanderhof vorbeikommt und zum Beispiel ein nüchterner Staatsdiener verzweifelt unserem Familienoberhaupt erklären will, warum dieser denn Steuern zu zahlen hat – während im Hintergrund das komplette Chaos regiert.
All der Trubel ist aber hier und da auch ein klein wenig zu viel des Guten. So richtig konzentrieren kann sich nämlich nicht nur besagter Staatsdiener, sondern auch das Publikum manchmal nicht, was doch ein wenig zu Lasten einer stringenten Handlung geht. "Lebenskünstler" verheddert sich immer wieder in kleinen Nebenschauplätzen, was natürlich irgendwie auch zur Botschaft des Films passt, die weniger Regeln und mehr Spaß propagiert. Aber der stetig wechselnde Fokus und das konstante Rumgewusel auf dem Bildschirm verhindern auch eine engere Beziehung zu manchen Figuren und nötige Tiefe. Vermutlich das prominenteste Opfer dieser Schwäche ist die Liebesgeschichte zwischen Tony und Alice.

Mit Stewart hat Capra dabei nicht nur den perfekten Tony, sondern auch den perfekten Darsteller für seine Art von Filmen gefunden. Mit unglaublichem Charisma verbindet Stewart hier Intelligenz mit idealistischer Naivität, sorgt mit seiner entspannten Jedermann-Aura direkt für hohes Identifikationspotenzial und hat spürbare Freude, mit einem kräftigen Schuss Ironie durch seine Dialogzeilen zu pflügen. Das ist immer charmant und manchmal sogar schon fast magisch, wie in einer wundervollen abendlichen Liebesszene auf einer Parkbank. Hier geht einem das Herz auf, wenn man dabei ist, wie James Stewart und Jean Arthur mit einem Haufen Leinwandchemie und sympathischem Augenzwinkern durch eine sehr einfallsreich geschriebene Liebesszene navigieren. Davon hätte man gerne noch so viel mehr gesehen, doch dieser Liebesstrang gerät immer wieder aus dem Fokus des Films, da dieser gefühlt noch 20 weiteren Figuren Leinwandzeit ermöglichen möchte.
Dass Stewarts Tony hier gar nicht so sehr im Zentrum der Geschichte steht, mag aus heutiger Sicht irritieren, doch die spätere Filmlegende schaffte erst mit "Lebenskünstler" ihren Durchbruch. Deutlich stärker im Mittelpunkt steht dagegen Martin Vanderhof, der als moralischer Kompass der Geschichte dient. So ganz ideal ist das Casting von Lionel Barrymore dabei aber nicht ausgefallen. Der spielt zwar generell gut, in manchen Momenten strahlt er aber auch einen kleinen Hauch dubioser Verschlagenheit aus, der nicht so richtig zur Figur passen will und dessen moralische Argumentationen manchmal etwas abschwächt. Die simple, aber natürlich schöne Botschaft des Films wird hier und da dann auch etwas zu offensichtlich ausgesprochen, da hätte ein wenig mehr Subtilität gutgetan.

Ein wenig fokussierter, straffer und mindestens eine Viertelstunde kürzer hätte "Lebenskünstler" also ausfallen können. Aber all diese Schwächen sind dann wieder schnell vergessen, wenn Capra Capra-Dinge tut. Und zum Beispiel bei einem Richter komplett auf die Neutralität pfeift, die Herzlichkeit in uns allen betont und mit so viel kindlicher Naivität nicht nur durchkommt, sondern uns auch noch zum Strahlen bringt. So fängt sich der Film immer wieder, gibt uns am Ende ein wohliges Gefühl und zumindest für zwei Stunden den Glauben an die Menschheit zurück. Was vermutlich auch der Grund gewesen sein dürfte, warum der Film bei den 11. Academy Awards sogar die Trophäe für den besten Film gewinnen konnte.
Aus heutiger Sicht mag "Lebenskünstler" nämlich einfach nur sehr nett gemachte Unterhaltung sein, angesichts einer gerade erst überstandenen Wirtschaftskrise und eines drohenden Weltkriegs am Horizont dürfte dessen Botschaft bei den Menschen im Jahr 1939 vermutlich auf eine deutlich stärkere Sehnsucht nach einer besseren Welt getroffen sein. Jeder Oscar-Sieger ist ja auch ein Spiegelbild seiner Zeit, und im Fall von "Lebenskünstler" haben wir es mit einem Film zu tun, dessen Naivität noch mit Hoffnung und nicht mit Verzweiflung verknüpft war. All das sollte sich wenige Monate später mit dem deutschen Einmarsch in Polen ändern und Hollywood die nächsten Jahre in eine ganz andere Richtung schicken. Aber dazu dann mehr in den nächsten Folgen.
"Lebenskünstler" ist aktuell als DVD und digital auf Amazon Prime (nur deutscher Ton) in Deutschland verfügbar.
Ausschnitt: Chaos im Wohnzimmer
Ausschnitt: Vanderhof legt sich mit dem Staat an - und am Ende bricht Chaos aus.
Überblick 11. Academy Awards
Alle nominierten Filme der Kategorie “Outstanding Picture“ der 11. Academy Awards 1939 nochmal auf einen Blick:
- "Lebenskünstler" (8/10)
- "Teufelskerle" (6/10)
- "Die Zitadelle" (8/10)
- "Die große Illusion" (10/10)
- "Der Roman eines Blumenmädchens" (8/10)
- "Der Testpilot" (7/10)
- "Vater dirigiert" (6/10)
- "Robin Hood – König der Vagabunden" (9/10)
- "Jezebel – Die boshafte Lady" (6/10)
- "Alexander's Ragtime Band" (5/10)
In unserer nächsten Folge starten wir mit einem knapp 60-Jahre umspannenden Charakterporträt in die 12. Academy Awards des Jahres 1940.
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